# taz.de -- Debatte russische Justiz: Druck der Öffentlichkeit
       
       > In Russland gibt sich die Staatsanwaltschaft wie zu Sowjetzeiten, als sei
       > sie die Richterin. Dass sie im Fall Politkowskaja unterlag, ist nur dem
       > Mut der Geschworenen zu verdanken.
       
 (IMG) Bild: Während des Prozesses saßen die Angeklagten hinter Gittern.
       
       Der Prozess sollte der Welt zeigen, dass der Mord an der Journalistin und
       Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja zu den Akten gelegt werden kann. Doch
       das Verfahren ist der Generalstaatsanwaltschaft aus den Händen geglitten:
       Man hatte nicht mit Geschworenen gerechnet, die ihrem Gewissen folgen
       würden. Zugleich zeigte der Prozess, wie unprofessionell die
       Ermittlungsbehörden vorgegangen waren.
       
       Bevor ich zur Nowaja Gaseta ging, sammelte ich als Ermittler bei der
       sowjetischen Kriminalmiliz Erfahrungen bei der Aufklärung von Morden und
       anderen Kapitalverbrechen. Vor diesem Hintergrund machte mir der Gang des
       Politkowskaja-Verfahrens sehr früh deutlich, dass die ermittelnden Beamten
       es mit einem vielfach überlegenen Gegner zu tun hatten. Dieses Monster hält
       heute alle Macht in Russland in seinen Händen, ist Herr über Öl, Gas und
       die Geschicke der Menschen. In seiner Vergangenheit hatte es viele Namen,
       hieß zunächst Tscheka, dann NKWD, später KGB und nennt sich heute FSB.
       
       Diese Geheimpolizei brauchte vor allem eins: das Schweigen von Anna
       Politkowskaja, der einzigen Journalistin, die nicht müde wurde, der Welt
       über die grausamen Säuberungsaktionen, die Verschleppungen und das
       unerklärliche Verschwinden von Haushaltsgeldern zu berichten. In einem
       einfachen Gerichtsverfahren hätte sich die Staatsanwaltschaft
       möglicherweise durchgesetzt. Entscheidend für deren Niederlage waren jedoch
       die Geschworenen, die Rückgrat gezeigt hatten.
       
       Mit Anna Politkowskaja verbindet mich nicht nur unsere gemeinsame Arbeit
       für die Nowaja Gaseta. Auch auf mich wurde ein Mordanschlag verübt, den ich
       nur um ein Haar überlebt habe. Der gedungene Killer, der meinem Leben im
       Frühjahr 2002 ein Ende setzen wollte, hatte offenbar das gleiche Drehbuch,
       nach dem jüngst auch der Mörder des Anwalts Stanislaw Markelow und der
       Nowaja-Gaseta-Journalistin Anastasija Baburowa handelte. Mein Killer hieß
       Minasjan und kam aus Abchasien. Er sollte mich an der Treppe abpassen, von
       hinten auf mich zugehen und mich aus nächster Nähe in den Kopf treffen.
       Meine Frau erkannte die Gefahr und stieß mich geistesgegenwärtig zur Seite.
       Zusätzlich schien den Täter meine sofort gezückte Gaspistole verwirrt zu
       haben; er verlor die Nerven, sein Schuss streifte mich nur an der Kleidung.
       Er floh und konnte wenig später dingfest gemacht werden.
       
       Auf der Anklagebank aber saß er allein. Warum? Es war niemand mehr da, der
       das hätte fragen können, denn kurz nach dem Anschlag hatte ich mich zur
       Flucht nach Deutschland entschlossen, wo mir die Hamburger Stiftung für
       politisch Verfolgte Zuflucht gewährt hatte. Und weil niemand nach dem Warum
       fragte, äußerte auch niemand Zweifel an den oberflächlichen Ermittlungen,
       die man als Ergebnis professioneller Arbeit präsentierte. Auch bei späteren
       Überfällen auf Mitarbeiter der Nowaja Gaseta sprachen Miliz und
       Staatsanwaltschaft schnell von der "professionellen Arbeit der
       Ermittlungsbehörden". Im Fall meiner geschätzten Kollegin Anna
       Politkowskaja wäre es wahrscheinlich ähnlich gelaufen. Bei einem Prozess
       hinter verschlossenen Türen, wie er von der Staatsanwaltschaft geplant war,
       hätte man aller Wahrscheinlichkeit nach am Ende einen Schuldigen
       präsentiert und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Dieser
       Schuldige wäre im besten Fall ein kleines Rädchen im Mordgetriebe gewesen,
       doch der Fall hätte mit seiner angeblichen "Aufklärung" abgeschlossen
       werden können.
       
       Der Prozess um den Mord von Anna Politkowskaja zeigt, wie sinnvoll die
       Mitwirkung von Geschworenen in der russischen Rechtsprechung ist. Grund zur
       Euphorie ist sie jedoch nicht. Im vorrevolutionären Russland war die
       Geschworenentätigkeit mit Prestige verbunden, oft meldeten sich sehr
       honorige Persönlichkeiten für dieses Amt. Heute meiden es gerade die
       aktivsten Bürger unseres Landes und die Intellektuellen wie der Teufel das
       Weihwasser. Die Tätigkeit ist sehr zeitaufwendig: Wer Monate in Gerichten
       zubringt, hat wenig Zeit für den eigenen Broterwerb. Zahlreiche Geschworene
       wurden entlassen, Selbstständige sahen sich durch die Anforderungen in
       ihrer Existenz gefährdet. Damit nicht genug, im Russland von heute kann
       eine solche Tätigkeit die eigene Gesundheit gefährden: Man muss mit
       Anschlägen auf das eigene Leben rechnen, denn um den Schutz von Zeugen,
       Geschworenen und anderen wichtigen Prozessbeteiligten ist es in meiner
       Heimat nicht gerade bestens bestellt.
       
       Heute sind die Geschworenen deshalb vor allem Seniorinnen, Militärs im
       Ruhestand oder zornige Arbeitslose. Aus Angst um ihr eigenes Leben sprechen
       sie selbst dann Angeklagte frei, wenn deren Schuld augenscheinlich ist.
       Zugleich ist die Macht der Staatsanwaltschaft übergroß. Wie in den Zeiten
       der Sowjetunion gibt sie sich, als sei sie selbst Richterin. Insbesondere
       in der Provinz findet sich kaum ein Richter, der den Schlussfolgerungen der
       Staatsanwaltschaft widersprechen würde. Die Verteidiger dagegen sind in der
       Regel auf sich selbst gestellt oder versuchen ihr Glück mit Bestechung der
       Richter. Anwälte, die als glänzende Redner versuchen, die Richter emotional
       zu bewegen, trifft man nur noch selten an.
       
       Warum kam im Politkowskaja-Prozess so vieles dann doch anders, als es
       manche Beobachter erwartet hatten? Von entscheidender Bedeutung ist, dass
       die Öffentlichkeit ein so großes Interesse an diesem Prozess hatte, der
       mitten in Moskau und nicht in irgendeinem Provinzörtchen stattfand. Das
       Interesse steigerte sich noch, nachdem die Geschworenen den Plan eines
       Prozesses hinter verschlossenen Türen vereitelt hatten; so konnten Presse
       und Öffentlichkeit dem Verfahren direkt beiwohnen. Dieses öffentliche
       Interesse musste jeden Versuch des Geheimdienstes, die
       Ermittlungsergebnisse zu manipulieren, zum Scheitern verurteilen. Am Ende
       war die Anklage so löchrig, dass sich auch mit der häufig üblichen
       "Kosmetik" nichts mehr retuschieren ließ: Echte Beweise fehlten, die
       Drahtzieher standen nicht vor Gericht, der eigentliche Schütze ist weiter
       auf freiem Fuß, unklar bleiben auch die Motive des Mordes. Wer sich von
       seinem gesunden Menschenverstand leiten ließ, konnte dieser Anklage nicht
       mehr zustimmen. Die Geschworenen folgten ihrem Gewissen und plädierten auf
       "unschuldig", wohl wissend, dass es sich bei den Angeklagten nicht um Engel
       handelte. Doch auch für mutmaßliche Mörder gilt, dass sie so lange als
       unschuldig gelten, solange sie nicht eines Mordes überführt wurden.
       
       Mit ihrem Urteil traten die Geschworenen im russischen Internet eine neue
       Welle von Diskussionen über Anna Politkowskaja los. Leider solidarisierten
       sich auch viele Blogger mit den Mördern und verwünschten die Journalistin,
       die sich so dafür eingesetzt hat, dass es in Russland ein wenig heller,
       sicherer und freier werde. Und dafür, dass es in Russland mehr Geschworene
       mit Rückgrat gibt.
       
       Aus dem Russischen von Bernhard Clasen
       
       23 Feb 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sergej Solowkin
       
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