# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Den Welthandel gestalten
       
       > Die Ideologen der Globalisierung sind ratlos. Eine globalisierte Krise
       > war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Protektionismus scheint jetzt ein
       > Mittel der Wahl. Ein Plädoyer.
       
 (IMG) Bild: Protektionismus soll verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach unten zieht
       
       Ausmaß und Tiefe der Wirtschaftskrise haben die Debatte über den
       Protektionismus neu entfacht. Wie brisant das Thema ist, lässt sich an den
       aufgeregten Reaktionen der Protektionismusgegner ablesen, für die der
       Freihandel zum Fetisch geworden ist. Da werden Fakten in einer Weise
       vorgetragen, die die Wahrheit aus Unwissenheit oder mit voller Absicht
       verdreht. Kurzum: Protektionismus ist tabu.
       
       Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise eine Finanzkrise zu sein,
       die verschiedenen Faktoren zugeschrieben wird: der Unvorsichtigkeit der
       Banken und Banker, der Gier verantwortungsloser Spekulanten oder - und die
       ist der intelligenteste Begründung - dem Fehlen von
       Regulierungsmechanismen. Tatsächlich ist folgender Zusammenhang
       entscheidend: Die Verschuldung und die Insolvenzen privater Haushalte sind
       massiv gestiegen, und zwar infolge der Lohndeflation, also des sinkenden
       Anteils der Löhne und Gehälter an dem verteilten Vermögen. Dieser Rückgang
       wiederum resultiert aus dem Druck, den der Freihandel ausübt, sei es durch
       den massenhaften Import von billigen Waren, sei es durch die Androhung von
       Standortverlagerungen.
       
       Der Freihandel begünstigt einen Abschwung in zweifacher Weise: direkt durch
       den Druck auf die Gehälter, indirekt dadurch, dass er den Wettbewerb um
       niedrige Steuern fördert. In Ländern, in denen die Unternehmen in
       unmittelbarer Konkurrenz zu den Importen aus Billiglohnländern stehen,
       versuchen die Regierungen, die Gewinne der inländischen Unternehmen auf
       gleichbleibendem Niveau zu sichern, um Standortverlagerungen zu verhindern
       und damit Arbeitsplätze zu erhalten. Sie tun dies, indem sie die
       Sozialabgaben der Unternehmen auf die Beschäftigten abwälzen.
       
       Zum Druck auf die Gehälter kommen noch eine zunehmend ungerechte
       Besteuerung und Einschnitte bei den Sozialleistungen. Beides wirkt sich auf
       die Einkommen der Haushalte aus, die ihr Konsumniveau nur durch
       Verschuldung halten können, und das gerade zu einem Zeitpunkt, da ihre
       Einkommensquellen unsicherer werden.
       
       Die eigentliche Verantwortung für die Krise liegt also nicht beim
       Bankensektor, dessen tiefgehende Krise nur ein Symptom ist, sondern beim
       Prinzip des Freihandels in Kombination mit der entsprechenden
       Liberalisierung der Finanzmärkte.
       
       In den USA ist die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am nationalen
       Einkommen, auf den tiefsten Punkt seit 1929 gesunken: auf 51,6 Prozent im
       Jahr 2006 gegenüber noch 54,9 Prozent im Jahr 2000.(1) Im Zeitraum 2000 bis
       2007 betrug das durchschnittliche Wachstum des medianen Reallohns nur 0,1
       Prozent, während das mediane Haushaltseinkommen jährlich real um 0,3
       Prozent sank.(2) Der Rückgang war in den ärmsten Haushalten am stärksten.
       Im selben Zeitraum musste jeder Fünfte einen Rückgang seines Einkommens um
       0,7 Prozent im Jahr hinnehmen.(3) Seit dem Jahr 2000 steigen die
       Stundenlöhne nicht mehr im selben Maße wie die Produktivitätsgewinne.
       
       Der Freihandel bewirkt auch, dass die Regierungen die Finanzierung der
       Sozialleistungen von den Unternehmen auf die Beschäftigten verlagern. Von
       2000 bis 2007 stiegen die Prämien der Krankenversicherungen in den USA um
       68 Prozent, die der Bildungsaufwendungen um 46 Prozent.(4) Gleichzeitig
       stieg der Anteil der Bevölkerung ohne Kranken- und
       Sozialversicherungsschutz von 13,9 auf 15,6 Prozent.(5) Selbst der
       Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der lange Zeit behauptet hatte,
       "die Globalisierung ist nicht schuld", musste einräumen, dass die durch den
       Freihandel importierte Lohndeflation in diesem Prozess eine entscheidende
       Rolle spielte.(6) Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die
       private Verschuldung der US-Haushalte explodiert ist: 1998 entsprach sie 63
       Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der USA, im Jahr 2007 dagegen 100
       Prozent.
       
       Die private Verschuldung nimmt auch in Europa zu. In der Eurozone hängt
       dies mit der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen, die die
       importierte Depression weiter verstärkt. Einige Länder folgen dem
       amerikanischen Modell, so etwa Spanien, Irland und Großbritannien, mit der
       Folge einer relativen und teilweise auch absoluten Verarmung der
       Bevölkerung.(7) Die importierte Lohndeflation ließ auch die private
       Verschuldung rapide ansteigen. Sie kletterte 2007 - wie in den USA - auf
       jeweils über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
       
       Selbst in den Ländern, die sich relativ stark vom amerikanischen Modell
       abheben, ist eine Lohndeflation eingetreten. So fand bei deutschen
       Unternehmen eine massenhafte Produktionsverlagerung hin zu ausländischen
       Vertragsfirmen statt. Seit der Osterweiterung der EU gilt häufig nicht mehr
       Made in Germany, sondern allenfalls Made by Germany. Gleichzeitig wurde
       über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Teil der Lasten von den
       Unternehmen auf die Haushalte abgewälzt. Dadurch kam es zu einem starken
       deutschen Handelsüberschuss zulasten der Partner in der Eurozone. Aber auch
       um den Preis eines schwächeren eigenen Wachstums als Folge der rückläufigen
       Binnennachfrage - obwohl auch in Deutschland die private Verschuldung auf
       68 Prozent des BIP angestiegen ist.
       
       In Frankreich lautete die Antwort auf die Globalisierung in den letzten
       Jahren: "Strukturreform". Die Verlängerung der Wochenarbeitszeit und die
       Einschnitte bei den Sozialleistungen haben jedoch die Auswirkungen der
       importierten Lohndeflation noch verstärkt. Die spektakulärste Form dieser
       Politik ist die Produktionsverlagerung in Länder mit niedrigeren sozialen
       und ökologischen Standards und Lohnkosten. Beschäftigte und Gewerkschaften
       sind damit erpressbar, sie verzichten auf Lohnsteigerungen und soziale
       Errungenschaften.
       
       Die Unternehmensführungen benutzen die Androhung von Standortverlagerungen,
       um bestehende Tarifverträge und soziale Absicherungen aufzuweichen. Das
       drückt deutlich auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, wie der Anstieg der
       durch Arbeitsdruck und Arbeitsstress bedingten Erkrankungen zeigt.(8) Die
       Verbindung zwischen der Lohndeflation und dem Loch in den Sozialkassen der
       wichtigsten europäischen Länder ist also nicht zu übersehen. Die
       Regierungen regierten jedoch genau umgekehrt und nahmen die Finanzlöcher in
       den sozialen Sicherungssystemen zum Vorwand, um die Rechte weiter
       einzuschränken und die Kosten auf die Beschäftigten abzuwälzen.
       
       Die sogenannten Strukturreformen tragen also direkt oder indirekt zu
       Rahmenbedingungen bei, unter denen einer Mehrheit der Haushalte die
       Zahlungsunfähigkeit droht. Die aber ist von zentraler Bedeutung für die
       Verschuldungskrise in den USA, Großbritannien und Spanien. In anderen
       Ländern zeigt sich die Krise eher in der wirtschaftlichen Fragilität von
       Familien und dem empfindlichen Kaufkraftverlust.
       
       Selbst in Frankreich, wo die Banken sehr viel vorsichtiger waren, schnellte
       die Privatverschuldung, die bis zum Jahr 2000 stabil war, von 34 auf 47,6
       Prozent des BIP im Jahr 2007 hoch. Seit rund zehn Jahren kann man in
       Frankreich und Deutschland das Phänomen der "armen Arbeitnehmer"
       beobachten. Auch dies ist eine unmittelbare Folge dieser Politik.
       
       ## Konkurrenz um billige Standorte
       
       Die Lohndeflation resultiert also aus der Maßlosigkeit einer
       Welthandelsstrategie, wie sie die Länder Ostasiens seit 1998 bis 2000 über
       den von der Welthandelsorganisation (WTO) geförderten Freihandel betrieben.
       Diese Strategie war in erster Linie eine Reaktion auf die Finanzkrise von
       1997 bis 1999. Damals hatte vor allem China die Sorglosigkeit und
       Unfähigkeit des IWF auszubaden: Es musste die schockartigen Auswirkungen
       der Asienkrise absorbieren und zulassen, dass seine Nachbarn Handels- und
       Finanzüberschüsse zu seinen Lasten erwirtschafteten.
       
       China und seine Nachbarländer kamen zu dem Schluss, dass sie für den Fall
       einer neuerlichen Krise dieses Ausmaßes große Währungsreserven
       beiseitelegen müssten. Deshalb entwickelten sie eine aggressive
       Außenhandelspolitik, indem sie ihre Währung stark abwerteten, eine ihre
       Konkurrenzfähigkeit sichernde Deflationspolitik betrieben und den
       Binnenkonsum beschränkten. Diese Politik hat die Löhne in den entwickelten
       Ländern weiter nach unten gedrückt. Und sie zeigte noch eine andere,
       geradezu furchterregende Wirksamkeit: Sie half die immensen
       Währungsreserven anzuhäufen, auf denen die Schwellenländer des Fernen Osten
       inzwischen sitzen. Das sind allein im Fall von China 1 884 Milliarden
       Dollar.(9)
       
       In den letzten dreißig Jahren hat die chinesische Wirtschaft technisch
       enorm aufgeholt. Gleichzeitig sind die direkten und indirekten Lohnkosten
       konstant geblieben. Der Qualitätszuwachs bei den Exportgütern bedroht
       langfristig sämtliche industriellen Arbeitsplätze der Welt. Der Export
       Similarity Index, der die Exportstrukturen eines Drittlandes mit denen der
       OECD-Mitgliedstaaten vergleicht, zeigt ständig steigende Werte für China,
       aber auch für andere Schwellenländer.(10) Der Mythos von der
       internationalen Spezialisierung, wonach sich diese Länder auf einfache
       Produkte konzentriert und den entwickelten Ländern die Herstellung
       komplexer Produkte überlassen haben, entspricht nicht der Realität.
       
       Die importierte Lohndeflation ist mit der Osterweiterung und den Strategien
       der Beitrittsländer in der Europäischen Union angekommen. Länder wie die
       Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und in geringerem Maße auch
       Ungarn und Polen haben bewusst auf Steuerdumping, günstige Wechselkurse,
       niedrige Sozialabgaben gesetzt und reduzierte ökologische Standards
       zugelassen, um Investoren für Standortverlagerungen anzulocken. Da es sich
       - bis auf Polen - um kleinere Länder handelt, ist klar, dass die Investoren
       sich nicht vorwiegend für die Binnenmärkte der Beitrittsländer
       interessieren. Vielmehr sehen sie diese Länder vor allem als Plattform für
       den Reexport in die alten EU-Mitgliedstaaten.( )Dagegen haben die
       Investitionen in Russland vor allem den Binnenmarkt im Auge, zumal dieser
       Markt durch stattliche Zollmauern geschützt ist.
       
       Die Vorstellung, dass die Lohndeflation nun einmal der Preis sei, der für
       die Entwicklung der ärmeren Länder anfalle, ist schlichtweg falsch. Die
       Auswirkungen des durch die WTO vorangetriebenen Freihandels auf die ärmsten
       Länder waren deutlich negativ. 2003 wurden für diese Länder noch Gewinne in
       der Größenordnung von 800 Milliarden Dollar prophezeit. Seither wird die
       Zahl in jedem neuen Bericht kleiner.(11) Die Rechenmodelle der WTO sind,
       absichtlich oder nicht, so konzipiert, dass die positiven Effekte der
       Handelsliberalisierung möglichst groß herauskommen. Einkommensverluste
       durch den Abbau der Handelsbeschränkungen sind darin nicht erfasst. Diese
       Einbußen sind aber beträchtlich. Hinzu kommt, dass China von Weltbank und
       WTO als "armes" Land eingestuft wird - eine durchaus fragwürdige
       Einschätzung. Würde man China aus dieser Rechnung herausnehmen, wäre das
       Ergebnis, unabhängig von der Methode, negativ.(12 )
       
       Die Einkommensverluste der Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern kommen
       nicht den Arbeitnehmern in den Schwellenländern zugute, sondern nur einer
       winzigen Elite im eigenen Land, deren Vermögen in den letzten zehn Jahren
       explosionsartig angewachsen ist. Im Jahr 2005 hat das reichste Tausendstel
       der US-Amerikaner 7,5 Prozent des nationalen Einkommens an sich gebracht.
       So hoch war dieser Anteil zuletzt 1929 (7,6 Prozent). Dagegen lag er 1995
       noch bei 5 und 1985 sogar nur bei 2,9 Prozent.
       
       Die Länder, die von Standortverlagerungen profitieren, erleben zunächst ein
       beschleunigtes Wachstum; langfristig jedoch sägen sie sich selbst den Ast
       ab, den sie dank der europäischen und US-amerikanischen Konzerne erklommen
       haben: Die relative, teilweise sogar absolute Verarmung der Beschäftigten
       in den entwickelten Ländern drückt auf deren Konsumneigung, was wiederum
       auch die Exportländer trifft. Im Wirkungszusammenhang von Freihandel,
       Standortverlagerung und Lohndeflation gibt es keine Gewinner - abgesehen
       von denen, die sich die Taschen vollgestopft und ihre Schäfchen in
       Steuerparadiesen ins Trockene gebracht haben.
       
       Es gibt noch einen weiteren Mythos, der gern bemüht wird, um den
       Protektionismus zu diskreditieren: Die Maßnahmen, die nach der
       Weltwirtschaftskrise von 1929 getroffen wurden, hätten die Situation damals
       nur verschlimmert, da sie zum Zusammenbruch des Welthandels geführt
       hätten.(13) Die wahren Ursachen waren damals die Währungsfluktuation, der
       Anstieg der Transportkosten und die weltweite Verknappung der Liquidität.
       
       Zudem vergessen die Freihandelsbefürworter nur zu gern, dass auch John
       Maynard Keynes seine Meinung geändert hat: War er zu Beginn der
       1920er-Jahre noch ein entschiedener Verfechter des Freihandels, bekannte er
       sich ab 1933 zum Protektionismus.(14) An dieser Haltung hielt er dann bis
       zu seinem Tod 1946 fest. Bei allen seinen Vorschlägen zur Reorganisation
       des Währungssystems und des Welthandels(15) spielte der Protektionismus
       eine wichtige Rolle, während er Autarkiebestrebungen ablehnte.
       
       Um Außenhandelsbeziehungen überhaupt zu gestalten, sind protektionistische
       Maßnahmen unumgänglich. Das ist nicht zu verwechseln mit Autarkie, die ja
       eine vollständige Abschottung nach außen bedeuten würde. Protektionismus
       ist sogar conditio sine qua non jedweder Lohnsteigerungspolitik, die die
       Kaufkraft der Privathaushalte erhöhen und die Nachfrage ankurbeln soll.
       Höhere Löhne sind aber ohne Eingriffe in den Handel nicht zu erreichen. Wer
       das behauptet, ist entweder ein Heuchler oder ein Ignorant. Außerdem gilt,
       dass nur ein gewisser Protektionismus die Spirale des Steuer- und
       Sozialdumpings in Europa stoppen kann.
       
       Man mag einwenden, dass die Einführung protektionistischer Maßnahmen das
       Verhalten der Unternehmen nicht automatisch verändern wird. Die Arbeitgeber
       werden natürlich trotz des besseren Schutzes vor der Konkurrenz von außen
       auf ihren Vorteil bedacht sein, doch ihr Hauptargument wird dann nicht mehr
       ziehen. Es stimmt, dass der Druck der Niedrigpreisproduktion in den meisten
       anderen entwickelten Ländern den Unternehmen heute nur die Wahl lässt
       zwischen Senkung des Lohnanteils (direkt oder indirekt durch Abwälzung der
       Sozialausgaben auf die Beschäftigten) oder Standortverlagerung, die mehr
       Arbeitslose bedeutet. Nimmt man den Arbeitgebern diese Argumentationsfigur
       weg, gibt man den Beschäftigten die Möglichkeit zurück, eine gerechtere
       Verteilung des erzeugten Reichtums einzufordern.
       
       ## Kein Allheilmittel für die Wirtschaft
       
       Der Protektionismus ist kein Allheilmittel - die gibt es in der Wirtschaft
       nie und nirgends -, sondern eine notwendige Bedingung. Dabei muss das Ziel
       deutlich formuliert sein. Protektionistische Maßnahmen sollen nicht darauf
       zielen, die Profite weiter zu erhöhen, sondern die sozialen und
       ökologischen Errungenschaften zu sichern und auszubauen.
       
       Es kann auch keinesfalls darum gehen, alle Billiglohnländer abzustrafen,
       sondern nur Länder, deren Produktivität sich dem Niveau entwickelter
       Volkswirtschaften annähert, ohne dass sie eine diesem Niveau entsprechende
       Sozial- und Umweltpolitik betreiben. Mit einem Satz: Protektionismus soll
       verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach unten zieht.
       
       Die Europäische Union ist für eine solche wirtschaftspolitische Kehrtwende
       nicht der geeignete Rahmen. Die EU müsste umsteuern und neue Schutzzölle
       einführen, doch der europäische Wirtschaftsraum ist heute so heterogen,
       dass er einen idealen Nährboden für Steuer-, Sozial- und Umweltdumping
       bietet. Deshalb sollte die EU - über einen gemeinsamen Außenhandelszoll
       hinaus - über eine Rückkehr zu den europäischen
       Währungsausgleichsbeträgen(16) nachdenken. Mit diesen - zeitlich
       befristeten - Steuern könnten Wechselkursdifferenzen, aber auch
       Diskrepanzen bei sozialen und ökologischen Normen zwischen den Ländern
       Eurozone und den anderen EU-Mitgliedstaaten ausgeglichen werden.
       
       Die anfallenden Zolleinnahmen sollten in einen Europäischen Sozialfonds
       fließen, aber auch gezielte Hilfsmaßnahmen für die Länder außerhalb dieser
       Zollunion finanzieren. Mit diesen wären mittelfristige Abkommen zu
       schließen, in denen sie sich zu höheren sozialen und ökologischen Standards
       verpflichten. Die Erlöse aus den Währungsausgleichsbeträgen sollten in
       einen EU-Fonds zur Stärkung der sozialen und ökologischen Zusammenarbeit
       fließen und Mitgliedstaaten dabei helfen, sich auf beiden Gebieten dem
       EU-Niveau anzunähern.
       
       In der Frage des Protektionismus geht es um eine schlichte Alternative:
       Entweder die anderen zwingen uns ihre Sozial- und Umweltpolitik auf, oder
       wir zwingen sie, unsere Standards zu übernehmen. Demgegenüber bedeutet der
       Freihandel nichts anderes als das Ende der Wahlfreiheit zwischen den
       Sozial- und Wirtschaftssystemen.
       
       Das zeigt auch das wiederholte Scheitern aller Versuche, ein "soziales
       Europa" aufzubauen - die große Illusion der Sozialisten und der Grünen -
       oder auch nur eine Steuerharmonisierung zu erreichen. Ohne Maßnahmen zur
       Sanktionierung des Sozial-, Steuer- und Umweltdumpings wird in diesen
       Bereichen ein allgemeiner Unterbietungswettbewerb Platz greifen.
       
       Die Kombination von Freihandel und rigider Euro-Währungspolitik macht aus
       der Sicht der Unternehmen heimliche Migration zur Notwendigkeit, denn
       illegale Einwanderer entziehen sich den Regelungen des Sozialrechts. Weil
       der Druck durch die importierte Konkurrenz zu einer Aushöhlung der sozialen
       Rechte führt, werden sie damit faktisch zu Lohndrückern.
       
       Die Regierungen mögen sich noch so zieren: An einer Rückkehr zum
       Protektionismus kommen sie nicht vorbei. Er ist kein negativer Faktor,
       sondern bietet im Gegenteil die Chance, den Binnenmarkt auf einer stabilen
       Grundlage wieder aufzubauen und die Zahlungsfähigkeit von Privathaushalten
       und Unternehmen zu stärken. Deshalb kann eine offene Diskussion über
       Protektionismus entscheidend zum Ausweg aus der aktuellen Krise beitragen.
       Eine solche Diskussion sollte - jenseits von Fetischen und Tabus -
       möglichst bald in Gang kommen.
       
       Fußnoten:
       
       (1) US Department of Commerce. Vgl. Aviva Aaron-Dine und Isaac Shapiro,
       "Share of National Income Going to Wages and Salaries at Record Low in
       2006", Center on Budget and Policies Priorities, Washington D. C., 29. März
       2007. 
       
       (2) Der mediane Wert (nicht zu verwechseln mit dem Mittelwert) teilt die
       Lohn- bzw. Einkommensbezieher in zwei gleich große Hälften. Zahlen nach
       Joint Economic Comittee (JEC) von US-Senat und Repräsentantenhaus,
       Washington, 26. August 2008; siehe: [1][www.jec.senate.gov]. 
       
       (3) Bureau of the Census, US-Handelsministerium. 
       
       (4) Joint Economic Committee, Juni 2008. 
       
       (5) Joint Economic Committee, 26. August 2008. 
       
       (6) Paul Krugman, "Trade and Inequality, revisited", VOX, 15. Juni 2007;
       [2][voxeu.org]. 
       
       (7) Mike Brewer, Alissa Goodman, Jonathan Shaw und Luke Sibieta, "Poverty
       and Inequality in Britain 2006", London (Institute for Fiscal Studies)
       2005. 
       
       (8) Inzwischen erreichen die medizinischen Kosten dieser Erkrankungen bis
       zu 3 Prozent des BIP. Siehe etwa: Wolfgang Bödeker, Heiko Friedel Christof
       Röttger und Alfons Schröer, "Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in
       Deutschland", [3][www.teamge sundheit.de/fileadmin/downloads/kurzfassung_
       Kosten.PDF]. 
       
       (9) Laut Angaben des IWF vom 31. August 2008 hat Japan Währungsreserven im
       Wert von 1200 Milliarden Dollar und die Länder der Eurozone 555 Milliarden
       Dollar. 
       
       (10) Der Export Similarity Index im Vergleich mit der OECD ist für China
       von 0,05 im Jahr 1972 auf 0,21 im Jahr 2005 gestiegen; für Korea von 0,011
       auf 0,33; für Mexiko von 0,18 auf 0,33; für Brasilien von 0,15 auf 0,20.
       Vgl. Peter K. Schott, "The relative sophistication of Chinese exports",
       "Economic Policy, Januar 2008, S. 7-40. 
       
       (11) Frank Ackerman, "The Shrinking Gains from Trade: A Critical Assessment
       of DOHA Round Projections", Global Development and Environment Institute,
       Working Paper Nr. 05-01, Tufts University, Medford, Massachusetts, Oktober
       2005. 
       
       (12) "Libre-échange, croissance et développement. Quelques mythes de
       l'économie vulgaire" in "Revue du Mauss, Nr. 30, 2/2007, Paris (La
       Découverte). 
       
       (13) So etwa: Charles P. Kindleberger, "Commercial Policiy Between the
       Wars", in: Peter Mathias und Sidney Pollard, "The Cambridge Economic
       History of Europe", Bd. 8, (Cambridge University Press) 1989; und Harold
       James, "The End of Globalization: Lessons from the Great Depression",
       Cambridge, Massachusetts (Harvard University Press) 2001. 
       
       (14) John Maynard Keynes, "National Self-Sufficiency", "Yale Review, 1933. 
       
       (15) Siehe dazu: Susan George, "Zurück zu Keynes in die Zukunft", "Le Monde
       diplomatique, Januar 2007. 
       
       (16) In den 1960er-Jahren wurden Abgaben oder Subventionen auf europäischer
       Ebene eingeführt, um ein einheitliches Preisniveau zu erreichen. 
       
       Aus dem Französischen von Veronika Kabis 
       
       Le Monde diplomatique Nr. 8834 vom 13.3.2009, Seite 8-9, 565 Dokumentation,
       Jacques Sapir 
       
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       12 Mar 2009
       
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       Dir geht’s gut, weil es anderen schlechtgeht. Soziologe Stephan Lessenich
       klagt in „Neben uns die Sintflut“ das soziale Versagen an.
       
 (DIR) Kanadierin zu Protest gegen Ceta: „Der Widerstand in der EU inspiriert“
       
       Die kanadische Handelsexpertin Sujata Dey bedauert die unkritische Haltung
       der Kanadier zum Freihandel. Doch bei Ceta hat sie Hoffnung.