# taz.de -- Esoterik für Krisengebeutelte: Der übersinnliche DAX
       
       > Es wirkt wie eine Kuriosität in der momentanen Wirtschaftslage: die
       > Esoterikbranche boomt. Sie zeigt, wie sich auch in der Krise
       > Milliardenumsätze machen lassen. Ein Messerundgang.
       
 (IMG) Bild: Räucherstäbchen, Pendel und Kristalle gehören bei der Esoterikmesse dazu.
       
       "Und jetzt bitte ich Erzengel Raphael, alle im Raum einmal ganz fest zu
       umarmen!", flüstert Cornelia Mallon mit andächtiger Stimme. Ende Februar
       hörte man es im prall gefüllten Saal 2 des Berliner AVZ-Logenhauses
       schnaufen, manche Teilnehmer hatten Tränen in den Augen, andere zitterten
       vor Engelsenergie. Aus dem Vorraum drang das Geschepper vom Buffet, die
       schwere Holztür knarzte gegen die spirituelle Ruhe der Engelsmeditation an.
       "Ich bedanke mich bei Erzengel Raphael! Sie können nun die Augen öffnen,
       sobald Sie bereit sind", sagte Cornelia Mallon zum Abschluss ihrer medialen
       Livedemo. Dann verteilte sie Flyer, die ihre Berliner Praxis für
       energetisches Heilwesen bewerben. So funktionierte das auf den
       Esoteriktagen, die gerade wieder wie ein Wanderzirkus durchs Bundesgebiet
       ziehen. Insgesamt 20 Stationen machen sie auf ihren Frühlings- und
       Herbsttourneen in Deutschland. Mit jeweils gut 70 Vorträgen an drei Tagen
       und Dutzenden von Ausstellern locken sie scharenweise esoterisch denkendes
       Publikum an.
       
       In Berlin strömten mehrere hundert Besucher von Vortrag zu Vortrag und
       besichtigten die umfangreiche Ausstellung im ersten Stock. Dort fand sich
       alles von der Aurafotografie über Geistheilung, Karma und Reiki bis hin zu
       Tarot und Zen. Auf den Informationstischen stapelten sich Unmengen von
       Flyern, Broschüren und Katalogen. Es scheint, die allgegenwärtige
       Wirtschaftskrise ist noch nicht bis in die "feinstoffliche" Ebene
       vorgedrungen. Hier florieren die Geschäfte nach wie vor.
       
       Es fällt auch nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Anziehungskraft des
       Übersinnlichen in schweren Zeiten wächst. Denn gerade dann ist eine Flucht
       aus der Realität sehr bequem. Neben der aktuellen Rezession und der Angst
       vor Arbeitslosigkeit bescheren auch Faktoren wie häufigere
       Naturkatastrophen und sich stetig beschleunigende Entwicklungen in einer
       globalisierten Welt der Esoterikbranche Zulauf. Wie viel genau, lässt sich
       kaum sagen, schließlich sind Esoteriker von Natur aus eine faktenscheue
       Gemeinde. Detailliertes Material über diese undurchsichtige Branche gibt es
       nicht. Die einschlägigen Verbände, etwa der Tarotverband, der Deutsche
       Astrologenverband oder der Dachverband Geistiges Heilen, erfassen keine
       aktuellen Umsätze. Beim Astrologenverband spürt man allerdings nichts von
       der Krise: Die Mitgliederzahlen liegen wie immer stabil um die 850. Die 2.
       Vorsitzende des DAV, Ute Flörchinger, berichtet sogar von Aufschwung: "Aus
       meiner eigenen Praxis- und Unterrichtstätigkeit kann ich nur sagen, dass es
       derzeit besser läuft als etwa noch vor ein bis zwei Jahren und ich von der
       Rezession nichts spüre." Diesen Eindruck bestätigten auch Kollegen im
       ganzen Bundesgebiet. Konkretes Zahlenmaterial gibt es allerdings kaum. Die
       wenigen verfügbaren Fakten trägt die kritische Aktion für Geistige und
       Psychische Freiheit (AGPF) regelmäßig zusammen und veröffentlicht sie auf
       ihrer Homepage. Der Jahresumsatz der Esoterikbranche wird dort auf bis zu
       10 Milliarden Euro geschätzt.
       
       Bei dem Berater für Persönlichkeitsentwicklung Harald Wolf gab es in Berlin
       Messerabatt - die Kunden standen Schlange. Der gelernte Schlosser aus
       Kronberg im Taunus bot für 10 Euro pro Hand eine Handanalyse per Computer
       an. Kurz die Handfläche auf den Scanner legen, schon druckt der Laptop
       vollautomatisch ein DIN-A4-Blatt mit einer persönlichen
       Lebenslinien-Auswertung aus. "1000-mal genauer als das menschliche Auge",
       sagt Harald Wolf und versucht damit, dem Esoterischen einen technisch
       fundierten Anstrich zu geben. Als kleine Präsente verteilt er Heilsteine an
       die umstehenden Interessenten. Auch er braucht sich um seine Zukunft wohl
       kaum zu sorgen, die Branche expandiert.
       
       So erklärt auch die Biografieberaterin Wiebke Kossecki, dass sie eine
       stärkere Nachfrage verzeichnet. Vielleicht auch, weil es momentan ratsam
       erscheint, "durch Biografiearbeit einen neuen Blick auf den Lebensfilm zu
       werfen" und durch die Verarbeitung von Schlüsselerlebnissen, Krisen,
       Begegnungen und Chancen ein "Selbst- und Schicksalsbewusstsein"
       auszubilden.
       
       Nicht nur Dienstleitungen profitieren, es werden nach wie vor Firmen
       gegründet, die esoterisches Zubehör herstellen: etwa die erst seit wenigen
       Monaten am Markt agierende Ni-Ma Germany Ltd. Sie produziert "feinstofflich
       aktive Bettwäsche", die den Schlafenden einen "astral ungestörten Schlaf"
       ermöglichen und vor unliebsamen Energien schützen - gar energetisch
       unsichtbar machen soll. Wenigstens vermerkt das Unternehmen in seinen
       Broschüren, dass "ein Heilerfolg nicht garantiert werden kann" und auch ein
       "wissenschaftlicher Nachweis bisher nicht erbracht wurde". Das Geschäft
       laufe trotzdem sehr gut an, erfährt man am Ni-Ma-Stand auf der
       Esoterikmesse.
       
       Gut scheinen die Geschäfte auch auf der Medienebene zu laufen: Die in
       Verruf geratene Questico AG, die auch den Fernsehkanal Astro TV betreibt,
       rühmt sich, mit rund 1,1 Millionen Kunden Deutschlands größter Anbieter für
       Esoterik im Internet und im TV zu sein. Auch wenn das Unternehmen
       prinzipiell keine umsatzrelevanten Daten veröffentlicht, bestätigt Sprecher
       Sven Vogel doch: "Es lässt sich feststellen, dass es schon von jeher so
       gewesen ist, dass Menschen in Krisenzeiten eher Rat suchen als in Zeiten,
       wo es ihnen besser geht." Eine Einschätzung, die ihn mit einem seiner
       Kritiker verbindet. Bernd Harder, Vorstandsmitglied der esoterikskeptischen
       Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.
       V. (GWUP), ist der Meinung: "Es ist absehbar, dass die Wirtschaftskrise
       natürlich einem bestimmten Zweig der Esoterik starken Zulauf bescheren
       wird, nämlich den Wahrsagern, Hellsehern und Lebensberatern." Allerdings
       merkt er an, dass die Anbieter von "barem Unsinn" oder "Luxusesoterik" wohl
       auch sehr bald unter der Krise leiden dürften. "Ich vermute, dass die Leute
       hierfür absehbar weder das Geld noch den Sinn haben werden, um sich zum
       Beispiel mit Außerirdischen, Geistern, Parapsychologie oder Ähnlichem zu
       beschäftigen."
       
       Wer dennoch genug Zeit und Geld dafür hat, wird im ausgesprochen
       umfangreichen Printmarkt fündig. Selbst bei nicht spezialisierten
       Onlinebuchhändlern finden sich momentan in der Sparte Esoterik über 13.000
       Einträge, die sich um Seelenforschung, Spirituelle Medizin oder
       Jenseitsbotschaften drehen. Aber auch Themen wie Geld, Krisenbewältigung
       oder Mobbing werden auf esoterischer Ebene behandelt. Man muss nicht
       hellsehen können, um zu vermuten: Vor allem diese Titel könnten noch zu
       Bestsellern werden.
       
       Gute schlechte Zeit 
       
       2009 soll laut einigen "Börsenastrologen" noch nicht das Ende der Krise
       sein. Laut dem österreichischen Finanzastrologen Gerald Peraus drohe gegen
       Ende des Jahres an den Börsen ein ähnliches Desaster wie schon 2008. Wer es
       noch genauer wissen möchte, kann auf den Internetseiten astrologischer
       Unternehmensberater nachsehen und sich dort die aktuellen Tagesvorhersagen
       für den DAX besorgen. Natürlich gilt auch für das Übernatürliche: "Alle
       Prognosen ohne Gewähr." Schlechte Aussichten also für die Weltwirtschaft
       und gute für die Esoteriker, die noch etwas länger von der Krise
       profitieren dürfen. Vielleicht hat ja wenigstens Erzengel Raphael eine
       tröstende Umarmung für alle notleidenden Banker und Konzernmanager übrig.
       
       30 Mar 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Gückel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Geister
 (DIR) Esoterik
       
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