# taz.de -- Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 2): Köln contra Köln
       
       > Vier Tage lang arbeitete unser Autor bei der streng abgeschirmten
       > "Erstversorgung" der geretteten Dokumente aus dem eingestürzten Kölner
       > Stadtarchiv. Tag zwei des Protokolls.
       
 (IMG) Bild: Sisyphus-Arbeiten nach Einsturz des Kölner Stadtarchivs. Hier ein offizielles Foto von einer Halle, in der Schutt nach Dokumentenresten durchsucht wird.
       
       Horoskop von Dienstag, 7. April, Kölner Stadt-Anzeiger: "Auch wenn Sie
       heute nicht das Tor des Monats schießen, können Sie durch Antrieb,
       Beweglichkeit und Siegeswille viel erreichen." 
       
       13.20 Uhr. Im Shuttlebus erzählt eine Archivarin, der Busfahrer sei heute
       zu früh von der Unterkunft losgefahren. Einige müssen nun per S-Bahn und
       Linienbus nachkommen.
       
       14 Uhr. Schichtbeginn. Schon in Schutzkleidung, streife ich durch die
       Halle. Arbeit, wohin der Blick fällt. Hier 15 Gitterboxen mit schmutzigen
       Kartenrollen. Dort 50 Paletten mit Plänen und Karten. An einer Seite
       gestapelt: 160 Wannen voller Schnipsel. Die Kölnflocken. Vor allem aber,
       zwei Meter hoch gestapelt, weiße Umzugskartons voller trockener
       Archivalien. 3.000 Stück, schätze ich. Keine Ahnung, wie ich das in ein
       vertrautes Längenmaß umrechnen soll.
       
       Einer im blauen T-Shirt mit dem Aufdruck Historisches Archiv Stadt Köln
       kommt auf mich zu. "Beeindruckend, die weiße Wand, nicht?" fragt er.
       
       "Wie viel Regalkilometer sind das?"
       
       "Zwei."
       
       "Ziemlicher Rückstau."
       
       Der Blaue zeigt in das Dunkel der Halle. "Dahinten stehen noch sechs."
       
       14.10 Uhr. Die Kisten tragen den Aufdruck Reisswolf, der Name einer
       Aktenvernichtungsfirma. Mein erster Umzugskarton für heute macht ihrem
       Namen gleich alle Ehre. Die Triage beginnt: Schnipsel, deren Zusammenhang
       nicht mehr erkennbar sind, kommen in eine Schachtel "Fragmente." Wenigstens
       einen anständigen Namen sollen sie erhalten. Zerfetzte Blätter, wenn sie
       noch lesbar sind, fege ich ab, drücke sie platt, staple sie.
       "Verwaltungsschriftgut, nach 1945" heißt die Schachtel. Wer kann damit
       etwas anfangen? Aber genauer geht es jetzt nicht. Wir werfen nichts weg.
       Das erste intakte Aktenstück ist von 1845 und heißt "Merkwürdigkeiten von
       Cölln."
       
       In der Stadt geht die Post ab. Oberbürgermeister Schramma gibt die Schuld
       am Einsturz den Kölner Verkehrsbetrieben, dabei gehört die KVB der Stadt.
       In der Welt hat er heute einen Teil seiner Führungsmannschaft als "illoyale
       Truppe" bezeichnet, fünf der sieben Beigeordneten hätten sich gegen ihn
       gewandt. Sein Stadtdirektor habe ihm mit Gefängnis bedroht, weil er in
       einer Krisensitzung ein Tonbandgerät mitlaufen ließ. Der Baudezernent, will
       der Kölner Stadt-Anzeiger wissen, hat Schramma das Du entzogen, nachdem der
       OB ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet hat - der Dezernent soll
       Informationen zurückgehalten haben. Der Stadtkämmerer, für die Finanzen
       zuständig, wechselt bald in die Wirtschaft. Und Schramma selbst kandidiert
       bei den Wahlen im Herbst nicht mehr.
       
       Zu Recht. Format hätte er gezeigt, wenn er für die Katastrophe die
       politische Gesamtverantwortung übernommen, einen Untersuchungsausschuss
       eingesetzt und im Namen der Stadt die Archivare Europas zur Hilfe gerufen
       hätte. Und wenn diese Krise den Oberbürgermeister einer Millionenstadt
       überfordert, weil er dafür nicht ausgebildet ist, hätte er sich
       entsprechend beraten lassen müssen. Das war nach zwei Tagen zu erkennen.
       Stattdessen: Gezänk.
       
       Dasselbe im Kleinen: Mindestens der Kulturdezernent hätte die vielen
       Nachlassgeber vertrösten müssen, die noch immer nicht wissen, was aus ihren
       Schenkungen, Leihgaben oder Verkäufen an das Stadtarchiv geworden ist.
       Schon zwei Wochen nach dem Einsturz, als der Unmut sich zu regen begann,
       hätte die Stadt zur großen Krisensitzung laden müssen, um öffentlich zu
       erklären, warum sie noch nichts erklären kann. Dann eine Fragestunde, in
       der die Betroffenen ihr Herz ausschütten. So wäre Zeit gewonnen gewesen.
       Doch die Stadt schwieg.
       
       Erst in vier Wochen soll nun eine Konferenz mit den Gebern stattfinden.
       Offenbar von den geplagten Stadtarchivaren ausgerichtet, nicht von der
       Stadtspitze. Da ist sie wieder, diese Unverantwortlichkeit. Ob der OB
       hinkommt? Kein Wunder, dass auch auf den KVB-Bus kein Verlass ist.
       
       15.30 Uhr. Vor mir liegt eine Akte mit der Signatur KcK, "Köln contra
       Köln." Unter diesem Titel haben Archivare aus allen möglichen
       Aktenbeständen Schriftstücke herausgelöst, die die Streitigkeiten zwischen
       Stadt und Erzbischof darstellten. KcK gehört zu den berüchtigten Kölner
       "Pertinenzbeständen".
       
       Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bildeten Archivare aus altem Schriftgut
       neue Sachgruppen. Wo etwas zu zwei oder drei neuen Themen passte, wurde es
       abgeschrieben und eine Kopie zum neuen Betreff gelegt. Nur notierten die
       Archivare nicht, woher sie ihre Texte nahmen. Auch "Köln contra Köln" ist
       deswegen ein gewaltiges Durcheinander. Deswegen sorgen Archivare heutzutage
       dafür, dass Schriftgut gleicher Herkunft zusammenbleibt.
       
       Hier zeigt sich die skurrilste Folge des Einsturzes: Zahllose Aktenordner
       sind nun in einzelne Blätter zerlegt. Diesen Massen werden wir nicht anders
       beikommen, als aus ihnen Themengruppen zu bilden. In der Katastrophe feiert
       das Pertinenzprinzip seinen letzten Triumph.
       
       16 Uhr. Die Kaffeepause schrumpft auf ein schnelles Heißgetränk im Stehen.
       Die Archivarin vom Dienst in ihrem roten T-Shirt läuft herum, ermuntert,
       lobt, freut sich. Die Frauen unserer Putztruppe fragen sich, warum sie
       immer die Fetzen bekommen. Wir entdecken eine Gender-Problematik.
       Zuvorkommend nehmen die Männer die schweren Kisten, in denen komplette
       Akten liegen. In den leichten Mädchenkartons warten die Problemfälle.
       
       18 Uhr. Heute servieren die Malteser das Abendessen. Es gibt heißen Kaffee
       und Tee. Besteck aus Metall. Salate, Äpfel. Auf den Tischen haben sie
       Gruppen von Getränkeflaschen aufgebaut und mit kleinen
       Rittersport-Schokoladen umgeben. Traumhaft im Vergleich zu dem, was die
       Johanniter gestern aufgetischt haben. Darf man Hilfswerke gegeneinander
       ausspielen?
       
       19.15 Uhr. Wieder Aufregung. Die Rote ruft: "Es kommt eine Palette
       halbfeucht!" In meinem Karton sitzt bereits der Pilz auf den Akten eines
       Karnevalsvereins. Aber unten liegt ein großer Prunk-Orden von 1999. Ein
       Blauer verliest die Aufschrift in korrektem Kölsch: "Jetzt kütt zesamme,
       wat zesamme jehööt." Ich schaue auf meine losen Blätter und den Berg von
       Kölnflocken.
       
       21 Uhr. Mein Tagwerk: vier Reisswolf-Kartons.
       
       22 Uhr. In der Pension. Seit die Wirtin den Grund für meine schmutzige
       Kleidung kennt, spendiert sie einen Schnaps, wenn ich zurückkomme.
       
       Im Wikipedia-Artikel über das Stadtarchiv steht ein neuer Satz: „Als
       zerstört gilt der Nachlass des bedeutenden Fotosammlers L. Fritz Gruber“,
       als Beleg ein Artikel in der Zeit vom 13. März. Ein paar Tage nach dem
       Einsturz hatte Eberhard Illner, der zehn Jahre lang für die Nachlässe des
       Stadtarchivs zuständig war, die Witwe Grubers besucht. Das Schicksal der
       Dokumente bewertete Illner so: „Die Geschichte der modernen Fotografie in
       Deutschland existiert nicht mehr.“ Der begleitende Journalist schrieb dazu:
       „Tränen füllen seine Augen.“
       
       Illner hat auch gleich am 3. März die Archivdirektorin Bettina
       Schmidt-Czaia in Interviews dafür verantwortlich gemacht, dass das Gebäude
       nicht längst geräumt war. Doch die gesamte Archivszene weiß, dass Illner
       bei der Besetzung des Kölner Chefpostens Schmidt-Czaia unterlegen war und
       dann in Wuppertal die Leitung des Historischen Zentrums übernahm. Viele
       vermuten, dass hier eine alte Rechnung beglichen werden sollte. Ich bin
       sehr gespannt, was passiert, wenn Illner im Juni auf den Rheinischen
       Archivtag kommt.
       
       Gestern und heute sind Teile von vier Nachlässen durch meine Hände
       gegangen. Erhaltungszustand: perfekt bis zerstört. Ich ersetze den
       Wikipedia-Satz mit einem neuen: „Am 7. April betrug der
       Erschließungsrückstau mehrere Regalkilometer. Über verlorene Bestände
       können deswegen keine seriösen Angaben gemacht werden.“
       
       (Nachtrag: Dieses Protokoll soll keine Angaben über Gerettetes enthalten,
       um nicht falsche Hoffnungen zu wecken. Für einmal eine Ausnahme: Als ich
       einer Kollegin am nächste Tag von dem Zeit-Artikel erzähle, sagt sie:
       „Nachlass Gruber? Hatte ich gestern. Eine Mappe mit Fotos. Tadellos
       erhalten.“)
       
       Nachricht von drinnen: Kater Felix steht unter Schock, berichtet die lokale
       Presse.
       
       Nachricht von draußen: 228 Tote im Erdbebengebiet von LAquila. Vom Palazzo
       del Governo, der das Staatsarchiv beherbergt, sei nichts geblieben, meldet
       die Zeitung Il Tempo.
       
       16 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dietmar Bartz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag vier): „Das wird noch Oktober“
       
       Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner
       Archivalien. Wenn Rechnen tröstet: Von Quantität und Qualität der
       Katastrophe. Vierter und letzter Tag.
       
 (DIR) Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 3): Schimmelalarm!
       
       Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner
       Archivalien. Heute: Im Kampf gegen Staub und Sporen und: Kleckern und
       Klotzen bei der Digitalisierung. Tag drei.
       
 (DIR) Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 1): „Wir lesen nicht!“
       
       Streng abgeschirmt in einer Halle werden die Urkunden und Akten aus dem
       eingestürzten Kölner Stadtarchiv erstversorgt. Unser Autor arbeitete vier
       Tage mit. Tag eins des Protokolls.