# taz.de -- Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag vier): „Das wird noch Oktober“
       
       > Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner
       > Archivalien. Wenn Rechnen tröstet: Von Quantität und Qualität der
       > Katastrophe. Vierter und letzter Tag.
       
 (IMG) Bild: Ein Restauratorin reinigt ein historisches Dokument. „Zehn Leute, gute Werkstätten, zwanzig Hilfskräfte, dann sind die in zehn Jahren damit durch“, schätzt ein mit dem Zustand der nassen Kölner Archivalien vertrauter Fachmann.
       
       Horoskop von Donnerstag, 9. April, Kölner Stadt-Anzeiger: „Heute könnte es
       etwas rauer zugehen als sonst. Für jeden Kuchenkrümel müssen Sie sich
       wahrscheinlich ordentlich ins Zeug legen.“ 
       
       13.45 Uhr. Ankunft mit dem Shuttlebus. Wer uns wohl heute verpflegt? Die
       Malteser müssten wieder dran sein, wie schön! Aber an der Halle steht kein
       cremefarbener Lieferwagen. Es steht überhaupt kein Lieferwagen da. Niemand
       sei gekommen, sagen die von der Frühschicht. 30 Leute ohne Mittagessen.
       
       14 Uhr. Schichtbeginn, letzter Tag, letzte Station. An Packtischen laden
       wir alles in Archivkartons um, was andere Helfer uns auf großen Wagen aus
       den Wärmekammern heranschieben: Akten und Urkunden, Kopiare und Amtsbücher,
       alle möglichen Teile aus den berühmten 818 Kölner Nachlässen, auch
       Broschüren und Fotos, lose Zettel und Schnipsel. Wir verwandeln sie wieder
       in Schachtelinhalt, wohl die Zustandsform von Schriftgut, die allen
       Archivaren die vertrauteste und sicherste ist.
       
       Geredet wird nicht viel unter den Masken und in der Hitze. Die großen
       Wärmekammern mit ihren sechzehn Bautrocknern sind nur durch Plastikplanen
       abgetrennt. Oft sind das Kollern der Wagenräder auf dem Betonboden und das
       Rascheln des Papiers beim Umbetten die einzigen Geräusche in den Weiten
       unserer Etage. Stetig kommt neuer Nachschub. „In einer Art Schlafwandel der
       Gewohnheit erneuert sich das, ein schweigsames von-Hand-zu-Hand-Gehen“,
       schrieb Martin Kessel in seinem Roman Herrn Brechers Fiasko von 1932.
       
       Das Verstauen tröstet. Meine Fassungslosigkeit der vergangenen Tage beruhte
       auf dem Umstand, die Qualität der Katastrophe, das Durcheinander von Ganz-,
       Halb- und Unzerstörtem, nicht mit der der Quantität der Katastrophe, der
       schieren Menge an Schriftgut, in Übereinklang bringen zu können. Jetzt, am
       Packtisch, hilft das Rechnen.
       
       Die vielen Schachteln mit Kölnflocken und Einzelblättern, zerknautschten
       Stehordnern und aufgequollenen Bücher haben die Bestände des Stadtarchivs
       ziemlich aufgeplustert, um zwanzig Prozent, schätze ich. Aber eine
       Plastikwanne enthält auch rund zwanzig Prozent mehr Material, als auf einen
       Regalmeter geht. Das mag sich ausgleichen. Grob kalkuliert also: Ein
       Wanneninhalt entspricht einem Regalmeter in der alten, kompakten Lagerung
       des Stadtarchivs. 27 Regalkilometer hatte das Archiv. An den Packtischen
       sind wir gerade bei Wanne 3000, also Kilometer drei. Dann kommen noch
       24.000 Wannen. Hoffentlich. Jede Wanne weniger würde für acht Kartons
       Totalverlust stehen.
       
       15 Uhr. Mittagessen ist da. Auch das soll abgearbeitet werden. Unwillig
       unterbrechen wir die Arbeit. Schutzanzüge wieder ausziehen. Schweinebraten
       mit Kartoffelklößen.
       
       „Woran lag denn die Verzögerung?“
       
       „Wir standen im Stau.“
       
       „Drei Stunden?“
       
       „Mit dem Essenmachen hat was nicht geklappt.“
       
       Sagen wir es so: Im Gegensatz zu den evangelischen Johannitern halten die
       katholischen Malteser das köllsche Ideal des entspannten Umgangs mit
       Pflicht und Ausrede aktiv aufrecht. Insofern erhöbe ich jetzt gegen eine
       vollständige Säkularisierung beider Orden im Westfälischen Frieden von
       1648, spätestens aber im Reichsdeputationshauptschluss von 1803, keine
       nachträglichen Einwände.
       
       15.30 Uhr. Wir kommen nur langsam voran. Uns sind die großen Kartons
       ausgegangen, in denen sonst vor allem die Stehordner landen. Die müssen wir
       nun händisch mit Packpapier umhüllen und zukleben. Eine Pein für
       Grobmotoriker wie mich, die kein Buch ordentlich einwickeln können. Mein
       Gegenüber, die Stadtarchäologin, mit der ich am ersten Tag hierher fuhr,
       beobachtet meine Mühe.
       
       Die Arbeit dauert doppelt so lange wie sonst, und solche Pakete lassen sich
       nicht gut stapeln. Unser Kölner Schriftführer, der in einem zugestaubten
       Laptop sorgfältig Packzettel, Kartonnummern und Palettenzahlen nachhält,
       schimpft: „Nää, nää, nää. Unn jestern warmer so schnell.“ Dennoch: Nur
       einmal in vier Schichten fehlt Material, kein schlechtes Ergebnis.
       
       In den Abläufen habe ich auch nur ein einziges Problem entdeckt. Die
       Archivalien werden auf einem Zettel notiert, wenn sie gesäubert in die
       Wannen gelegt werden. Aus den Wannen werden zehn Kartons. Um später etwas
       zu finden, müssen im schlechtesten Fall alle zehn Kartons geöffnet werden.
       Würde der Inhalt erst an unseren Packtischen erfasst, wäre er genau einer
       Schachtel zuzuordnen. Das dürfte den geordneten Rückfluss der Archivalien
       in die Magazine des neuen Stadtarchivs sehr erleichtern.
       
       16.30 Uhr. Alle auf unserer Etage haben die Kaffee- und Kuchenpause
       vergessen und durchgearbeitet. Keinen Krümel haben die anderen uns übrig
       gelassen.
       
       Noch eine Rechnung. 27 Regalkilometer enthielt das Archiv. Nach
       wochenlanger Zeitungslektüre, vielen Gesprächen, eigener Beobachtung im EVZ
       und einer Presseführung über die Einsturzstelle scheint mir, dass drei
       Viertel der Bestände kaum oder nur mäßig (bis zum Knicken, aber noch ohne
       Reißen) beschädigt sind. Auffällig gut sind dabei die älteren Bestände
       davongekommen, die liegend und in Kartons aufbewahrt wurden. Die
       Wasserschäden sind zwar ärgerlich, aber Tinte war bis zur Mitte des 19.
       Jahrhunderts wasserfest und verläuft nicht. Schlimmer sind die Pilze, die
       sich von der Zellulose des Papiers ernähren wollen.
       
       Das restliche Viertel des Kölner Schriftguts wird wohl schwer beschädigt -
       gerissen, zerrissen, zerquetscht, zerrieben - oder vernichtet sein. Die
       größten Schäden haben die vielen Regalkilometer Ordner mit Verwaltungsakten
       nach 1945 erlitten. Sie waren noch nicht endgültig archiviert und standen
       aufrecht in den Regalen, als die Decken herunter kamen.
       
       Die Schäden an Substanz und Aura sind aber nur ein Teil der Verlustbilanz.
       Ein anderer Teil betrifft die Leistung der Archivare von Köln, die über ein
       Jahrhundert lang ihre Bestände geordnet und erschlossen haben. Diese
       Struktur wiederherzustellen dauert vermutlich ebenso lang wie der Neubau
       des Archivs. Die Ordnung der Akten ab 1945? Fragezeichen. „Zehn Stellen
       zusätzlich, insgesamt. Aber gehen Sie damit mal zu einem Stadtkämmerer“,
       meinte der Chef eines Hauptstaatsarchivs, den ich deswegen anrief.
       
       Und die Restaurierung? „Zehn Leute, gute Werkstätten, zwanzig Hilfskräfte,
       dann sind die in zehn Jahren damit durch“, schätzt ein mit dem Zustand der
       nassen Kölner Archivalien vertrauter Fachmann am Telefon. Aber noch ist
       überhaupt nicht zu erkennen, dass die Stadt hinreichend Personal für die
       Beseitigung der Folgen des Unglücks bewilligt, das sie zu verantworten hat.
       Gerade zwei Stellen des gehobenen Archivdienstes, Teilzeit „gerne“, sind
       frisch ausgeschrieben.
       
       18 Uhr. Abendessen der Malteser, eine gute Minestrone, nicht genug Brot für
       alle. Eine Pet-Flasche fällt um, Sprudel spritzt über den Tisch.
       „Wasserschaden!“, ruft ein Scherzbold. Ein Moment Totenstille im Raum, dann
       Gelächter. Über die Schrecksekunde, nicht über den Witz.
       
       Am Tisch: Zwei Volunteers von Ford Köln, die sich für diese
       Nachbarschaftsarbeit haben freistellen lassen, „daran erkennt man die
       amerikanische Firma“. Eine junge Medienangestellte, die gerade das Abitur
       nachmacht und bis zu den Prüfungen im Mai etwas Zeit hat. Ein
       Papyrologenpärchen von der Uni Bonn, das schon half, als das Schutzdach
       über der Einsturzstelle noch nicht stand; damals kamen die Archivalien mit
       frischen Regenwasserschäden Tag und Nacht herein und wurden im
       Dreischichtbetrieb abgearbeitet. Er: „Euer Mittelalter ist für uns Jüngste
       Geschichte.“ Sie: „Muss es ja auch geben.“
       
       Über den Slogan der Wohlmeinenden, dass Köln mit dem Einsturz „sein
       Gedächtnis verloren“ habe, schütteln hier viele den Kopf. Wir tragen
       zusammen: Erstens ist längst nicht alles vernichtet. Zweitens: Es gibt in
       Köln auch andere Archive. Drittens: Die Akten wichtiger Behörden gehen auch
       an andere Stellen. So gibt der Regierungspräsident von Köln an das
       Landesarchiv in Düsseldorf ab; das soll übrigens demnächst in einen Bau im
       Duisburger Hafen ziehen und gegen Rheinhochwasser geschützt sein, hm.
       Viertens: Zum „Gedächtnis Kölns“ gehören auch die hiesigen Bibliotheken und
       Museen, selbst die Baudenkmäler und der Grundriss der Stadt. Und fünftens
       wird kein Archivar ernsthaft abstreiten, dass die Akten, die er betreut,
       höchstens fünf Prozent der Lebenswirklichkeit in seinem
       Zuständigkeitszeitraum ausmachen.
       
       20.30 Uhr. Wir schieben Wagen, Wannen und Paletten in Gruppen zusammen und
       räumen die Arbeitsplätze ab.
       
       20.45 Uhr. Einsatz-Ende, Feierabend, Osterpause. Wie lange wird das hier
       noch weitergehen? Im Hinausgehen ein letzter Blick in die
       Reinigungsstation, in der ich vor vier Tagen mit Wanne 2809 angefangen
       habe. Die letzte von heute trägt die Nummer 3412.
       
       Rechnung Nummer drei: Sechshundert Wannen in vier Tagen, das entspricht 150
       Wannen oder 150 Regalmetern pro Tag. 27 Kilometer Archivalien hatten sie im
       Archivgebäude, das bedeutet: 180 Werktage im EVZ. Ein Monat ist schon weg;
       meine Berechnung passt zu dem, was der Archivar vom Dienst im Vorbeilaufen
       ruft: „Das wird noch Oktober!“
       
       Sechs Wochen, bis die letzten Archivalien aus den Trümmern gezogen sind.
       Sechs Monate, bis die Erstversorgung abgeschlossen ist. Sechs Jahre, bis
       das neue Stadtarchiv voll benutzbar ist. Für die Restauratoren, bleiben wir
       realistisch, Arbeit bis ans Ende aller Tage.
       
       21 Uhr. Ich bin nicht enttäuscht, nach den vier Tagen nur mit einem
       freundlichen Blick über die Maske hinweg verabschiedet worden zu sein. Mehr
       kann man von den Kölnern doch nicht verlangen. Die Belastung durch die
       Wucht des Ereignisses, durch den Aufbau eines funktionierenden Workflows
       aus dem Nichts und durch den Dreischichtbetrieb der ersten zehn Tage hat
       ihnen eine enorme Kraft abverlangt. Dann wochenlang immer neuen Gesichtern
       hinter Schutzmasken Anerkennung zu zollen, und es geht ja noch Monate so
       weiter? Eine psychologische Überforderung für beamtete Stadtarchivare des
       höheren und gehobenen Dienstes, die dafür nun wirklich nicht ausgebildet
       sind.
       
       Ihnen kein explizites Lob abzufordern ist sogar professionell, weil ein
       solcher Verzicht zeigt, dass man ihre Lage nachvollzieht. Es drückt ein
       kollegiales Kompliment für ihre Arbeit aus. Zuständig für unsere formelle
       und informelle Belohnung wäre die Stadt Köln. Der nützt unsere Arbeit
       schließlich am Meisten.
       
       21.30 Uhr. Abschied am Shuttlebus. „Ich hab’ noch war für euch.“ Uns
       Nichtkölnern schenkt die Stadtarchäologin Reclam-Bändchen über Kölner
       Architektur und Kunst, die sie in rotes Geschenkpapier eingepackt hat. Als
       Widmung hat sie nur ein Wort hineingeschrieben: „Danke!“ Im Vorwort steht:
       „Für Kölnerinnen und Kölner ist es die Stadt schlechthin, an der sie mit
       einer solche Liebe hängen, dass jede Kritik, vor allem von Auswärtigen,
       nahezu als Zumutung empfunden und zurückgewiesen wird – auch wenn intern
       augenzwinkernd die Richtigkeit bestätigt wird.“
       
       Nachricht von drinnen: Kater Felix hat überlebt, weil er überfüttert war
       und von sechs auf zweieinhalb Kilo abmagern konnte, erklärt Express.
       
       Nachricht von draußen: 293 Tote in L’Aquila. Das Staatsarchiv im
       Erdgeschoss des sonst weitgehend zerstörten Palazzo del Governo sei kaum
       beschädigt, und seine vier Kilometer zugestaubte Bestände kämen in das
       Archivdepot von Sulmona, berichtet Archivalia.
       
       19 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dietmar Bartz
       
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