# taz.de -- Aufarbeitung: Meine Mutter, die Zwangsarbeiterin
       
       > Wera Bondarenko ist aus der Ukraine nach Hamburg gekommen, um das Haus zu
       > besuchen, in dem sie geboren wurde. Ihre Mutter arbeitete als
       > Zwangsarbeiterin auf der Deutschen Werft in Finkenwerder. Erst spät hatte
       > sie ihrer Tochter erzählt, wo sie herkommt. Seitdem weiß Wera, dass ihr
       > Vater nicht ihr richtiger Vater ist.
       
 (IMG) Bild: Wera Bondarenko (Mitte).
       
       Wera Bondarenko kann es noch gar nicht fassen, in Hamburg zu sein. Sie ist
       hier geboren - doch das hat sie erst mit 40 Jahren erfahren. Nun sitzt sie
       am Tisch der Familie Brandt, den Leuten, in deren Haus ihre Mutter sie zur
       Welt brachte, und sagt: "Ich bin sehr glücklich, aber auch sehr aufgeregt."
       Sie hat eine Dolmetscherin dabei.
       
       Wera ist die Tochter einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin. Ihre
       Mutter wurde 1942, mit 16 Jahren, nach Deutschland verschleppt. Sie war 17
       Jahre alt, als sie mit Wera schwanger war. Am 30. November 1943 brachte
       Lidia Sacharjanez im Haus der Familie Brandt am Moorburger Elbdeich 263
       ihre Tochter zur Welt. Wer der Vater ist, weiß bis heute niemand.
       
       Wera ist mit einer 15-köpfigen Besuchergruppe aus der Ukraine angereist,
       auf Einladung des Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Sie
       besuchen die ehemaligen Orte der Zwangsarbeit in und um Hamburg, aber auch
       die Stadt wird besichtigt. "Hamburg ist so schön! Meine Mutter hatte sicher
       nicht die Möglichkeit das zu erkennen. Ich wünschte sie wäre noch mal
       hier", sagt Wera, als sie mit dem Bus nach Finkenwerder fährt.
       
       Dort stehen noch Hallen der ehemaligen Deutschen Werft. Nach ihrer Geburt
       wurden ihre Mutter und Wera ins so genannte "Ostarbeiterlager" nach
       Ochsenzoll abkommandiert, ein Jahr später musste Lidia in Finkenwerder für
       die Deutsche Werft zur Arbeit antreten. Wera ist mit zwei anderen Frauen
       unterwegs. Nina Bibloglowskaja und Ljubow Petrenko. Auch ihre Mütter
       arbeiteten als Zwangsarbeiterinnen bei der Deutschen Werft. Sie haben ein
       paar mehr Erinnerungen als Wera. Gemeinsam schauen sie am Hauptdeich auf
       den ehemaligen Sitz der Deutschen Werft hinunter. Frau Petrenko hat das
       alte Haus aus Ziegelstein mit dem schwarzen Dach erkannt. Sie war dort mit
       ihrer Mutter, die dort auf sie und andere Arbeiterkinder aufpasste.
       
       Wera war am Tag der Befreiung 1944 durch die Amerikaner kaum älter als ein
       Jahr. Ihre Mutter erzählte, dass sie mehrere Angebote bekamen, auszuwandern
       - zum Beispiel nach Kanada. Lidia entschied sich dafür, in die Ukraine
       zurückzukehren - nach Charkow - dort wo sie noch Familie hatte.
       
       Nach dem Krieg war es so üblich, dass man dann als Mutter zum Amt ging und
       selbst angab, wo und wann seine Kinder geboren wurden. In Weras Pass stand
       also all die Jahre, dass sie 1942 in Charkow geboren wurde - und nicht 1943
       in Moorburg. Man wollte so die Kinder schützen. In Deutschland geboren
       worden zu sein, bedeutet nichts Gutes. Über die Vergangenheit sprach man
       nicht mehr.
       
       Lidia heiratete und bekam einen Sohn. Wera war bis vor ein paar Jahren der
       festen Überzeugung, dass es ihr leiblicher Bruder sei, dass ihr Stiefvater
       ihr richtiger Vater sei. "Wieso hätte ich Zweifel haben sollen", fragt sie.
       Nun sitzt sie an ihrem Geburtsort mit einem Meldebescheid ihrer Mutter,
       welcher besagt, dass sie 1942 bei einer gewissen Frau Meyer, geborene Bauer
       gearbeitet hat und einer Geburtsurkunde aus dem Hamburger Staatsarchiv,
       welche bestätigt, dass Wera in Moorburg geboren wurde.
       
       "Wir wollen sie nicht weiter auf die Folter spannen", sagt Manfred Brandt.
       Seine Familie hat das Nachbarhaus, in dem Wera geboren wurde, verkauft, nun
       gehen sie hinüber. Herr Brandt führt Wera in das Zimmer, in dem sie geboren
       wurde. Sie betrachtet sich kurz in dem Spiegel im Flur und folgt dann Herrn
       Brandt. Als sie das Zimmer sieht, fängt sie an zu weinen. "Es ist so ein
       großer Moment für mich - ich weiß selbst noch nicht, was das jetzt mit mir
       macht", sagt sie.
       
       Herr Brandt erzählt, dass er damals von Lidia wusste, aber nicht, dass sie
       schwanger war. Sein Opa, das Familienoberhaupt, muss Lidia unterstützt
       haben. "Er hat Hitler schon immer für einen Verbrecher gehalten", sagt
       Brandt.
       
       Heute wohnt in dem Geburtshaus von Wera die Künstlerin Almut Heer. Wera ist
       ein bisschen traurig, dass das Haus nicht mehr so erhalten ist, wie es
       damals war. Nach ein paar Minuten verlassen sie den Raum wieder. Wera rückt
       ihre Haare vorm Spiegel zurecht.
       
       Manfred Brandt, seine Lebensgefährtin und ein Mitglied des Freundeskreises
       laden Wera zum Essen in das deutsche Haus im Neugraben ein. Dort trinkt sie
       zum ersten Mal deutsches Bier und unterhält sich über ihre Eindrücke. Sie
       erzählt von einem Foto, was sie dabei hat. Darauf sei ihre Mutter mit einer
       anderen Frau zu sehen. Es sei in Deutschland aufgenommen worden. "Inge
       könnte wissen, wer die zweite Frau ist. Wir fragen sie heute Nachmittag",
       sagt Manfred Brandt. Inge Westphal, geborene Bauer, ist seine Cousine
       zweiten Grades. In ihrem Elternhaus - zur Moorburger Schanze - hat Weras
       Mutter damals gearbeitet. Manfred Brandt hat Inge und eine weitere Cousine,
       die gegenüber von Inge wohnte, Christa Böttcher, eingeladen - in der
       Hoffnung, dass sie Wera ein bisschen mehr über ihre Mutter erzählen können.
       
       Als Wera nachmittags auf die beiden trifft, gibt es Umarmungen und
       Wangenküsse. Inge und Christa erinnern sich zwar nicht an Wera, aber sie
       erkennen Lidia in ihr. "Sie hat die Augen ihrer Mutter", sagt Christa. Alle
       sitzen am Tisch, betrachten alte Bilder. "Lidia war eine ganz ansehnliche
       Frau", erzählt Inge. "Sie konnte sich kaum vor Männern retten. Sie hat sich
       immer etwas vor die Zähne geklebt, damit sie etwas hässlicher war." Wer
       Weras Vater ist, können die beiden auch nicht sagen. Christa war damals
       acht Jahre alt.
       
       Weras Mutter ist mit 65 Jahren gestorben. Auch kurz vor ihrem Tod hat sie
       von damals nicht viel verraten. Lidia erwähnte öfter die Bombenangriffe
       während ihrer Zeit bei der Deutschen Werft. "Sie beschrieb dann immer, wie
       sie mich auf den Arm hob und mich schützend umschlang", so Wera. Das sei
       ein Anzeichen, dass sie während der Zwangsarbeit die ganze Zeit bei ihrer
       Mutter gewesen sein muss.
       
       Seitdem sich in den 90er Jahren zahlreiche Stiftungen gegründet hatten, die
       sich um die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter bemühten, wurde das
       Thema politisch und man sprach wieder über die Vergangenheit. Dann kam auch
       Lidia mit ihrer Geschichte. Die riss sie allerdings nur an. Dass sie bei
       einem Bauern in Moorburg arbeitete, dass sie auf ein Baby aufpassen musste.
       Und dass eben Wera dort geboren wurde.
       
       Wera ist froh, dass sie nach Deutschland gekommen ist. Sie wurde schon
       einmal eingeladen und hat die Einladung abgeschlagen. Dieses Mal hat ihr
       Sohn ihr geraten, die Reise anzugehen, um ihre innere Ruhe zu finden. Sie
       und Manfred Brandt wollen auf jeden Fall in Kontakt bleiben und die
       Spurensuche gemeinsam fortführen. Inge zum Beispiel kennt eine damalige
       Freundin von Lidia, die auch aus der Ukraine kommt. Sie will versuchen, den
       Kontakt herzustellen, und dann geht es weiter.
       
       3 Nov 2009
       
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