# taz.de -- Antje Kosemund, Schwester eines Euthanasie-Opfers: "Später waren sie alle tot"
       
       > Antje Kosemund hat mehr als 20 Jahre lang Informationen über das
       > Schicksal ihrer Schwester Irma Sperling gesammelt, die als geistig
       > behindertes Kind nach Wien deportiert wurde.
       
 (IMG) Bild: Antje Kosemund: Die 81-Jährige forschte jahrelang über das Schicksal ihrer Schwester.
       
       taz: Frau Kosemund, Ihre Schwester Irma wurde dreimal begraben. Wie kam es
       dazu? 
       
       Antje Kosemund: Ihr Körper wurde 1944 in einem Massengrab in Wien
       verscharrt, nach dem sie in der berüchtigten "Kinderfachabteilung ,Am
       Spiegelgrund'" in Wien ermordet worden war. Ihr Gehirn, das für
       medizinische Versuche präpariert wurde, ist 1996 in Hamburg begraben
       worden. Und im Herbst 2002 wurde in einem Institut in Wien eine weitere
       Gehirnscheibe von ihr gefunden. Dieser sterbliche Überrest wurden 2002 in
       Wien beigesetzt.
       
       Ihre Nachforschungen über das Schicksal Ihrer Schwester haben mehr als 20
       Jahre gedauert. 
       
       Ich wollte wissen, was mit ihr und den anderen Kindern geschehen ist. Wie
       kann es angehen, dass Ärzte sich so prostituieren, dass sie Tausende
       Menschen ermorden? Als ich dann erfahren musste, dass die Wahrheit über die
       Morde auch nach dem Krieg noch verschleiert wurde, bin ich zornig geworden.
       Nach dem Krieg hat niemand nach den Euthanasie-Opfern gefragt. Wo sind die
       geblieben? Das wurden jahrzehntelang verschwiegen. Sie sind wieder als
       unwertes Leben behandelt worden. Für mich ist dieses Umgehen mit der
       Geschichte wie eine zweite Verfolgung.
       
       Wie haben Sie herausbekommen, dass Ihre Schwester ermordet wurde? 
       
       1983 habe ich mit meinem Vater die alten Dokumente durchgesehen und
       entdeckt, dass die Sterbeurkunde erst 1945 ausgestellt worden war, ein Jahr
       nach ihrem Tod. Das kam mir seltsam vor. Als politisch aktiver Mensch
       wusste ich, dass die Nazis psychisch kranke und behinderte Menschen
       ermordet haben. Ich schrieb an die Alsterdorfer Anstalten, wo meine
       Schwester in der Psychiatrie war, bevor sie 1943 mit 227 anderen Frauen und
       Mädchen nach Wien abtransportiert wurde. Und ich schrieb an das
       Psychiatrische Krankenhaus Wien, weil ich die Krankenakten sehen wollte.
       
       Wie waren die Reaktionen? 
       
       Der Direktor des Krankenhauses in Wien, Eberhardt Gabriel, behauptete, es
       gäbe keine Krankenakten meiner Schwester und das Grab sei aufgelassen
       worden. Nichts davon stimmte.
       
       Wusste die Leitung der Alsterdorfer Anstalten, als die Deportation
       stattfand, was mit Ihrer Schwester geschehen würde? 
       
       Selbstverständlich. Der damalige Anstaltsleiter Pastor Siegfried Lensch war
       SA-Mann, trat in der Anstalt auch in Uniform auf und hielt Fahnenappelle
       ab. Er wurde nach dem Krieg Pastor in Othmarschen und ist dort bis zu
       seiner Pensionierung geblieben.
       
       Wie haben Sie herausgefunden, dass das Gehirn Ihrer toten Schwester in Wien
       aufbewahrt worden ist? 
       
       1994 erfuhr ich durch einen Bericht im Fernsehen, dass sich im
       Psychiatrischen Krankenhaus "Baumgartner Höhe" in Wien im Keller der
       Pathologie ein so genannter Gedenkraum befindet. Dort lagerten 600 bis 700
       Gläser mit den sterblichen Überresten von Euthanasie-Opfern, und die Stadt
       plante diesen Gedenkraum zu einem Museum umzuwidmen. Ich war so entsetzt.
       Der Direktor der Klinik bestätigte später meine böse Ahnung, dass sich in
       einem der Gläser auch das Gehirn meiner Schwester befand.
       
       Wie haben Sie erreicht, dass die sterblichen Überreste Ihrer Schwester in
       Hamburg begraben wurden? 
       
       Ich habe Einspruch gegen das Vorhaben erhoben, die Präparate öffentlich
       auszustellen. Ich habe Briefe geschrieben, an die österreichische
       Gesundheitsministerin, an den Bundeskanzler und den Bundespräsidenten: Das
       sind sterbliche Überreste von Nazi-Opfern. Es ist unmöglich, sie den
       voyeuristischen Blicken der Öffentlichkeit auszusetzen. Ich verlangte, dass
       die sterblichen Überreste meiner Schwester und der anderen Opfer aus
       Hamburg überführt werden, damit sie in ihrer Heimatstadt beerdigt werden
       können. Nach längerem Hin und Her sind tatsächlich zehn Urnen in Hamburg
       angekommen, die haben wir dann am 8. Mai 1996 auf dem Ohlsdorfer Friedhof
       beigesetzt.
       
       Wissen Sie, wie Irma ermordet wurde? 
       
       In der ersten Eintragung in der Krankenakte heißt es: Ein freundliches
       Kind, hüpft von Stühlchen zu Stühlchen und freut sich darüber. Und dann
       merkt man von Vierteljahr zu Vierteljahr, wie dieses Kind reduziert wird,
       bis sie schweigt. In Wien hat sie in den ersten acht Wochen zwölf Kilo an
       Gewicht verloren. Dann wurde sie mit 13 anderen Mädchen aus den
       Alsterdorfer Anstalten in die berüchtigte Kinderfachabteilung "Am
       Spiegelgrund" verlegt, das war die Mordstelle. Dreieinhalb Monate später
       waren sie alle tot. Die Ärzte haben mit ihnen Menschenversuche gemacht, zum
       Beispiel Tuberkelzellen gespritzt, um irgendwelche Therapien
       auszuprobieren. Die Kinder waren vom Hunger geschwächt und wurden durch die
       ständige Gabe des Medikaments Luminal vergiftet. Der Leiter der
       Kinderfachabteilung, Doktor Heinrich Gross, hat übrigens nach dem Krieg an
       den Gehirnpräparaten seiner Opfer weiter geforscht und damit seine Karriere
       aufgebaut.
       
       Wann sind die Krankenakten Ihrer Schwester aufgetaucht? 
       
       Die hab ich erst 2002 gekriegt, fast 20 Jahre nachdem ich sie angefordert
       hatte. Da hatten sie auch aufgrund unserer Initiative aus Hamburg die
       Institute durchsucht. In einem Institut, das für den Mörder Gross extra
       eingerichtet worden war, hat man auf dem Dachboden einen verschlossenen
       Schrank gefunden. Da waren Akten von ermordeten Patienten drin, vermutlich
       von denjenigen, nach denen von Familienangehörigen geforscht worden war.
       
       Was für ein Kind war Irma? 
       
       Ich kann mich daran erinnern, dass sie von meiner zweitältesten Schwester
       viel auf dem Arm getragen wurde. Meine Mutter konnte sich nicht so sehr um
       sie kümmern, weil sie schon wieder zwei Babies bekommen hatte und ständig
       krank war. Irma war sehr hübsch. Mit großen braunen Augen und dunklen
       Haaren. Wenn wir gesungen haben, dann hat sie immer im Bett gesessen, den
       Takt geschlagen und gestrahlt. Aber sie hat lange nicht geredet. Die
       psychiatrischen Gutachten aus der Zeit sind ja nicht ernst zu nehmen.
       "Idiotisch" heißt es da über sie. Ich nehme an, dass sie ein autistisches
       Kind war.
       
       Warum haben Ihre Eltern Irma in eine Anstalt gegeben? 
       
       Aus der Krankenakte habe ich erfahren, dass uns eine Nachbarin bei der
       Familienfürsorge denunziert hat. Sie hat gemeldet, dass es bei uns ein
       behindertes Kind gibt. Inzwischen war das "Gesetz zur Verhütung erbkranken
       Nachwuchses" verabschiedet worden. Im Dezember 1933, kurz vor ihrem 4.
       Geburtstag, ist Irma dann nach Alsterdorf gekommen.
       
       Wie lebte Ihre Familie? 
       
       Wir haben in Barmbek gewohnt. Meine Mutter hat uns Opernarien vorgesungen
       und sie hat uns immer gute Jugendbücher aus der Bücherhalle ausgeliehen.
       Mein Vater war Angestellter. Im Mai 1933 wurde er von der Staatspolizei
       abgeholt, weil er dem Antifaschistischen Kampfbund angehörte. Als er aus
       der Haft entlassen wurde, war er arbeitslos. Und das mit neun Kindern. Wir
       waren richtig arm, aber wir waren eine Familie, die auch gegenüber so
       genannten Autoritäten den Mund aufmachte.
       
       Haben sie Kontakt zu anderen Angehörigen von Euthanasie-Opfern? 
       
       Wir treffen uns seit 1996 jedes Jahr auf dem Gelände der Alsterdorfer
       Anstalten. Da gibt es dann einen Gottesdienst und eine Kranzniederlegung am
       Gedenkstein für die aus Hamburg deportierten Euthanasie-Opfer. Es kommen
       aber nicht viele Angehörige, denn das Thema ist immer noch ein Tabu. Man
       spricht nicht darüber, dass es in der eigenen Familie einen Menschen mit
       einer psychischen Erkrankung gegeben hat.
       
       24 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tina Stadlmayer
 (DIR) Hedwig Gafga
       
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 (DIR) Doktor Mengele
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
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