# taz.de -- Die Zukunft der Musikkritik IV: System ohne Eigenschaften
       
       > Die Popkritik der Gegenwart gehört auf die Couch. Ihre Schwäche
       > resultiert aus ihrer schizophrenen Selbstwahrnehmung. Denn nur das eigene
       > Ego ist richtig wichtig.
       
 (IMG) Bild: Unter Musikkritiker gilt allzu oft: Ego statt Inhalt.
       
       Popkritik krankt an ihrer Unentschlossenheit. Sie kann sich nicht
       entscheiden, ob der Kritiker im Mittelpunkt des Interesses steht, oder die
       Popmusik. In den letzten 15 Jahren ging die Entwicklung dahin, die
       Bedeutung des Popkritiker-Subjektes höher einzuschätzen als die Bedeutung
       der Musik.
       
       Der Grund liegt im Ensemble-Charakter der Popkritik, die sich selbst als
       autopoetisches System begreift: Ein autonomes System mit
       Zusatzeigenschaften - wobei die Zusatzeigenschaft die Musikkritik ist. Erst
       wenn diese Zusatzeigenschaft wieder zur eigentliche Eigenschaft wird, kommt
       die Popkritik aus ihrer Krise.
       
       Während in den 80er Jahren Pop noch ein subversives Konzept war und
       dementsprechend sozialkritische Theorien einbezog, gewann Mitte der 90er
       Jahre mit der Systemtheorie ein Überbau an Bedeutung, der beobachtete und
       nicht mehr kritisierte. Mit anderen Worten: Mit dem Schwinden der Popmusik
       als widerständigem Medium - Medium wohlgemerkt und nicht Format - wurde die
       Nabelschau zur Kunst erhoben.
       
       Momentan eiert die Kritik zwischen kritischer Theorie (Adorno, Cultural
       Studies) und Systemtheorie herum, also zwischen der Idee, Kunst - sprich
       Popmusik - als politisch und erkenntnisfördernd zu begreifen und dem, sich
       selbst zu thematisieren und darüber nachzudenken, wo man denn als Kritiker
       bzw. prekäres Künstlersubjekt steht. Herumeiern passt zum Problem: Die
       Popkritik hat momentan keine Eier.
       
       Was sie jedoch nicht davon abhält, sich in internen Scharmützeln noch mehr
       zu entkräften. Zwei Positionen existieren. Die eine hält daran fest, dass
       es etwas gibt, das über die Immanenz dessen, was vorliegt, hinausreicht.
       Nennen wir sie die agnostische Popkritik. Und es gibt die, die penible
       Auslegearbeit leistet, da sie glaubt, dass außerhalb des Textes nichts
       existiert. Nennen wir sie die kabbalistische Popkritik.
       
       Agnostiker richten sich aus, Kabbalisten richten sich ein. Wer es lieber in
       popkulturellen Termini hat: Die agnostische Kritik entspricht dem Punk, die
       kabbalistische ist von ihrem Wesen her hippiesk.
       
       Agnostiker arbeiten mit der Setzung, sprich der Behauptung, als Strategie
       im Text, Kabbalisten mit der Differenz. Die Punk-Popkritik unterschreibt,
       so wie einst Diedrich Diederichsen mit Stalin Stalinsen, die Hippie-Kritik
       fordert, "Gesten der Souveränität" zu unterlassen, nicht ohne sie
       unauffällig im Text unterzubringen.
       
       Erst mit dem "Zeigen auf sich selbst", das Zeit-Autor Thomas Groß in seinem
       Text "Das Ende der Bescheidwisser" als notwendigen Bestandteil des "Zeigens
       auf die Dinge" und einer "Geschmacksbildung auf Augenhöhe" ansieht, kommt
       die Distinktion und damit das Problem hip oder nicht-hip ins Spiel, das
       Hannah Pilarczyk letzte Woche in der taz angesprochen hat. Insofern
       verstehe ich den Leser auf taz.de, der "Thema verfehlt" unter den Artikel
       geschrieben hat. Hipness ist ein Nebenschauplatz, aber nicht die
       eigentliche Baustelle. Dennoch glaube ich, dass die Autorin mit dieser
       Bemerkung den Finger auf die Wunde gelegt hat - und zwar auf die Wunde
       Popkritiker-Ego. Aus der subbt es gewaltig. Im Diskurs über Pop ist die
       Sucht nach Hipness eine Dekadenzerscheinung und nicht dessen Wesen und
       damit letztlich das Ergebnis einer absurden Selbstbezüglichkeit. Die
       wiederum ein Überbleibsel eines Kölner Provinzialismus ist. Nichts ist
       schlimmer als Klamotten zu tragen, in die man erst noch hineinwachsen muss.
       Anders ausgedrückt: Wenn die Popkritik des 21. Jahrhunderts wirklich den
       Fokus auf das eigene Ego lenken will und nicht auf die Musik, dann muss sie
       auch was zu bieten haben. In diesem Falle würde also gelten: Kein Dispens!
       
       Wie könnte diese betont undemütige Popkritik aussehen? Sie würde wieder
       Haltung zeigen und vielleicht sogar mehr als das: Zivilcourage. Sie würde
       wieder etwas riskieren und zum Widerspruch reizende Behauptungen in den
       Raum stellen. Sie würde aufhören, immer von Demut zu schwätzen und vom
       Kochen. Sie würde wieder so inspirierend und sophisticated sein, dass man
       sie in dem, was sie sagt und wie sie es sagt, als kritische Stimme ernst
       nehmen kann. Sie würde, wie Wolfgang Frömberg zu Beginn der Debatte richtig
       erkannt hat, das eigene Ego nutzen, um zu formulieren und nicht, um sich zu
       formieren.
       
       Kurz: Sie würde aufhören, zu kuschen. Darüber hinaus würde sie, und hier
       greife ich Jörg Sundermeier auf, erkennen, dass der Wunsch, den Lesern zu
       gefallen, Kritik zu einer Ware umfunktioniert. Kritik ist aber keine
       Barilla-Nudel, sie soll nicht lecker schmecken, sondern ein Bewusstsein
       schaffen und sensibilisieren. Allerdings gibt es zu diesem Personenkult,
       diesem Regietheater der Popkritik, eine reizvolle Alternative: Eine
       Popkritik, die das zu Kritisierende wieder in den Mittelpunkt stellt. Auch
       das ist möglich: Geht in euch, Kollegen, erkennt, dass Popmusik immer noch
       subversive Elemente hat, entwickelt einen neuen Überbau und interessiert
       euch endlich wieder für Musik zur Zeit.
       
       ***
       
       Dieser Text ist für Sie kostenlos verfügbar. Dennoch wurde er nicht ohne
       Kosten hergestellt! Wenn Ihnen der Text gefallen hat, würden wir uns
       freuen, wenn Sie der taz dafür einen kleinen Betrag bezahlen. Das können
       wenige Cent sein - wir überlassen es Ihnen. 
       
       Für unabhängigen Journalismus: taz-Konto 39316106 | BLZ: 10010010 |
       Postbank Berlin - Verwendungszweck "taz.de".
       
       23 Apr 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadja Geer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik VIII: Mehr als der Facebook-Daumen
       
       Blogs können für die Musikkritik das werden, was Punk für den Pop war: die
       Aufhebung der Schranken zwischen LeserInnen und SchreiberInnen.
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik VI: Für eine Radikalisierung
       
       Unsere Autorin unterrichtet "Popkultur" an Universitäten. Und stellt fest:
       Pop ist mittlerweile das Allgemeine und muss nicht mehr durch Gatekeeper
       erklärt werden.
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik V: Neue Textformate entwickeln
       
       Wozu noch Popkritik, wenn man sich bei last.fm und Co "selbst ein Urteil
       bilden" kann? Mögliche Lösung: Verknüpfungen, Analysen, lange, gut
       recherchierte Artikel. Wer wird das bezahlen?
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik III: Der Hass auf weiße Hipster
       
       Weil Musikkritiker im Netz ihre Vorreiterrolle verloren haben, wollen sie
       gleich ihre ganze Zunft begraben. Dabei gibt es wichtige Fragen zu klären.
       Teil 3 unserer Debatte.
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik II: Geschmäcklerischer Schmu
       
       Können Plattenrezensionen unabhängig von Erscheinungsterminen und Anzeigen
       sein? Ist die Popkritik zum geschmäcklerischen Schmu verkommen? Der Debatte
       zweiter Teil.
       
 (DIR) Die Zukunft der Musikkritik: Acht Stunden sind kein Tag
       
       Seit das Magazin "Spex" seine Albenrezensionen abgeschafft hat, ist die
       Debatte über den Zustand der Popkritik neu entbrannt. Sie zeigt, die Kritik
       lebt noch.