# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Die Kneipenwirtin: Die russische Kiez-Seele
       
       > Marina Kremlevskajas "Bechereck" ist eine der vielen Eckkneipen des
       > Schillerkiezes. Hier gibt es rund um die Uhr Bier und Kurze - und Gäste,
       > die sagen: "Sie hätten uns den Flughafen lassen sollen".
       
 (IMG) Bild: Marina Kremlevskajas vor dem "Bechereck"
       
       "Meine Seele liegt in dieser Kneipe." Zwischen den Worten bläst Marina
       Kremlevskaja den Rauch ihrer Zigarette in das Halbdunkel des "Becherecks".
       Die 39-jährige Russin ist Chefin der rund um die Uhr geöffneten Kneipe, in
       der Tageszeiten keine Rolle spielen. Alte Zimmerpflanzen auf den
       Fenstersimsen verstellen der Mittagssonne den Weg ins verrauchte Innere,
       das Morgengedeck vieler Gäste ist das gleiche wie am Abend: ein Bier, ein
       Kurzer.
       
       Marina Kremlevskaja spielt mit Gästen "Mensch ärgere dich nicht", ein
       Dutzend Männer und zwei Frauen sitzen rund um den Tresen. Einige verbringen
       in Blaumännern hier ihre Mittagspause, bei anderen ist die Frühschicht
       gerade vorbei, und ein paar arbeiten schon längst nicht mehr.
       
       Die Gesprächsfetzen der Gäste verraten sofort, wo man ist. "Die hätten uns
       den Flughafen lassen sollen, wenigstens für Rettungshubschrauber und
       Bundesfutzis", sagt ein Stammgast. Darauf sein Tresen-Nachbar: "Na
       wenigstens bleibt die Wetterstation stehen, aber für einen Park ist der
       Boden viel zu sehr mit Kerosin getränkt." "Na dass du auf nem ehemaligen
       Flughafen keene Petersilie pflanzen kannst, ist och klar", entgegnet der
       andere.
       
       Kremlevskaja hat das "Bechereck" vor fünf Jahren übernommen. "Die haben mir
       hier die Autoreifen aufgestochen, nur weil ich Ausländerin bin", erzählt
       die blonde Wirtin über ihre Anfangszeit. Doch die kleine, resolute
       Kneipenfrau hat gelernt, sich durchzusetzen, und hat aus dem alten
       Stammpublikum inzwischen eine Art Familie gemacht, die sie mit
       selbstgemachter Gulaschsuppe verwöhnt und bei "doofen Sprüchen" auch mal
       mit Hausverboten bestraft. Pragmatisch spricht Marina Kremslevskaja über
       ihr Leben im Kiez: So richtig gehöre sie nicht hierher, eigentlich liebe
       sie Friedrichshain, wo sie gern ausgehe.
       
       "Aber ich gehe dahin, wo Arbeit ist, und wenn dich der Tresen einmal
       reingezogen hat, lässt er dich nicht wieder los", sagt die Wirtin, die sich
       eigentlich ein Leben als Designerin erträumt hatte. In St. Petersburg hat
       sie Design studiert und in einer eigenen Werbeagentur Plakate für Banken
       und Unternehmen entworfen. "In den 90er-Jahren wusste niemand, wo es mit
       Russland hingeht. Die wirtschaftliche Situation war mir zu unsicher",
       erklärt sie ihren Weggang aus der Heimat. Gemeinsam mit ihrer kleinen
       Tochter, der Mutter und der Schwester kam sie 1996 über ein
       Immigrationsprogramm für Juden nach Deutschland. Ihr Plan, hier noch einmal
       an einer Kunst- oder Designschule zu studieren, scheiterte am Geld, als
       Alleinerziehende konnte sie das Studium nicht finanzieren. "Meine Kunst
       lebe ich nun hier aus", sagt sie und zeigt über den Tresen. Dort hängen
       große Kästen mit Collagen aus Flohmarktgeschirr, russischen Holzlöffeln,
       und auch Matroschkas, die russischen Steckpuppen, fehlen nicht.
       
       Kremlevskaja ist nicht der Typ, der verlorenen Chancen nachtrauert. Sie
       stecke ihre Kraft und Seele in das, was ist, und das ist die Kneipe und
       deren Menschen. Punkt. "Die Leute leben mein Leben mit und ich ihres." Sie
       geht mit den Gästen Pilze suchen, organisiert Picknicke im Umland, im
       Winter läuft die Kneipencrew Schlittschuhe. Für einen muslimischen Gast hat
       sie ein Opferfest mit echter Ziege zum Schlachten organisiert, für eine
       alzheimerkranke Frau malte sie zum 80. Geburtstag deren Hund, da er der
       Einzige ist, den die alte Frau noch erkennt. Im Gegenzug helfen ihr die
       Gäste.
       
       Im Februar ist die Laube ihres Kleingartens hinter dem Estrel-Hotel wegen
       eines falsch eingebauten Kamins abgebrannt. Mit den Gästen zusammen hat sie
       das Haus wiederaufgebaut, der eine hat ihr Geld geliehen, weil die
       Versicherung nicht zahlte, der andere Elektroleitungen verlegt, Freundinnen
       haben sie hinter dem Tresen vertreten.
       
       Doch für ihre 20-jährige Tochter wünscht sie sich ein anderes Leben und
       deshalb hat die Kneipenverbot: "Sie soll mit der Branche nichts zu tun
       haben und was Richtiges lernen", sagt die Mutter. Die Tochter wird
       Innenarchitektur studieren. Einmal im Jahr fliegt die Wirtin mit ihr oder
       allein in die alte Heimat und kommt dort zu dem, wofür sie in Berlin keine
       Zeit hat: "Ich gehe dort Tag und Nacht am Fluss spazieren und in die Museen
       und Theater." Mit ihren jüdischen Wurzeln hat sich die Russin erst in
       Deutschland auseinandergesetzt, dreimal war sie jetzt schon in Israel. "Ich
       bin nicht wirklich religiös, aber die Bibelgeschichte interessiert mich",
       sagt sie.
       
       Die Flugfeld-Öffnung am 8. Mai werden Marina Kremlevskaja und ihre
       "Bechereck"-Familie nicht mitfeiern, denn an dem Tag wird auch die neue
       Laube eingeweiht. Die Wirtin hat sich über die Schließung des Flughafens
       gefreut, aber am Eröffnungstag des Parks würde ihre Kneipe eh nur als
       Toilette genutzt werden. Deshalb stellt das "Bechereck" seinen
       Rund-um-die-Uhr-Betrieb ausnahmsweise für einen Tag ein. KATHLEEN FIETZ 
       
       hier die Autoreifen aufgestochen, nur weil ich Ausländerin bin" -->
       
       4 May 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kathleen Fietz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Schillerkiez in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) TAZ-SERIE SCHILLERKIEZ: Die Hauswartin: "Oma" packts an
       
       Irmgard Rakowsky, 77, wohnt seit 20 Jahren im Kiez. Sie stand in Kneipen
       hinterm Tresen und arbeitete die Schulden ihres Mannes ab. Dabei wollte die
       frühere Wilmersdorferin eigentlich nie hierher.
       
 (DIR) taz-Serie Schillerkiez: Die Mietentwicklung: Makler entdecken das Viertel
       
       Lange wollte keiner hin, die Mieten waren niedrig. Jetzt wird vielerorts
       saniert, Immobilien werden verkauft. Wie das Haus in der Lichtenrader
       Straße, aus dem die Bewohner rausgeklagt werden.
       
 (DIR) taz-Serie Schillerkiez: Der Musiker: "Der Professor" trifft den Kiezton
       
       Nach Neukölln hat Michael Betzner-Brandt nichts gezogen. Bis er den
       Schillerkiez entdeckte. Für seine alteingesessenen Nachbarn hat der
       38-jährige Unidozent jetzt einen Seniorenchor gegründet.
       
 (DIR) taz-Serie Schillerkiez: Die Gospelsängerin: Tante Nana lobt den Herrn
       
       Nana Appia-Kubi arbeitet als Sekretärin einer afrikanischen Pfingst- und
       Gospelgemeinde. Sie ist Teil der regen Black Community im Viertel - und
       will doch irgendwann zurück nach Ghana.
       
 (DIR) taz-Serie Schillerkiez: Stadtteilführung: Mit Dackel Dagmar unterwegs
       
       Ingrid Brügge und ihr Dackel sind ein eingespieltes Team. Gemeinsam zeigen
       sie Hundebesitzern und Zugezogenen ihr Viertel - in dem Hunde ebenso
       zahlreich wie ungeliebt sind
       
 (DIR) taz-Serie Schillerkiez: Erster Teil: Ein Stadtviertel vor dem Abheben
       
       Die Öffnung des Tempelhofer Flugfeldes als Park wertet den angrenzenden
       Schillerkiez auf. Bisher gilt er als Problemviertel mit hoher
       Arbeitslosigkeit. Nicht alle Anwohner freuen sich über die Entwicklung.