# taz.de -- Reportage aus Kirgisien: Die Flüchtlinge von Osch
       
       > Mehrere tausend Menschen sind an die Grenze zu Usbekistan geflohen.
       > Humanitäre Hilfe ist bislang kaum zu ihnen durchgedrungen.Die
       > Überlebenden in Osch haben sich verschanzt. Dort herrscht vorerst Ruhe.
       
 (IMG) Bild: Flüchtlinge an der Grenze zu Usbekistan.
       
       OSCH taz | Betonplatten versperren den Weg in die Sicherheit. Hinter
       Stacheldraht stehen die behelmten usbekischen Grenzsoldaten, die
       Maschinenpistole in der Hand. Auf kirgisischer Seite warten fünfzig
       usbekische Frauen mit ängstlichen Gesichtern. Sie sind aus dem brennenden
       Osch in das Gebiet an der Grenze zu Usbekistan geflüchtet. "Sie haben
       meinen Mann getötet, das Haus ist weg, alles ist verbrannt", schreit eine
       ältere Frau und rauft ihr Haar.
       
       Ab Donnerstagnacht vergangener Woche wütete vier Tage lang eine Pogromwelle
       erst in Osch und danach in Dschalalabad, zwei Städten in Südkirgisien. Hier
       leben hauptsächlich ethnische Usbeken. Ungehindert von kirgisischen
       Sicherheitskräften - und teilweise sogar von ihnen unterstützt - zogen
       marodierende bewaffnete junge Kirgisen durch die usbekischen Viertel.
       Scharfschützen von den Dächern und den nahegelegenen Hügeln töteten gezielt
       Menschen. Erst Montagabend kehrte eine trügerische Ruhe in beiden Städten
       ein. Mehrere tausend Menschen sind zur Grenze geflohen.
       
       Alle Zufahrtswege von Osch zu den usbekischen Ansiedlungen sind mit
       Barrikaden aus Lastwagen und Containern versperrt. Die usbekischen Gehöfte
       in unmittelbare Grenznähe sind auf die Orte WLKSM, Nariman und Stalin
       verteilt. Auf ihren Mauern und den Asphaltstraßen prangt in großen Lettern
       das Wort "SOS".
       
       Die kirgisischen Marodeure sind nicht bis an die usbekische Grenze
       vorgedrungen. Im Grenzgebiet leben nun vor allem usbekische Frauen und
       Kinder, die aus Osch entkommen konnten. Nach langem Zögern öffnete
       Usbekistan die Grenzen und nahm bis zu 70.000 Menschen aus Südkirgisien
       auf. Da die Kapazitäten eigentlich erschöpft sind, schließt Usbekistan
       immer wieder die Grenze. Deswegen haben sich in dem Grenzstreifen nun
       kleine Flüchtlingslager aus Zelten und Baracken gebildet. Das Örtchen WLKSM
       trägt eine Abkürzung aus sowjetischen Zeiten und bedeutet aufgeschlüsselt
       "Allsowjetische leninistische kommunistische sozialistische Jugend".
       
       "Wir haben hier um die 8.000 Flüchtlinge, meist Frauen und Kinder", sagt
       eine 29-jährige Usbekin, die spontan die Organisation des wilden
       Flüchtlingslagers übernommen hat. Die unverheiratete Frau will ihren Namen
       nicht veröffentlicht sehen, sie heißt hier Gulnara und spricht Deutsch.
       Gulnara war zur Trauerfeier ihres verstorbenen Vaters nach Osch gekommen,
       sonst lebt sie in Hannover, wo sie gerade an ihrer Diplomarbeit über
       "Staatshilfe bei systemrelevanten Banken" schreibt. Gulnara wurde von den
       Unruhen überrascht und flüchtete wie viele andere zur Grenze. "Bisher ist
       praktisch keine internationale Hilfe durchgekommen", sagt Gulnara, "wir
       leben von der Hilfe, die die Einheimischen zur Verfügung stellen oder die
       aus Usbekistan zu uns kommt."
       
       Wer es nicht zur Grenze geschafft hat, hat sich in Osch verschanzt. Die in
       aller Eile umgehauenen Platanen blockieren mit Stamm und Strauchwerk die
       Zufahrtsstraße zu der usbekischen Mahalla - Usbekisch für Wohnviertel, auf
       Kirgisisch Dscherjömuka. Links und rechts des bergauf führenden Asphaltwegs
       sind die Häuser und Gehöfte systematisch niedergebrannt worden, Stahltore
       wurden aus den Angeln gehoben, die Dächer sind eingefallen und die Fenster
       rußverschmiert. Die brüchigen Mauern zieren vulgäre Schmähschriften. Nur
       die Häuser, auf denen der Schriftzug "KG" oder auf Kyrillisch "Kirgise"
       gepinselt wurde, sind meist unbeschadet, auch wenn das rettende Wort nicht
       jedes Geschäft oder Wohnhaus vor der Zerstörung bewahren konnte.
       
       Ein kirgisische Anwohnerin, die mit ihrem Mann durch die Trümmerlandschaft
       kurz vor Einsetzen der Sperrstunde um 18 Uhr spaziert, erklärt, dass Fremde
       nachts die Häuser der Kirgisen gekennzeichnet hätten.
       
       Die Kirgisen in Osch beschuldigen lautstark die Usbeken, mit dem Morden
       angefangen zu haben. "Alle bedauern die Usbeken, obwohl die doch die Ersten
       waren", zeterte eine Kirgisin gleich am Flughafen. Im Provinzkrankenhaus
       liegen ungefähr 300 Verletzte, die meisten von ihnen sind Kirgisen, und
       erst auf Nachfrage zeigt der diensthabende Arzt einen angeschossenen Mann,
       der sich als Usbeke ausgibt, aber ebenfalls kirgisische Züge trägt. Auch
       eine kirgisische Ärztin ermahnt, nicht einseitig zu berichten.
       
       Die kirgisische Sicht der Dinge lautet wie folgt: Eine Bande bewaffneter
       Usbeken hätte Donnerstagnacht in die Menge geschossen, Geschäfte
       geplündert, ein Mädchenwohnheim gestürmt und dort Kirgisinnen vergewaltigt.
       Die Kirgisen hätten sich nur gewehrt, da ihr Stolz stark verletzt geworden
       sei, und deshalb wären auch Kirgisen aus der Provinz nach Osch geeilt.
       
       Doch bei Fahrten durch die Stadt fällt auf, dass vor allem usbekische
       Viertel und Geschäfte gebrandschatzt wurden. Osch ist immer eine lebendige
       Stadt gewesen, eine Art zentralasiatisches Casablanca. Voller Widersprüche,
       Flüchtlinge und Geheimagenten, arm und reich, ein wenig anarchisch, aber
       dafür lebendig. Geschäfte, Restaurants, Grillstuben und Teehäuser reihten
       sich aneinander. Hier lebten Usbeken, die nicht wie im kirgisischen
       Nachbarstaat Usbekistan von einer Despotie gegängelt werden wollten. Nun
       wirkt die Stadt wie eine zerstörte Kulisse.
       
       Die Zerstörungswut der Kirgisen machte kurz vor der Moschee von Dscherjömuk
       Halt. Vor allem usbekischstämmige Männer und einige wenige Frauen stehen am
       Mittwochabend an der letzten Baumbarrikade unweit der Moschee. Hinter dem
       Minarett zeichnet sich der heilige Berg Suliman von Osch ab. Er gilt den
       sunnitischen Muslimen als Pilgerstätte, aber auch auf den Anhöhen des
       heiligen Berges hätten Scharfschützen gelegen, erzählen die Anwesenden.
       
       Selbstverteidigung 
       
       Die wütenden Plünderer seien bis auf 100 Meter herangekommen und
       Panzerwagen der kirgisischen Sicherheitstruppen hätten sie unterstützt,
       aber die letzte Verteidigungslinie der usbekischen Viertel am Fuße des
       heiligen Berges sei nicht gefallen. "Wir hatten keine richtigen Waffen, nur
       gefüllte Benzinflaschen, Eisenstangen, Knüppel", sagt ein drahtiger Usbeke,
       "und dies hier." Er zieht eine Klinge aus dem Ärmel hervor. Kein
       kirgisischer Polizist oder Soldat lässt sich seither auf dem Hügel der
       usbekischen Viertel blicken.
       
       Viele Usbeken, die nicht zur Grenze flüchten konnten, haben auf dem Hügel
       Zuflucht gesucht. Die Nahrungsmittel gehen zur Neige, und nach Aussage der
       Usbeken lassen die Kirgisen keine Güter der anlaufenden humanitären Hilfe
       in das Usbekenviertel. Durch verwinkelte Gassen führt der Weg zu einer
       prächtigen mehrstöckigen Moschee, an die Pferdestallungen und ein
       weitläufiger Park angrenzen. Hierhin haben die Usbeken der Mahalla die
       Frauen, Kinder und Verwundeten gebracht.
       
       Die Anlage ist voller weinender Frauen, die ihre Männer, Kinder, Wohnungen
       verloren haben. Auf schmutzigen Matratzen liegen Verwundete mit schweren
       Verbrennungen und Schusswunden.
       
       In einem kleinen Seitenraum hat der Psychiater Gulan Karimow ein
       notdürftiges Feldlazarett eingerichtet. Der 40-jährige Usbeke behandelt
       gemeinsam mit zwei Jungärzten am laufenden Band Schuss- und
       Stichverletzungen, Vergewaltigungswunden sowie Verbrennungen.
       
       Ausstattung haben sie keine, denn es gab keine Zeit mehr, sich in den
       Krankenhäusern der Umgebung mit dem Notdürftigsten zu versorgen. Der blaue
       Kittel und das Stethoskop haben ein paar Ärzte aus der Muhalla
       vorbeigebracht, die notwendigen Medikamente stellten die Apotheker des
       Viertels. "Ich habe so schreckliche Wunden gesehen, es ist so furchtbar,
       was die Menschen sich hier antun", sagt Karimow und plötzlich beginnt zu
       weinen. Schnell nestelt er eine Zigarette aus der Tasche. Erst vor zwei
       Tagen wäre zum ersten Mal ein Wagen des Roten Kreuzes durchgekommen.
       
       Auch wenn in Osch ein wenig Ruhe eingekehrt ist, so bestimmt das schlechte
       Verhältnis zwischen Usbeken und Kirgisen die Stadt. Im Stadtzentrum, am
       Lenin-Denkmal vor dem Gouverneurspalast, versucht die Administrative
       notdürftig, das kommunale Leben zu organisieren, aber im Verwaltungszentrum
       sind nur Kirgisen zu sehen. In die noch existenten usbekischen Viertel
       traut sich kein Kirgise. Nur Einwohner einer anderen Nationalität können
       die Grenzen gefahrlos übertreten.
       
       18 Jun 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marcus Bensmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Sicherheitslage in Kirgisien: Jagd auf Usbeken
       
       Außenminister Westerwelle besucht Kirgisien und Usbekistan. Nach den
       Unruhen im Süden geht der Terror kirgisischer Sicherheitskräfte gegen
       Angehörige der usbekischen Minderheit dort weiter.
       
 (DIR) Krise in Kirgisien: Die Präsidentin fühlt sich sicher
       
       Der Süden des Landes ist im Chaos versunken, doch Präsidentin Otunbajewa
       gibt sich selbstbewusst. Auch auf eine internationale Friedenstruppe will
       sie nun verzichten.
       
 (DIR) Krise in Kirgisien: Das russische Dilemma
       
       Der Kreml zögert mit der Entsendung von Truppen. Die Voraussetzungen für
       eine russische Friedensmission seien noch nicht gegeben.
       
 (DIR) Beate Eschment über Kirgisien: "Die Unruhen sind initiiert worden"
       
       Die Gefahr einer Spaltung Kirgisiens ist groß, sagt die
       Zentralasienexpertin Beate Eschment. Die Interimsregierung sei schwach.
       
 (DIR) Gewalt in Kirgisien: "Usbeken haben um Hilfe gefleht"
       
       Es gibt deutliche Hinweise, dass in der Stadt Osch gezielt Usbeken verfolgt
       werden, sagt Menschenrechtlerin Andrea Berg. Sie fordert eine
       internationale Schutztruppe unter Führung der UNO.