# taz.de -- Afghanistan-Krieg: Holland geht
> Am Sonntag beginnen die Niederländer mit dem Abzug ihrer Truppen.
> Verfrüht, meinen Militärs und zivile Helfer vor Ort. Ihr Abzug könnte das
> Ende moderater Fortschritte bedeuten.
(IMG) Bild: Bei der nächsten WM können sie längst zu Hause jubeln: niederländische Soldaten in Afghanistan feiern ihr Fußball-Team.
TARINKOT/KABUL taz | Matiullah ist der wichtigste Mann in der
südafghanischen Provinz Urusgan. Und er ist der ungekrönte König der
Straße. Genauer: der strategisch wichtigen, aber gefährlichen Route von der
Provinzhauptstadt Tarinkot nach Kandahar. Einigermaßen sicher zu passieren
ist diese nur am "Konvoi-Tag", den der hochgewachsene, charismatische Mann
mit spitzbübischem Lachen ein- bis zweimal die Woche organisiert.
Von dessen Männern bewacht quälen sich dann Lkws über die ungepflasterte
Piste und transportieren Passagiere und Güter. Matiullahs größte Kunden:
die Nato-Truppen in der Provinz. 2.000 bis 3.000 Dollar pro Truck zahlen
ihm das niederländische Provinzwiederaufbauteam (PRT) im "Kamp Holland" von
Tarinkot, die Australier in demselben Camp und die in der Nähe
stationierten US-Special Forces für den Transport von Wasser oder
Treibstoff.
Keine Frage, Matiullah, den die niederländischen Soldaten und Diplomaten
nur "M" nennen, ist einflussreicher als der Gouverneur oder der
Polizeichef. Seine Macht wächst und wächst, etwa 2.000 Mann hat er derzeit
unter seinem Befehl. Und seine Geschäfte mit der Nato machen ihn immer
reicher.
An M scheiden sich die Geister in Urusgan. Umstritten ist er nicht unter
den Einheimischen, auch die US-amerikanischen und die niederländischen
Militärs pflegen einen höchst unterschiedlichen Umgang mit ihm, der
beispielhaft zeigt, wie sehr die Nato in Wirklichkeit von der viel
zitierten "einheitlichen Strategie" entfernt ist.
Die Niederländer sind, jedenfalls noch bis zu ihrem Abzug, der am Sonntag
beginnt, "Führungsnation" in der Provinz. Seit sie im Jahr 2006 diese
Aufgabe übernommen hatten, haben sie versucht, eine Politik des Ausgleichs
zu betreiben - und die Auswirkungen der Operationen zu lindern, die die
Special Forces hier angerichtet haben.
Diese waren schon seit 2001 in der Provinz und halfen dem damaligen
Stammesführer Hamid Karsai bei seinem kleinen Aufstand gegen die Taliban,
der ihn für das Präsidentenamt in Kabul qualifizieren sollte. Am Ende waren
es US-Kommandos, die ihn vor den Taliban retteten.
Nach dem Sturz der Taliban wurde Ms Verwandter Dschan Mohammed Gouverneur
der Provinz. Seinen Kollegen im benachbarten Helmand und Kandahar ähnelnd,
nutzte er das Amt allein zum eigenen Vorteil und dem seiner Klientel, den
Popalsai-Paschtunen, zu denen auch der Präsident gehört. Stark wurde er
durch seine engen Verbindungen zu Karsai und zu den Special Forces, die
gerade in der Anfangszeit auf Bestellung verhafteten oder töteten, weil sie
blind auf die Informationen ihrer regionalen Verbündeten vertrauten.
Viele der ausgeschlossenen Stämme und Clans, abgestoßen von einem unfairen
Gouverneur und der rapide um sich greifenden Korruption, wehrten sich mit
Waffengewalt, ein Stammeskrieg war die Folge.
Noch bevor sie ihre Aufgabe in Urusgan übernahmen, bewegten die
Niederländer Karsai dazu, Dschan Mohammed zu entlassen. Ihnen war klar,
dass eine Befriedung der Provinz mit ihm als Gouverneur nicht möglich war.
Viele Urusganer dankten es ihnen. Aber eines gelang ihnen nicht: zusammen
mit Dschan Mohammeds auch dessen rechte Hand, nämlich Matiullah, zu
entmachten.
Nach der Absetzung des Gouverneurs verwandelte der seine Kämpfer kurzerhand
in eine private Sicherheitsfirma. Während die Niederländer im Folgenden
zumindest jeden offiziellen Kontakt mit ihm vermieden, um die schwache
örtliche Regierung nicht weiter zu beschädigen, besuchten US-Soldaten ihn
fast täglich. Und sie rüsteten Matiullahs Miliz mit Jeeps, Generatoren und
Satellitentelefonen aus und ließen ihn einen Privatkrieg führen - auch
gegen Leute, die die Niederländer für versöhnlich hielten. Immerhin konnten
die Niederländer verhindern, dass M entsprechend dem Wunsch der Amerikaner
zum Polizeichef ernannt wurde. Im Sommer 2009 wurde der Konflikt um M sogar
halb öffentlich ausgetragen, als die Niederländer Matiullah verdächtigten,
für einen Überfall auf einen ihrer Nachschubkonvois verantwortlich zu sein.
Schon zuvor hatten sie vermutet, dass M manche Attacken nur vortäuschte, um
im Sicherheitsgeschäft zu bleiben und seinen Preis hochzuhalten, während
die Amerikaner ihren Günstling gegen diese Anschuldigungen verteidigten.
Matiullah steht für jene halblegalen, bewaffneten und korrupten Strukturen,
mit deren Hilfe die USA kurzfristige Stabilität herzustellen versuchen,
ohne die grundlegenden Ursache der Instabilität zu lösen. Genau darum
bemühten sich die Niederländer. Ihnen gelang es, die Führer jener von
Dschan Mohammed und Matiullah ausgegrenzten Stämme Urusgans schrittweise
zurückzuholen, indem sie sie nicht als militärische Ziele behandelten.
Obwohl sie sich in Pakistan den Taliban angeschlossen hatten, garantierten
ihnen die Niederländer, sie deswegen nicht zu behelligen.
Da die meisten Urusganer diese Vorgehensweise befürworteten, gab es trotz
vergleichbar geringen niederländischen Mitteleinsatzes einen moderaten
Fortschritt in der Provinz. Sie gehört nicht zu den Hauptkampfgebieten
Afghanistans. Die stärker besiedelten Gebiete nahe der Provinzhauptstadt
wurden sicherer. In Tarinkot werden Polizisten ausgebildet, dutzende
Nichtregierungsorganisationen sind aktiv. Mit "Projekten unter dem Radar"
etablierten die Niederländer auch Kontakte in jene Teile Urusgans, die
unter Talibaneinfluss stehen.
Viele hochrangige niederländische Militärs und Zivilisten in Tarinkot sind
deshalb unzufrieden mit der politischen Entscheidung, Urusgan zu verlassen.
Sie halten den Rückzug für verfrüht. Niederländische Entwicklungshelfer in
Urusgan wie Lou Cuypers, die hilft, Safran zu produzieren, stimmen zu:
"Jetzt, da die Entwicklung beginnt Früchte zu tragen, beschließt unsere
Regierung abzuziehen. Das ist nicht besonders clever. Ich werde bleiben,
aber die Amerikaner haben hier einen ziemlich schlechten Ruf. Ich
befürchte, dass es hier gefährlicher werden wird."
Unterdessen versuchten die Leiter von Kamp Holland, ihre Strategie des
Fingerspitzengefühls ihren Nachfolgern, den Australiern und Amerikanern,
schmackhaft zu machen. Zwar klang der neue amerikanische Kommandant in
Urusgan, Oberst James Creighton, vorige Woche bei einem Interview sehr
niederländisch, als er das "Gleichgewicht zwischen den Stämmen" beschwor,
aber die Frage ist, was seine Truppen - und insbesondere die Special Forces
- tun werden.
Schon Vorauskommandos hatten Besuchern gern erzählt, in Urusgan würde ab
jetzt "in Ärsche getreten". Ein hoher niederländischer Offizier im Lager
bezweifelt, dass die Amerikaner "die Macht des Königs beschneiden" werden.
Der hat gerade den Vertrag dafür erhalten, auch auf der Straße von Kandahar
nach Kabul für Sicherheit zu sorgen.
Viele Urusganer rechnen deshalb mit einem Rückschlag, wenn die Niederländer
gehen. Nicht wegen der Taliban, sondern wegen eines ungebremsten Matiullah,
der sich wie der Präsidentenbruder Ahmed Wali Karsai im benachbarten
Kandahar endgültig zum örtlichen Despoten aufschwingen könnte. "Jeder, der
Matiullahs Vorstellungen ablehnt, wird verfolgt werden", sagt ein junger
Afghane in Tarinkot, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte,
weil er für die Amerikaner arbeitet, aber die Niederländer lobt. "Es wird
einen neuen Stammeskrieg geben", prophezeit er. Der Distriktchef im
benachbarten Tschora, ein typischer Verbündeter der Niederländer, sagt,
dass er nun Angst um sein Leben habe. "Vielleicht mögen die Amerikaner mich
ja. Aber die afghanische Verwaltung ist immer noch in Matiullahs Händen,
und die wollen mich töten."
Der sitzt derweil nonchalant mit seinen Besuchern im Gästezimmer seines
Hauses in Tarinkot an einem Tisch mit weißem Porzellan, einem Dutzend
Fotos, die ihn zusammen mit US-Soldaten zeigen, und Medaillen, die er von
ihnen erhalten habe. Er lädt seinen Zorn über die Stammesführer ab, die die
Niederländer aus dem Exil zurückgebracht haben. Es gehe nicht um
irgendwelche persönlichen Konflikte, sondern um Taliban, und die Holländer
seien Narren, ihn zu ignorieren, sagt er und fügt hinzu: "Wollen sie einen
anderen Stamm an die Macht bringen? Dann sollten sie wirklich besser nach
Hause gehen."
27 Jul 2010
## AUTOREN
(DIR) Bette Dam
(DIR) Thomas Ruttig
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