# taz.de -- Toy Story 3: Im Kindergarten des Aristoteles
       
       > Die Computernerds und Storyboard-Bastler von Pixar produzieren Wunderwerk
       > auf Wunderwerk. Bei Toy Story 3 wird's berührend, ohne kitschig zu sein.
       
 (IMG) Bild: Großbritannien-Premiere von Toy Story 3.
       
       Es ist inzwischen fast unglaublich (und bei aller Freude auch ein bisschen
       unheimlich), dass die Computernerds und Storyboard-Bastler der Firma Pixar
       schon wieder mit großer Leichtigkeit ein Meisterwerk hinbekommen haben.
       "Toy Story 3", der neue Film, ist wieder toll. Vielleicht nicht ganz so
       toll wie "Findet Nemo", "Wall-E" oder "Oben", aber immer noch echt toll,
       und die anderen Filme waren ja auch wirkliche Meilensteine, nach denen man
       immer regelmäßig dachte: Also, viel besser kann das jetzt gar nicht mehr
       werden.
       
       Elf Filme hat die Firma bislang produziert. Kein Film gleicht dem anderen.
       Und kein Ausfall war darunter. Jedes Mal haben sie es wieder hingekriegt,
       einem als Zuschauer von Anfang bis Ende des Kinobesuchs das Gefühl zu
       vermittelt, in einem zauberhaften, fantasievollen und originellen
       Animationsfilm zu sitzen. Es ist, als ob man das Staunen fabrikmäßig
       herstellen könnte.
       
       Kann sein, dass man, wenn man jetzt nach "Toy Story 3" aus dem Kino kommt
       und sich kopfschüttelnd fragt, wie die das wieder hingekriegt haben,
       zunächst über Rechnerleistungen nachdenken muss. Wenn man die unglaublich
       komplexen Schattenstrukturen bedenkt, die inzwischen computergeneriert auf
       die Leinwand gezaubert werden, die Nuanciertheit der Lichtreflexionen und
       der Spiegelungen in der Iris der einzelnen Figuren bei Großaufnahmen, dann
       kommt man nicht umhin zu konstatieren: Jedes einzelne Gigabyte
       Arbeitsspeicher mehr (oder wie immer man das jetzt misst) ist hier gut
       angelegt.
       
       Besser klauen als Tarantino 
       
       Außerdem gibt es bei Pixar ein detailliertes Wissen über das Universum der
       kollektiv geteilten Filmbilder. Immer wieder bauen sie Anspielungen und
       Variationen aus Kinoklassikern in ihre neuen Produktionen ein;
       wahrscheinlich klauen sie längst eleganter als Quentin Tarantino. Der
       Eindruck ist: Das sind echt Besessene. Und die Initialzündung für diese,
       die Maßstäbe immer weiter nach oben setzende Animationsfirma ereignete
       sich, als Computernerds und Filmnerds zusammentrafen.
       
       Die wirklich interessante Frage ist aber noch eine andere: Wie schaffen es
       die Pixar-Leute, dass man bei ihnen eben auch immer wieder vergisst, in
       einem Animationsfilm zu sitzen? Denn das tut man. Dass man es hier "nur"
       mit computeranimierten Bildern zu tun hat, spielt beim Gucken bald schlicht
       keine Rolle mehr. Man freut sich mit den Figuren, leidet mit, fürchtet sich
       mit. Und das hat, glaube ich, letztlich mit ganz anderen Dingen als mit der
       technischen Seite zu tun.
       
       Der erste Punkt: Pixar-Filme sind Hochleistungsspeicher für Empathie; man
       kann sich als Zuschauer in fast jedem Moment in die Filmfiguren einfühlen.
       Das ist die eigentliche Kunst, die Pixar beherrscht. Dabei geht es nicht
       nur darum, wie etwa in den Vorbereitungen für "Das große Krabbeln", mal mit
       einer Minikamera durchs Gras zu fahren, um sich in die Perspektive von
       Ameisen hineinzuversetzen. Viele Pixar-Figuren sind auch so etwas wie
       Experimente: Untersucht wird, wie weit man mimische Signale reduzieren kann
       und trotzdem noch eine große Bandbreite an Gefühlen ausdrücken.
       
       Die Computersonde Eve etwa, in die sich in "Wall-E" der einsame Müllroboter
       verliebt, besteht aus einer glatten weißen zylindrischen Oberfläche. Um
       Gefühle auszudrücken, hat sie nur ihre blauen Augen. Aber das reicht, um im
       Verlauf des Films ein differenziertes Mienenspiel zu entwickeln:
       Irritation, Ärger, Verliebtheit - man sieht es als Zuschauer auf den ersten
       Blick. Die Figurendesigner müssen unglaublich lang allein schon an diesen
       Augen gebastelt haben.
       
       Der zweite wichtige Punkt ist die Dramaturgie. "Findet Nemo" handelt von
       einem traumatisierten Vater, der gleich zu Beginn fast seine gesamte
       Familie verliert und dann, als der letzte ihm verbliebene Sohn entführt
       wird, sich durch den ganzen Indischen Ozean kämpft, um ihn zu retten.
       "Oben" ist bei aller Verspieltheit und Albernheit eben auch die Geschichte
       eines mürrischen, alten Mannes, der sich nicht ins Altersheim abschieben
       lassen will. Und "Wall-E" ist eine ernsthafte Liebesgeschichte (in der ein
       kleiner Müllroboter, um sein Mädchen zu kriegen, ganz nebenbei die
       Menschheit erlöst).
       
       So rührend die Figuren auch sind, unter der computeranimierten Oberfläche
       geht es in allen diesen Filmen um etwas. So viel man auch lacht, getragen
       werden die besten Pixar-Filme von ernst genommenen emotionalen Dramen. Auch
       sie lassen einen immer wieder vergessen, hier nur Pixel auf der Leinwand zu
       sehen. (Kleiner Schlenker für Philosophiestudenten: Mitleid und Furcht, ein
       dramatischer Plot mit Anfang, Mitte und Schluss - all diese Pixar-Leitideen
       sind Kernbegriffe aus der Ästhetik des Aristoteles, und es wäre mindestens
       einmal eine Magisterarbeit wert zu untersuchen, ob Pixar nicht längst
       legitimer Erbe dieser altehrwürdigen Traditionslinien ist; aber das nur
       nebenbei.)
       
       Die erste "Toy Story"-Episode war 1995 der allererste Langfilm von Pixar.
       Programmatisch war die Handlung von Anfang an, schließlich handelt der Film
       von Spielzeug, das zum Leben erwacht und Abenteuer erlebt. Nichts anderes
       macht Pixar ja seitdem: das Spielzeug des Animationsfilms mit den Mitteln
       von Empathie und emotionalen Dramen zum Leben zu erwecken. Kein Wunder
       also, dass sie sich nun noch einmal ins Zeug gelegt haben.
       
       "Toy Story 3" handelt vom Abschied von der Kindheit. Andy - Besitzer des
       Spielzeugs, das zum Leben erwacht, sobald niemand hinguckt - ist groß
       geworden. Er muss sein Kinderzimmer verlassen und aufs College ins Internat
       gehen - und Woody, der Cowboy, Buzz Lightyear, der Weltraumsoldat, und all
       die anderen längst ikonisch gewordenen Spielzeugfiguren agieren für Andy
       stellvertretend die physischen Dramen aus, die sich bei so einer
       Übergangskrise im Kopf eines Heranwachsenden abspielen.
       
       Die große Frage für Woody und Buzz ist: Werden sie jetzt jemanden finden,
       der mit ihnen spielt - so wie Andy sich das für seinen neuen
       Lebensabschnitt auch fragen wird. Diese Stellvertretung wird mit aller
       Konsequenz durchgezogen. Durch mancherlei Verwicklungen landen Woody, Buzz
       und Co. in einem Kindergarten (so wie Andy im College). Sie müssen
       feststellen, dass die Figuren, die schon länger hier sind (die älteren
       Semester bei Andy), ein unfreundliches Regime errichtet haben. Sie müssen
       aus der Institution wieder fliehen (so wie Andy sich das in Wunschfantasien
       ausmalen wird). Am Schluss landen sie alle fast auf dem Müll bzw. aus
       Spannungsgründen gleich in der Müllverbrennungsanlage (so wie Andy in
       seinen Angstfantasien). Was Andys innere Gefühlswelt betrifft, ist der Film
       sehr dezent; im Grunde zeigt er die meiste Zeit ein postpubertäres
       Pokerface. Aber man weiß als Zuschauer eben genau, wie es in ihm brodelt;
       seine Figuren zeigen es einem ja.
       
       Auch dass es einen hübschen Auftritt von Ken gibt, der Barbie zeigt, wo in
       Sachen Modefetischismus der Hammer hängt, und einen etwas albernen Auftritt
       von Buzz, der einen Latin-Lover-Modus entwickelt, passt in dieses Schema:
       Schließlich muss sich Andy im College auch mit den komplexeren
       Identitätsspielen von Erotik und Beziehungsarbeit auseinandersetzen.
       
       "Toy Story 3" ist damit - darüber hinaus, dass er wirklich lustig und
       leicht ist - ein direkter und genauer Film über psychische Ablösungsdramen
       von der Kindheit, die, Freud lässt grüßen, Teil jedes
       Individuationsprozesses sind. Und das Tolle ist, dass der Film das in Szene
       setzt, ohne es überhaupt nur einmal direkt anzusprechen. Bei diesem Setting
       hätte natürlich viel schiefgehen können: zu kitschig, zu platt, zu
       altbekannt. Aber die Pixar-Leute haben das alles eben ein weiteres Mal sehr
       berührend und mitreißend hingekriegt.
       
       Risiko als Institution 
       
       Der US-amerikanische Journalist Christian Caryl hat kürzlich die
       interessante Frage gestellt, wie es Pixars Gründern gelang, "diese Art von
       risikobereiter Kreativität zu institutionalisieren" - also immer wieder
       erst so gewagte und dann so gelungene Filme zu produzieren (auf Deutsch
       erschien Caryls Essay in der Februarausgabe der Intellektuellenzeitschrift
       Merkur). 
       
       Das ist die Kernfrage für alle kreativ arbeitenden Institutionen wie auch
       Theater, Buchverlage oder Tageszeitungen. Abschließend kann auch Caryl die
       Frage nicht beantworten. So viel aber kann man mit ihm immerhin sagen:
       Perfektionismus und flache Hierarchien spielen wichtige Rollen, und Pixar
       hält daran fest,die kreative Gestaltungskraft unbedingt ins Zentrum des
       Unternehmens zu stellen, koste es, was es wolle.
       
       Ob in der Kreativindustrie oder überhaupt: Jeder Mensch braucht halt
       jemanden, der mit ihm spielt. "Toy Story 3" ist eine gute Gelegenheit, sich
       das wieder einmal klarzumachen.
       
       1 Jan 1970
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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