# taz.de -- Debatte Türkische Verfassung: Demokratie jetzt!
       
       > Am Sonntag stimmen die Türken über eine neue Verfassung ab. Sie wäre ein
       > Fortschritt. Doch sie droht an Parteienstreitigkeiten zu scheitern.
       
       Es hätte so schön werden können. Genau 30 Jahre nach dem Militärputsch von
       1980 stimmt die Türkei über eine neue Verfassung ab. Jahrelange
       gesellschaftliche Debatten münden in eine parlamentarische Versammlung, in
       der man parteienübergreifend die Details berät. Der Entwurf wird im
       Parlament diskutiert und mit großer Mehrheit verabschiedet. Zur Krönung
       soll nun die Bevölkerung abstimmen und damit den Beginn einer neuen Epoche
       besiegeln.
       
       So hätte es sein sollen, doch so ist es leider nicht. Zwar wurde in der
       Türkei schon seit den neunziger Jahren immer wieder intensiv darüber
       diskutiert, dass die 1982 dem Land von den Militärs aufgezwungene
       Verfassung durch einen zivilen, modernen Gesellschaftsvertrag ersetzt
       werden muss. Dieser sollte die individuellen Freiheiten des Einzelnen vor
       dem Zugriff eines autoritären Staates schützen und gleichzeitig dem
       ethnischen und kulturellen Pluralismus der türkischen Gesellschaft Rechnung
       tragen.
       
       An guten Vorschlägen hat es nicht gefehlt, und tatsächlich wird am 12.
       September, dem 30. Jahrestag des Putsches, nun über eine reformierte
       Verfassung abgestimmt. Aber ein neuer Gesellschaftsvertrag, mit dem sich
       die große Mehrheit des Landes identifiziert, steht nicht zur Wahl.
       
       Die Parteien haben den großen Wurf verpasst. Es gab keine verfassunggebende
       Versammlung, und es liegt auch kein Entwurf vor, der den weitestgehenden
       Konsens widerspiegeln würde. Stattdessen werden den Änderungen der
       Militärverfassung von 1982, die es im Laufe der Jahre bereits gab,
       lediglich ein paar weitere Änderungen hinzugefügt. Diese wurden im
       Parlament von der regierenden AKP durchgesetzt - und weil diese im
       Parlament nicht die notwendige Zweidrittelmehrheit erreicht hat, kommt nun
       per Referendum die Bevölkerung um Zuge.
       
       Denkzettel oder Triumph? 
       
       Im bevorstehenden Referendum geht es für die meisten nun kaum um die
       Verfassung - sondern darum, die Regierung zu unterstützen oder ihr einen
       Denkzettel zu verpassen. Etliche Leute, gerade im linksliberalen und linken
       Lager, stecken in einem Dilemma: Sie wollen zwar, dass die alte
       Militärverfassung reformiert oder am besten gleich ganz abgeschafft wird.
       Aber sie wollen der rechtskonservativen, islamisch grundierten Regierung
       von Tayyip Erdogan nicht zu einem Triumph verhelfen.
       
       Die linksnationalistische, einst sozialdemokratische CHP wie auch die
       ultrarechte MHP haben eine echte Parlamentsdebatte im Parlament abgelehnt
       und sich auf eine Blockadepolitik beschränkt. Die kurdische Fraktion wäre
       zur Mitarbeit bereit gewesen, wurde aber von der AKP brüskiert, die es
       ablehnte, die Rolle der Kurden in der Verfassung neu zu bewerten. Nun ruft
       die kurdische Partei BDP zum Boykott des Referendums auf, während CHP und
       MHP für ein Nein trommeln.
       
       Entmachtung des Militärs 
       
       Die Verweigerung der Opposition ist absurd, denn große Teile der
       Verfassungsreform sind entweder unstrittig oder stellen ganz klar einen
       Fortschritt gegenüber der existierenden Verfassung dar. Gegen die
       Einführung eines Ombudsmanns oder dem Schutz der Rechte von Behinderten und
       Kindern hat eigentlich auch niemand etwas. Doch die Verfassungsreform trägt
       auch einer Entwicklung Rechnung, die nicht jedem in der Türkei gefällt.
       Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül haben es
       in den vergangenen Jahren geschafft, das einstmals übermächtige Militär
       Schritt für Schritt in seine Schranken zu verweisen. Auch wenn Erdogans
       eigene autoritäre Neigungen unverkennbar sind, schafft diese Entwicklung
       doch erstmals die Basis dafür, dass sich die Auseinandersetzungen um die
       Macht im Lande künftig im strikt demokratischen, zivilen Rahmen abspielen.
       
       Die Entmachtung des Militärs wird mit der Verfassungsreform besiegelt. Die
       Privilegien, die sich die Generäle 1982 in ihre Verfassung
       hineingeschrieben haben, werden abgeschafft. Die Militärjustiz wird
       drastisch eingeschränkt, Offiziere müssen sich zukünftig auch vor zivilen
       Gerichten verantworten. Und die pauschale Immunität der Putschgeneräle von
       1980 wird aufgehoben. Das wäre ein großer Fortschritt - selbst wenn im
       Detail strittig bleibt, ob sie am Ende tatsächlich eine Anklage fürchten
       müssten.
       
       Dieser Fortschritt wird auch nicht durch jene Teile des Reformpakets
       relativiert, die man als problematisch ansehen könnte. Dabei geht es um die
       zukünftige Besetzung der höchsten Gerichte. Die Opposition wirft der AKP
       vor, es ginge ihr mit der Verfassungsreform darum, die Justiz unter ihre
       Kontrolle zu bringen. Doch wie weit trägt dieser Vorwurf?
       
       Wie andere EU-Länder auch 
       
       Bislang ist es so, dass die obersten Gerichte eine Kandidatenliste für
       Richter am Verfassungsgericht aufstellen und der Staatspräsident unter
       diesen Kandidaten dann seine Wahl trifft. Zukünftig soll es so sein, dass
       die Vorschläge von mehreren Institutionen kommen und auch das Parlament
       über eine bestimmte Anzahl von Richtern entscheiden könnte. Da dafür
       letztlich eine einfache Mehrheit genügen soll, könnte die Regierung so ihre
       Kandidaten durchsetzen. Das ist zwar nicht ideal, bewegt sich aber durchaus
       in einem Rahmen, der mit dem vieler EU-Länder vergleichbar ist.
       
       Daher ist die Vehemenz, mit der das Referendum im Vorfeld bekämpft wird,
       schlicht irrational. Das Ja- und das Nein-Lager stehen sich unversöhnlich
       gegenüber und spalten das Land mit ihrer Schlammschlacht immer weiter. Fast
       alles, was jetzt von der Opposition, aber auch seitens der Regierung gesagt
       wurde, hätte eigentlich besser in den nächsten Wahlkampf gehört. Im Juli
       2011 wird ein neues Parlament gewählt. Erst dann wird darüber entschieden,
       ob die AKP ihre "islamische" Politik fortsetzen kann oder die "säkulare"
       Opposition ans Ruder kommt.
       
       Das Referendum hat darauf keinen Einfluss: Jetzt wird nicht über Erdogan,
       sondern über die Verfassung abgestimmt. Und würde die Reform nun
       mehrheitlich abgelehnt, bliebe der rechtliche Fortschritt auf der Strecke.
       Und wann es das nächste Mal eine Chance geben könnte, die jetzige
       Militärverfassung endlich loszuwerden, steht in den Sternen.
       
       10 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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