# taz.de -- Historikerin über französische Protestkultur: "Der Staat ist autistisch"
       
       > Die französische Historikerin Danielle Tartakowsky über die Wut der
       > Franzosen, die Substanz ihrer Proteste und die Unterschiede zum sozialen
       > Dialog in Deutschland.
       
 (IMG) Bild: "Generalstreik" kündigt das Transparent dieser Demonstranten in Lille am Dienstag an.
       
       taz: Frau Tartakowsky, in Frankreich wird oft gestreikt und demonstriert.
       Gibt es eine typisch französische Protestkultur? 
       
       Danielle Tartakowsky: Ich sehe das differenzierter. Auch in anderen
       europäischen Ländern gibt es schließlich bedeutende und schwere Konflikte
       mit großen Demonstrationen und auch etwas, das einige Soziologen bereits
       mit dem Ausdruck "Protestdemokratie" definiert haben.
       
       Frankreich ist dennoch speziell dafür bekannt, dass Konflikte fast
       unvermeidlich auf der Straße ausgetragen werden? 
       
       Das muss man mit einem geschichtlichen Hintergrund erklären. Die
       Traditionen des sozialen Dialogs in Deutschland und Frankreich sind sehr
       verschieden. In Frankreich haben die Unternehmer nie auf
       Sozialpartnerschaft gesetzt. Auch die Gewerkschaftsbewegung, die in ihren
       Ursprüngen einen revolutionären Charakter hatte, blieb in der Minderheit.
       Aber sie haben immer wieder große Bewegungen in Gang gebracht.
       
       Alle großen sozialen Errungenschaften in Frankreich sind das Ergebnis
       großer und kollektiver Mobilisierungen der Arbeiterbewegung. Das gilt
       namentlich für die Fortschritte der Volksfront (von 1936 bis 1938) sowie
       die Befreiung am Ende des Zweiten Weltkriegs, die wesentliche Etappen bei
       der Herausbildung des Sozialstaats in Frankreich waren, der heute infrage
       gestellt wird. Dass damals die Fortschritte durch große Bewegungen erzielt
       wurden, das hat zweifellos zu dieser Kampftradition in Frankreich
       beigetragen.
       
       Nun haben in Frankreich die Sozialpartner jeweils viel vom Staat als
       Vermittler in diesem nicht immer einfachen Dialog erwartet? Erfüllt dieser
       seine Rolle nicht mehr? 
       
       Das stimmt heute ganz besonders. Es gibt das vorherrschende Gefühl, dass
       dieser Staat, der als Raum der Debatte und Verhandlung geschaffen worden
       ist, nicht mehr kommuniziert und die soziale Diskussion in "autistischer"
       Weise verweigert. Die an den Sozialstaat gerichteten Erwartungen werden so
       in provokativer Art frustriert.
       
       Ist es ein Zeichen einer besonders lebendigen Demokratie, wenn die Leute
       streiken und demonstrieren, oder eher ein Symptom einer politischen Krise? 
       
       Man kann es positiv werten, wenn die Bürger ihr Schicksal selbst in die
       Hand nehmen. Das Demonstrationsrecht ist nicht von ungefähr ein wichtiges
       Kriterium demokratischer Verhältnisse in einer Gesellschaft.
       
       Umgekehrt kann man es auch bedauern, dass den Arbeitnehmern oder Schülern
       gar nichts anderes übrig bleibt, als ihre Rechte selber zu verteidigen. Das
       bedeutet eben auch, dass die eigentlich dazu vorgesehenen institutionellen
       Mittel nicht funktionieren, das ist darum zweifellos auch Ausdruck einer
       Krise der repräsentativen Demokratie.
       
       Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass dieser Konflikt zunehmend in Gewalt
       endet? 
       
       Diese Gefahr ist umso reeller, da die Regierung ganz offensichtlich das
       Risiko in Kauf nimmt und darauf setzt, dass sich die Bewegung durch
       gewaltsame Vorfälle diskreditiert. Aber ich hüte mich davor vorauszusagen,
       wie weit das gehen kann.
       
       Auf den ersten Blick ist es doch erstaunlich, dass nun viele Junge gegen
       die Rentenreform demonstrieren. Ist das ein Vorwand, um eine weit tiefer
       sitzende Unzufriedenheit loszuwerden? 
       
       Seit zehn Jahren haben die Mittelschüler und Studenten regelmäßig
       protestiert. Sie machen sich zu Recht Sorgen um ihre Zukunft. Jetzt sagt
       man ihnen, sie würden erst mit 67 Jahren in Rente gehen. Und schon jetzt
       haben viele nur sehr prekäre Arbeitsmöglichkeiten und Jobs.
       
       Sie empfinden diese Reform wie die Ankündigung einer schwarzen Zukunft. Als
       Hochschullehrerin kann ich Ihnen sagen, dass diese Studenten sehr wohl
       wissen, wovon sie reden. Sie sind angewidert von einer Welt, die ihnen
       zutiefst ungerecht erscheint. Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit sollte man
       auf keinen Fall unterschätzen.
       
       Sind Sie überrascht vom Ausmaß und der Eskalation der jetzigen Proteste
       gegen die Rentenreform? 
       
       Nein, keineswegs. Die Altersversicherung der Sécurité Sociale gilt als eine
       der großen Errungenschaften, die die Franzosen und Französinnen verteidigen
       wollen. Sie halten umso mehr daran fest, als sie als erkämpfte
       Errungenschaft gilt.
       
       Es gibt dazu einen Slogan in den Demonstrationen, der besagt: "Wir haben
       gekämpft, um die Rente zu erobern, wir werden kämpfen, um sie zu
       verteidigen." Hinzu kommen auch noch die Provokationen der Staatsführung.
       Wenn der Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagt, er bemerke die Streiks gar
       nicht, oder wenn ein Premierminister erklärt, es sei nicht die Straße, die
       regiere, fühlen sich die Bürger bei der herrschenden Spannung dadurch noch
       mehr herausgefordert. Wir leben in einem Land, in dem die sozialen Kämpfe
       maßgeblich das kollektive Bewusstsein geprägt haben.
       
       20 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Balmer
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