# taz.de -- Schwarz-Gelb entmachtet Pharma-TÜV: Die Invasion der Nutzlos-Pillen
       
       > In wessen Sinne die Regierung handelt, zeigt der Fall des Prüf-Instituts
       > IQWiG. Das soll die Bürger vor nutzloser Medizin schützen. Dies wird ihm
       > künftig sehr schwer gemacht.
       
 (IMG) Bild: Lobby bleibt Lobby, da helfen keine Pillen.
       
       Der Bundesgesundheitsminister hat gesprochen, auf Einladung eines
       Wirtschaftsverbands in Berlin und über sein Verständnis gelungener
       Amtsführung: "Gesundheitswirtschaft statt Staatsmedizin". Er hat das Tempo
       seiner Reformen verteidigt, das manchen im Publikum zu langsam ist. Jetzt
       lächelt er: "Auch der längste Weg fängt mit dem ersten Schritt an." Das sei
       ein asiatisches Sprichwort, sagt der in Vietnam geborene Philipp Rösler
       augenzwinkernd, "und wirkt bei mir extrem authentisch".
       
       Authentisch wirkt auch, wie der FDP-Minister seit seinem Amtsantritt mit
       kleinen Schritten die Demontage des Instituts für Qualität und
       Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vorantreibt. Das unabhängige
       Institut mit der sperrigen Abkürzung IQWiG (gesprochen Ickwick), rund 100
       Beschäftigten und Dienstsitz in Köln gilt in gesundheitswirtschaftlichen
       Kreisen als Autorität.
       
       Die Kontrolleure des deutschen Medizin-TÜV bewerten anhand
       wissenschaftlicher Studien die Kosten und den Nutzen von Arzneimitteln,
       Therapien, Medizinprodukten. Ihre Gutachten sind ausschlaggebend dafür,
       welche Medikamente von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden –
       oder eben nicht.
       
       Man kann sagen, dass das IQWiG der mittelständischen Industrie
       Millionengeschäfte vermasselt. Man kann auch sagen, dass es die Interessen
       von 70 Millionen gesetzlich krankenversicherten Menschen vertritt. Je nach
       Standpunkt. Das Problem: Außerhalb der gesundheitspolitischen Fachwelt geht
       der Bekanntheitsgrad des IQWiG gegen null. Das ist ein Grund, warum die
       schrittweise Entmachtung möglich wurde.
       
       "Die bisherigen Standards der Nutzenbewertung sollen verwässert werden",
       warnt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelforschung und Mitglied im
       Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der Entwicklung im
       Gesundheitswesen.
       
       Was Zusatznutzen sei, soll ab Januar 2011 nicht mehr wissenschaftlich
       definiert werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als oberstes
       Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen.
       Sondern politisch - per Rechtsverordnung durch Philipp Röslers
       Gesundheitsministerium, bar jeder parlamentarischen Kontrolle. Die Idee
       hierzu formulierten die Koalitionsfraktionen in einem Antrag und der
       Verband forschender Arzneimittelhersteller vfa als mächtigste Pharmalobby
       in einer Stellungnahme übrigens fast wortgleich.
       
       Statt aufwendiger, oft mehrjähriger Kosten-Nutzen-Analysen soll es künftig
       nur noch Nutzenschnellbewertungen durch das IQWiG geben - binnen drei
       Monaten und auf fragwürdiger Datenbasis. Schließlich soll die Beweislast
       umgekehrt werden. Bislang mussten die Hersteller dem IQWiG beweisen, dass
       ihr neues Medikament einen zusätzlichen Nutzen für die Patienten habe
       gegenüber herkömmlichen Medikamenten.
       
       Künftig sollen es die Medizinkontrolleure sein, die der Pharmaindustrie
       nachweisen müssen, dass deren Arzneimittel "unzweckmäßig" seien. Gelingt
       das nicht, wandern die Medikamente automatisch in den Leistungskatalog der
       gesetzlichen Krankenversicherung.
       
       Der Nachweis der Nichtexistenz des Nutzens ist eine wissenschaftliche
       Unmöglichkeit, sagt der Leiter des IQWiG, Jürgen Windeler: "Man kann
       beweisen, dass etwas da ist, man kann durch Studien den Nutzen beweisen,
       man kann auch sagen, es gibt keinen Beleg für einen Nutzen. Aber man kann
       nicht beweisen, dass etwas nicht da ist: Ich kann nicht ausschließen, dass
       auf der Rückseite des Mondes der Pumuckl wohnt, in einer Höhle vielleicht."
       
       Wie es so weit kommen konnte? Im Koalitionsvertrag vom Herbst 2009 fixieren
       CDU und FDP ihre Kampfansage an das IQWiG, das erst 2004 von Rot-Grün
       geschaffen wurde: "Die Arbeit des (…) IQWiG werden wir (…) überprüfen und
       damit die Akzeptanz von Entscheidungen für (…) Hersteller verbessern." Die
       erste Maßnahme ist, einen Vorwand zu finden, den pharmakritischen
       Institutsleiter Peter Sawicki loszuwerden.
       
       Es findet sich im Januar 2010: eine Dienstwagenaffäre. Am Ende geht es um
       strittige Spesenquittungen in Höhe von 991,95 Euro sowie 25,20 Euro falsch
       abgerechnetes privates Rasenmäherbenzin. Für einen Moment bekommt das IQWiG
       maximale mediale Aufmerksamkeit. Der Gesundheitsminister gerät unter Druck:
       Offensichtlicher könne man den Forderungen der Pharmalobby kaum nachgeben.
       
       Das sitzt. Als Marionette der Pharmaindustrie möchte Rösler nicht dastehen.
       Sawickis Nachfolge übernimmt zum 1. September 2010 Jürgen Windeler,
       renommierter Medizinstatistiker, Professor für medizinische Biometrie und
       klinische Epidemiologie. Inhaltlich ist Windeler so hartnäckig wie Sawicki.
       Aber was nützen diese Eigenschaften, wenn das Institut kaltgestellt wird?
       
       Im Sommer 2010 stellt Philipp Rösler einen Gesetzentwurf zur Neuordnung des
       Arzneimittelmarkts (AMNOG) vor. Das Ziel: Die Arzneimittelpreise in
       Deutschland sollen sinken. Bisher kann die Pharmaindustrie für neue
       Präparate den Preis nach Gutdünken festlegen - zahlen müssen die Kassen.
       Dieses Preismonopol, so Röslers PR-Coup, werde erstmals in Deutschland
       gebrochen.
       
       Von den 32 Milliarden Euro, die die gesetzlichen Kassen 2009 allein für
       Arzneimittel ausgaben (18 Prozent), sagt der Minister, ließen sich 2
       Milliarden sparen: Ab 2011 sollen dazu alle innovativen Arzneimittel, für
       die die Hersteller einen Zusatznutzen reklamieren gegenüber herkömmlichen
       Therapien, erstmals einer systematischen Nutzenbewertung unterzogen werden.
       Und nur was zusätzlich nutze, verspricht Rösler, dürfe künftig noch
       zusätzlich kosten.
       
       Bislang konnte das IQWiG aufgrund der Aufwendigkeit seiner
       Kosten-Nutzen-Berechnungen Medikamente nur punktuell bewerten. Darüber
       hinausgehende Versuche, das Preisdiktat durch "Positivlisten" für
       Arzneimittel zu beenden, scheiterten am politischen Widerstand. Und nun
       ruft ausgerechnet ein FDP-Minister die Revolution aus? "Wir", erinnert sich
       eine Mitarbeiterin des IQWiG, "haben uns damals die Augen gerieben."
       
       Es kommt anders. Pharmahersteller, Ärzte, Krankenkassen und andere
       Lobbyisten nutzen die Sommerpause für Gespräche mit Abgeordneten, für
       Stellungnahmen an den Gesundheitsausschuss. Ende September finden sie
       Gehör: 22 Änderungsanträge stellen die Koalitionsfraktionen zum AMNOG.
       
       Da das Gesetz keiner Zustimmung des Bundesrats bedarf, wird zum Ende der
       Ausschussberatungen am 27. Oktober, so der Zeitplan, wohl die Degradierung
       des IQWiG zu einer kompetenzarmen Wirkungsstätte herausragender
       Wissenschaftler beschlossen werden. Denn: Künftig soll sich seine Aufgabe
       im Arzneimittelbereich, auch das entspricht einem langjährigen Wunsch der
       Pharmaindustrie, im Wesentlichen auf schnelle Nutzenbewertungen
       beschränken.
       
       Diese soll das Institut binnen drei Monaten nach Marktzulassung vorlegen.
       Das Problem: Zu diesem frühen Zeitpunkt liegen noch keine vergleichenden
       Studien vor. Die aber werden gebraucht, um einen patientenrelevanten
       Zusatznutzen nachzuweisen. Aus gutem Grund legte das IQWiG seine
       Nutzen-Expertisen bislang oft erst Jahre nach der Marktzulassung vor.
       
       Während des mehrjährigen Zulassungsverfahrens muss ein Medikament nach dem
       Arzneimittelgesetz diverse Studien bestehen, und der Hersteller muss der
       European Medicine Agency (EMA) in London als Zulassungsbehörde nachweisen,
       dass es wirkt und verträglich ist (ein Cholesterinsenker etwa sollte
       tatsächlich den Cholesterinwert senken, und der Patient sollte dabei am
       Leben bleiben). Das alles aber hat nichts mit den Kriterien zu tun, die bei
       der späteren Nutzenbewertung durch das IQWiG laut Sozialgesetzbuch V
       erfüllt sein müssen: Zusatznutzen im Vergleich zu existierenden Therapien,
       orientiert an Morbidität, Mortalität, Lebensqualität.
       
       Damit ist auch klar: Mit der frühen systematischen Nutzenbewertung ist
       nichts weiter gemeint als eine, wie der CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn
       zugibt: "Prognose, eine Orientierung". Man könnte auch sagen: eine Farce.
       Denn selbst wenn das IQWiG sich auf eigene Faust Daten beschaffen wollte:
       Ein Budget, um eigene wissenschaftliche Studien zu beauftragen, existiert
       nicht.
       
       Den gesetzlichen Krankenkassen, die ebenfalls Interesse hätten, ist es
       verboten, Versichertengelder hierfür zu verwenden. Die Kontrollinstanzen
       sind damit abhängig von der Forschung der Hersteller. Aufgrund der
       bescheidenen Datenlage dürfte dem IQWiG zu diesem frühen Zeitpunkt kaum
       anderes übrig bleiben, als den meisten Medikamenten einen Zusatznutzen zu
       attestieren.
       
       Daraus wächst das nächste Problem: Medikamente, denen früh ein Zusatznutzen
       zugesprochen wurde, werden nicht etwa erneut nach einigen Monaten oder
       Jahren zwingend auf ihren Nutzen hin überprüft. Sondern es soll
       anschließend nur noch um ihren Preis geschachert werden zwischen den
       Herstellern und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen. Nur wenn
       diese Preisverhandlungen binnen eines Jahres scheitern und selbst ein
       Schiedsspruch keine Einigkeit bringt, nur dann kann eine der beiden Seiten
       noch das IQWiG mit einer weiteren Nutzenbewertung beauftragen. Diese
       Regelung schafft erst recht keinen Anreiz für Hersteller, durch
       vergleichende Studien nachzuweisen, dass ihr Medikament tatsächlich einen
       Zusatznutzen hat und wettbewerbsfähig ist: Man kann sich schließlich
       freikaufen.
       
       Einige Arzneimittel schließlich sollen gar keiner Nutzenbewertung mehr
       unterzogen werden: Medikamenten zur Behandlung sehr seltener Krankheiten
       soll künftig automatisch ein Zusatznutzen attestiert werden. Begründung:
       Die Forschung in diesem Bereich lohne sich ohnehin kaum. Da gebiete es der
       Respekt vor denjenigen, die trotzdem forschten, ihre Arzneimittel nicht
       noch mit zusätzlichen Hürden wie Nutzenbewertungen zu belegen.
       
       Deutlicher kann man den Anreiz für die Pharmaindustrie, künftig möglichst
       viele Medikamente für häufige Krankheiten zu Medikamenten für seltene
       Krankheiten umzudefinieren, kaum formulieren. "Man kann Erkrankungen nach
       Risikogruppen oder Stadien unterteilen und aus jedem Teil eine eigene
       Erkrankung machen", sagt der IQWiG-Leiter Jürgen Windeler. "Slicing ist der
       Modebegriff, Scheibchen machen aus dem großen Brot." Es sei nicht
       auszuschließen, so Windeler, dass das Einsparziel der Regierung auf diese
       Weise "wohl kaum" erreicht werden könne.
       
       Genauso wenig ist auszuschließen, dass dies erst der Anfang sein könnte,
       wie das IQWiG künftig mit abwegigen Fragestellungen beschäftigt werden
       soll. Es war ein langer Weg bis hierher.
       
       21 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
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