# taz.de -- Jurist über Mexikos Mafia: "Noch mehr müssen sterben"
       
       > Die Mafia hat Mexikos Staat und Wirtschaft tief durchdrungen. Dabei gibt
       > es Wege, sie zu entmachten – das zeigen andere Länder, sagt Edgardo
       > Buscaglia, Jurist und Volkswirt.
       
 (IMG) Bild: Da brennen sie runter, die kürzlich sichergestellten über 100 Tonnen Dope: Brennendes Marihuana auf einer mexikanischen Militärbasis.
       
       taz: Herr Buscaglia, Mexikos Sicherheitsbehörden haben in letzter Zeit
       gleich drei Mafiabosse verhaftet oder getötet - erst Arturo Beltrán Leyva,
       dann "La Barbie" Edgar Valdéz und "El Grande" Sergio Villareal. Und jetzt
       der Fund von 134 Tonnen Marihuana inklusive Verhaftungen. Bringt das den
       Kampf gegen die Kartelle voran? 
       
       Edgardo Buscaglia: Um die organisierte Kriminalität aufzurollen, muss etwas
       anderes passieren. Man muss die korrupten Strukturen des Staats und der
       Privatwirtschaft sowie die Finanzstruktur der Mafia angreifen. Das sind die
       Grundlagen der Kriminellen. Es nutzt nichts, sich nur dem medienwirksamen
       Ziel zu widmen, Capos zu verhaften oder zu töten. Kriminelle Unternehmen
       funktionieren mit oder ohne "La Barbie". Sie sind nicht von Personen,
       sondern von Strukturen abhängig.
       
       Wenn die Drogenmafia … 
       
       Halt! Es ist falsch, die mexikanische organisierte Kriminalität nur als
       Drogenmafia zu klassifizieren. Sie arbeitet in 23 Bereichen:
       Menschenhandel, Schmuggel, Raubkopien, Internetkriminalität, Entführungen,
       Erpressungen. Mit diesen anderen Delikten macht die Mafia 52 bis 55 Prozent
       ihrer Einnahmen. Die mexikanischen Gruppen sind transnational organisiert
       und agieren in 49 Staaten. Überall dort haben sie ihr Vermögen und ihre
       operativen Basen.
       
       Wie arbeiten die Kartelle? 
       
       Allein das Sinaloa-Kartell ist in 35 Staaten Lateinamerikas aktiv und hat
       mindestens auf Gemeindeebene zahlreiche Beamte, die für sie arbeiten. In
       Mexiko sitzen die Unterstützer der Mafia in den Regierungsbehörden, und
       zwar auf kommunaler, regionaler und Bundesebene. Große legale Unternehmen
       stellen Schiffe und Lagerhäuser zur Verfügung, in pharmazeutischen
       Betrieben werden synthetische Drogen hergestellt. Zudem bieten
       Bauunternehmen, Agrarbetriebe, Bergbaufirmen den Kriminellen eine operative
       Basis. In 78 Prozent der mexikanischen Wirtschaftssektoren stecken Gelder
       der Mafia.
       
       Was bringt unter diesen Bedingungen der von Präsident Felipe Calderón im
       Dezember 2006 erklärte Krieg gegen die Mafia? 
       
       Das ist nur eine mediale Show. Die korrupte Struktur wurde bislang nicht
       einmal berührt. Das organisierte Verbrechen ist ein politisches und
       soziales Phänomen, und diesem den Krieg zu erklären, ist, wie sich selbst
       den Krieg zu erklären. Die Gesellschaft schützt diese Organisationen. Die
       kriminellen Gruppen sind Teil des sozialen Netzes, und sie sind Teil des
       Staats.
       
       Sie meinen also, das Verbrechen ist Teil der Gesellschaft? 
       
       Es gibt eine soziale und eine politische Komplizenschaft. Das heißt nicht,
       dass jeder Mexikaner involviert ist. Aber in den Schlüsselsektoren der
       Wirtschaft existiert eine passive oder sogar aktive Haltung zum Schutz der
       organisierten Kriminalität. Dasselbe findet in den marginalisierten
       Sektoren der Bevölkerung, in den Armenvierteln und auf dem Land statt. In
       einigen Bundesstaaten werden Kriminelle von den Armen geschützt, weil die
       Mafia dort in die Infrastruktur investiert. Der Krieg ist also ein
       sinnloser Weg. Kein Staat kann einen Krieg gegen sich selbst, gegen die
       eigene Gesellschaft führen.
       
       Die Gewalt eskalierte nach Calderóns Offensive. Wenn diese nicht
       stattgefunden hätte, wäre Mexiko dann die Eskalation erspart geblieben? 
       
       Nein, die Gewalt hätte im Kampf um Märkte und Einfluss so oder so
       zugenommen. Aber sicher nicht so extrem. Die Politik des Präsidenten hat
       dazu geführt, dass Mexiko in ein "Paradox der Repression" fiel. Wer immer
       mehr Soldaten und Polizisten einsetzt, zugleich aber nicht die Vermögen
       angreift, muss zunehmend weiter Soldaten und Polizisten schicken. Denn auch
       die Kriminellen investieren mehr Geld, um sich besser zu verteidigen. Die
       Regierung geht davon aus, dass sich die Mafia wie ein gewöhnlicher
       Verbrecher zurückzieht, wenn die Armee gegen ihn mobilisiert wird. Aber
       kriminelle Unternehmen reagieren nicht wie Individuen, sondern wie
       Unternehmen. In Mexiko wendet man eine Medizin an, die gefährlicher ist als
       die Krankheit, weil sie diese noch schlimmer macht.
       
       Was muss also passieren? 
       
       Man muss darauf schauen, was andere Länder unternommen haben. Zum Beispiel
       Italien oder Kolumbien. Dort wurden vier Maßnahmen miteinander verbunden:
       soziale Prävention, Beschlagnahme illegaler Vermögen, juristische Reformen
       und Korruptionsbekämpfung.
       
       Warum enden Jungen zwischen acht und zwölf Jahren in Jugendbanden wie den
       Maras, die der Mafia dienen? 
       
       Das hat mit fehlender Erziehung zu tun. Acht Millionen Kinder gehen in
       Mexiko nicht zur Schule, hängen auf der Straße, nehmen Drogen und werden
       gewalttätig. Das ist der Boden, auf dem sich die organisierte Kriminalität
       entwickelt. Doch die mexikanischen Behörden unternehmen nichts. Auch die
       illegalen Vermögen werden nicht konfisziert. Calderón spricht zwar davon,
       aber tatsächlich wird das Geld nicht angetastet. Übrigens befinden sich
       mexikanische Mafia-Gelder auch in Deutschland.
       
       Was lässt sich dagegen tun? 
       
       Der Kampf gegen die Korruption muss die politische Klasse auf höchstem
       Niveau treffen. Jeder Politiker sowie deren Familien sollten nachweisen,
       woher ihr Vermögen aus den letzten 15 Jahren stammt. Das wäre eine
       kurzfristig umsetzbare Maßnahme, die einen unmittelbaren Effekt hätte,
       sowohl strafrechtlich als auch präventiv. Alle Politiker würden merken,
       dass die Party nun zu Ende geht. Auch das passiert in Mexiko nicht, weil es
       unter den Parteien keine Einigkeit gibt. Niemand macht den Anfang, um nicht
       der Verlierer zu sein. Immerhin stammen 77 Prozent der für den Wahlkampf
       ausgegeben Gelder von der Mafia. Nicht zuletzt braucht es rechtsstaatliche
       Verhältnisse und Rechtssicherheit. Richter müssen qualifiziert werden, um
       Menschenrechte und individuelle Rechte zu garantieren. Weder der Präsident
       noch die politische Klasse halten eine Justizreform, die die Rechte des
       Individuums im Strafprozess garantiert, für nötig. Für Calderón sind ein
       Angeklagter und ein Verurteilter dasselbe. Wie kann er sonst behaupten, ein
       großer Teil der 28.000 in den letzten Jahren Ermordeten habe der
       organisierten Kriminalität angehört. Kein Richter hat das je bestätigt.
       
       Was macht Sie so sicher, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen zum Erfolg
       führen? 
       
       19 Länder, die diese vier Regeln umgesetzt haben, konnten die organisierte
       Kriminalität um über 40 Prozent verringern, und zwar schon zehn Monate nach
       der Implementierung dieser Initiativen zur gleichen Zeit. Da Mexiko nicht
       eine einzige implementiert, erwarte ich nicht, dass sich irgendetwas
       ändert. Alles andere ist Show. Mexiko muss sich freiwillig selbst politisch
       und sozial infrage stellen. Aber das passiert nur unter Bedingungen
       extremen Leidens. Mexiko wird an diesen Punkt kommen, und das auch tun.
       Leider müssen dafür noch mehr Menschen sterben, und die Instabilität muss
       weiter zunehmen.
       
       Wollen Sie damit sagen, dass es eine weitere Zuspitzung der Gewalt braucht? 
       
       Für eine Veränderung ist eine Bedingung unabdingbar: Die Unternehmer müssen
       am Abgrund stehen. Sie tun erst dann etwas, wenn ihr Eigentum etwa durch
       Erpressungen bedroht ist, ihre Familien entführt oder sie selbst von
       Autobomben ermordet werden. Normalerweise kümmert sich die wirtschaftliche
       Elite eines Landes darum, das Monster, das sie ja selbst geschaffen hat, in
       den Griff zu bekommen, damit es sie nicht auffrisst. So war das in
       Kolumbien. Mexiko hat diese Schmerzgrenze offenbar noch nicht erreicht.
       
       Und die Politik? 
       
       Es braucht eine politische Elite, eine Regierungspartei mit einer klaren
       Mehrheit. Nur sie kann Maßnahmen implementieren, ohne immer auf die
       Opposition Rücksicht nehmen zu müssen. Die Regierung muss die Opposition zu
       einem Pakt treiben können. Das ist in den Neunzigern in Italien passiert
       und später in Kolumbien. In Mexiko ist das leider nicht in Sicht, der
       jetzige Präsident hat eine hauchdünne Mehrheit und regiert zudem unter dem
       Vorwurf, durch Wahlbetrug an die Macht gekommen zu sein.
       
       Was halten Sie davon, dass der Präsident mit dem Sinaloa-Kartell verbunden
       sein soll? Alles reine Verschwörungstheorie? 
       
       Die Zahlen, die unabhängig voneinander der US-Sender National Public Radio
       im Mai und ich im Januar dieses Jahres ermittelt haben, werfen tatsächlich
       Fragen auf. Das Sinaloa-Kartell ist das bedeutendste Unternehmen im
       Drogenhandel, es wickelt 46 Prozent der Exporte in die USA und die EU ab.
       Von den Verhafteten, denen der Prozess gemacht wurde, stammen jedoch nur
       1,8 Prozent aus diesem Kartell. Da klafft eine Lücke. Diesen Vorteil
       zugunsten einer Organisation konnte die Regierung bislang nicht aufklären.
       Sinaloa korrumpiert besser, bedroht besser, erpresst besser und ist deshalb
       natürlich auch besser geschützt als alle anderen.
       
       Ist Mexiko ein "Failed State"? 
       
       Nein, aber Mexiko ist auf allen Ebenen ein schwacher Staat: in den
       Gemeinden, in den Ländern und im Bund. Es gibt Regionen, in denen man von
       einem Failed State reden kann, weil dort keine Regierung das Sagen hat. In
       Bundesstaaten wie Sonora, Michoacán, Durango, Sinaloa, Chiapas findet man
       Gegenden, die Afghanistan mit Blick auf das Fehlen staatlicher
       Institutionen ähnlich sind. Ich würde von einem fragmentierten Staat reden,
       in dem wie in einem Puzzle jedes Teilchen einer anderen kriminellen Gruppe
       gehört. Das wiederum paralysiert den Staat im Kampf gegen diese Gruppen.
       
       22 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf-Dieter Vogel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Eric Holder
 (DIR) Mexiko
       
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