# taz.de -- Cholera-Experte über die Not in Haiti: "Die Bevölkerung hat keine Immunität"
       
       > Die Menschen in Haiti brauchen in erster Linie Zugang zu sauberem
       > Trinkwasser und ein orales Serum: Das fordert Haitis führender
       > Cholera-Experte Jean William Pape.
       
 (IMG) Bild: Sauberes Wasser ist in der aktuellen Situation in Haiti wichtig - und selten.
       
       taz: Herr Pape, für Haiti hat das Jahr 2010 mit dem schwersten Erdbeben
       seiner Geschichte begonnen. Jetzt geht es mit einer Cholera-Epidemie zu
       Ende. Gibt es einen Zusammenhang? 
       
       Jean William Pape: Der Ausbruch der Cholera hat nichts mit dem Erdbeben zu
       tun. Für einen solchen Ausbruch muss sie jemand hergebracht haben. Als 1991
       die Cholera Südamerika erreichte, war ich überzeugt, dass sie auch nach
       Haiti kommt. Ich habe mich damals viel mit Durchfall bei Kindern
       beschäftigt. Und wir haben unsere kleinen Patienten systematisch auf
       Cholera getestet. Aber wir haben nie etwas gefunden. Wir hatten damals
       einfach sehr, sehr viel Glück.
       
       Warum breitet sich die Cholera jetzt so schnell in Haiti aus? 
       
       Einerseits ist das Territorium nicht groß, und durch das Erdbeben ist die
       Mobilität der Bevölkerung enorm gestiegen. Das sorgt für eine schnellere
       Verbreitung. Andererseits besitzt die haitianische Bevölkerung nicht die
       geringste Immunität gegen die Cholera. Meine Forschungen bestätigen, dass
       es Cholera hier nie zuvor gegeben hat. Anfang des 19. Jahrhunderts sind auf
       Jamaika 25.000 Personen an Cholera gestorben. Doch die Krankheit kam nicht
       auf die Insel Saint-Domingue, auf der sich heute Haiti und die
       Dominikanische Republik befinden.
       
       Wie erklären Sie, dass die Cholera Haiti im 19. Jahrhundert verschont hat? 
       
       Haiti war damals international total isoliert. Hier war die Sklaverei
       abgeschafft worden, während sie anderswo weiter existierte. Dies führte zu
       allen möglichen Schwierigkeiten: Zum Beispiel ging die Industrielle
       Revolution an Haiti vorbei. Aber was die Verbreitung von Krankheiten
       betrifft, war diese Isolation eine gute Sache. Wenn Sie einen neuen Keim in
       eine Bevölkerung bringen, die nie zuvor Kontakt mit diesem Keim hatte, kann
       das nämlich zu schrecklichen Verwüstungen führen. Wie bei der indianischen
       Bevölkerung dieser Insel. Sie wurde binnen weniger Jahre komplett vom
       Gelbfieber hingerafft.
       
       Der zweite Grund ist, dass die haitianischen Präsidenten des 19.
       Jahrhunderts große Angst vor der Cholera hatten. Immer wenn es Gerüchte
       über eine Cholera-Epidemie in der Region gab, verboten sie ausländischen
       Booten das Anlegen in den Häfen. Auf diese Weise hielten sie auch die Pest
       fern. Sie wird durch Ratten übertragen. Und die können im Bauch von
       Schiffen reisen.
       
       Würde die Cholera anderswo weniger hart verlaufen? 
       
       Ja. In Südostasien zum Beispiel - in Indien, Pakistan, Bangladesch -, wo
       die Cholera jahrhundertelang endemisch war.
       
       US-Experten prognostizieren, dass in Haiti 400.000 Menschen an Cholera
       erkranken werden. Wie sehen Sie das? 
       
       Die Krankheit hat sich über das ganze Land ausgebreitet. Und es gibt in
       jedem Département mindestens ein paar Fälle. Aber niemand kann genau sagen,
       wie viele Personen angesteckt wurden. denn wenn man über Cholera-Fälle
       berichtet, handelt es sich nur um dokumentierte Fälle.
       
       Aber bei Cholera zeigen 75 Prozente der Betroffenen gar keine Symptome. Nur
       5 Prozent bekommen schweren Durchfall, der sehr schnell zum Verlust von
       zwei bis drei Litern Wasser und zum Tod durch Austrocknung führen kann. Auf
       25 Individuen, die ins Krankenhaus gehen, kommen 75, die es nicht tun.
       Ihnen geht es mehr oder weniger gut. Trotzdem können sie ihre Umgebung
       anstecken und die Krankheit weiter verbreiten.
       
       Woher stammen die Keime, die jetzt in Haiti grassieren? 
       
       Irgend jemand hat sie von außerhalb ins Land mitgebracht. Ein Haitianer
       oder ein Ausländer. Man hat nepalesische Blauhelmsoldaten beschuldigt. Und
       unter epidemiologischen Aspekten ist das plausibel. Aber es gibt keine
       Belege dafür. Auf die Nepalesen verweist der Ort, an dem die Epidemie
       begonnen hat: an einem Zufluss des Artibonite im Norden des Landes. Um es
       genau zu wissen, hätte man den infektiösen Keim im Stuhl der Leute
       nachweisen müssen.
       
       Ist das nicht geschehen? 
       
       Ich habe den größten Respekt für Edmond Mulet.
       
       Der seit 2004 Chef der UN-Stabilisierungsmission in Haiti ist. 
       
       Er hat uns von den Gangs befreit. Er hat sehr viel Mut. Und ich halte ihn
       für ehrlich. Ich glaube, er hätte es gesagt, wenn man das bei seinen
       Soldaten gefunden hätte. Aber es ist durchaus möglich, dass man nichts
       gefunden hat. Denn die Vibrio-Bakterie zeigt sich nur rund zwei Wochen
       lang. Danach sind sehr viel kompliziertere Studien nötig, um nachzuweisen,
       dass es sich um denselben Stamm handelt. Sicher ist, dass das CDC, das
       Center for Disease Control, 14 Stämme isoliert hat. Die Studien zeigen,
       dass die 14 identisch sind. Was bedeutet, dass es sich wahrscheinlich um
       ein und dieselbe Quelle handelt. Mehr kann man im Augenblick nicht sagen.
       
       Ist es sinnvoll, Wahlen während einer Cholera-Epidemie abzuhalten? 
       
       Die Wahlen sind eine Ablenkung. In einem Land mit extrem knappen Mitteln
       wäre es meines Erachtens richtig gewesen, den Ausnahmezustand zu
       dekretieren. Mit dem Hauptziel, sauberes Trinkwasser für 9 Millionen
       Haitianer zu beschaffen.
       
       Eine Mammutaufgabe. 
       
       Das ist gar nicht so schwierig. Wir betreuen den Slum gegenüber von unserem
       Institut: Der Slum "Village de Dieu" hat 200.000 Bewohner und 48 Stellen,
       an denen Wasser verkauft wird. Unsere Leute gehen da jeden Morgen hin und
       testen das Wasser, das in privaten Lastern und vom Staat ankommt. Außerdem
       geben wir selbst Wasser aus. Die zweite Priorität ist es, orales Serum zu
       verteilen. Damit können 99 Prozent der Leute, die Cholera bekommen,
       behandelt werden.
       
       Was ist orales Serum? 
       
       Ich habe es aus Bangladesch mit nach Haiti gebracht. Es ist eine
       Trinklösung aus Zucker, Salz und Natrium mit Wasser. Man kann sie selbst
       zubereiten. Und sie kann Leben retten. Als wir hier 1980 mit dem Institut
       angefangen haben, hatten wir mehr als 40 Prozent Sterblichkeit bei Kindern
       mit Durchfallkrankheiten. Von 100 Kindern, die mir gebracht wurden, sind 40
       gestorben. Mit dem Serum haben wir die Mortalität in eineinhalb Jahren auf
       weniger als 1 Prozent senken können
       
       War die Reaktion der Regierung auf die Cholera-Epidemie angemessen? 
       
       Ich glaube, angesichts der haitianischen Realität hat die Regierung das
       Maximum getan. Sie hat sofort das CDC eingeschaltet. Und das Labor hat sehr
       schnell den Keim isoliert. Nach 48 Stunden war klar, dass es Cholera war.
       Aber dort, wo die Cholera in Haiti angefangen hat, gibt es kaum
       medizinische Strukturen. Wäre es in Port-au-Prince passiert, hätte es zwar
       mehr Cholera-Fälle gegeben, aber weniger Tote. Es handelt sich um eine
       abgelegene Zone, wo die Leute nur schwer zu erreichen sind und wo es nur
       wenig Gesundheitsdienste gibt. Aber das ist nichts Neues. In anderen
       Ländern, wo die Cholera zum ersten Mal auftauchte, war es dasselbe. Zum
       Beispiel in Frankreich und in Italien im 19. Jahrhundert.
       
       Sie vergleichen die sanitäre Situation in Haiti heute mit der von
       Frankreich und Italien im 19. Jahrhundert? 
       
       Ein kleiner Teil der Bevölkerung Haitis - vielleicht 4 oder 7 Prozent - hat
       ein sanitäres Niveau wie in den reichsten Ländern Europas und in den USA.
       Die Mehrheit hingegen verfügt weder über Toiletten noch über Trinkwasser -
       wie in Europa im 19. Jahrhundert. Und das ist der Grund, weshalb Sie damals
       überall Cholera-Epidemien hatten. Deswegen ist es auch so, dass Afrika, wo
       die Cholera 1971 anlangte, heute 80 Prozent aller Cholera-Fälle weltweit
       hat.
       
       Wie lange wird die Cholera in Haiti akut sein? 
       
       Die letzte Cholera-Epidemie in Belgien und Frankreich hat von 1863 bis 1876
       gedauert: 13 Jahre. Die darauf folgende Cholera dauerte 24 Jahre. Und die
       jetzige Cholera tauchte erstmals 1971 in Indonesien auf, dann in
       Bangladesch, im Jahr 1965 hat sie Europa ein bisschen berührt, dann
       gelangte sie 1971 nach Afrika und 1991 nach Südamerika. Jetzt ist sie in
       Haiti. Sie ist 49 Jahre alt. Damit sie wieder verschwindet, müssen wir
       unsere Gewohnheiten ändern.
       
       Verschiedene Dinge spielen gegen uns: die schlechten sanitären Bedingungen;
       die Tatsache, dass es sich um eine Bakterie handelt, die gut im aquatischen
       Milieu lebt; dass wir oft Zyklone haben, bei denen Wasser von Fäkalmaterien
       mit Trinkwasser vermischt wird; und die hohe Mobilität der Leute. Es ist
       klar, dass wir mehrere kleine Epidemien haben werden. Aber wir werden auf
       diese Weise auch Immunität bekommen. Und das Gedächtnis der Cholera. Das
       ist eine gute Sache.
       
       Und wie lange bleibt die Cholera an einem Ort? 
       
       Nach Afrika ist sie 1971 gekommen und seither nicht wieder verschwunden.
       Südamerika erreichte sie 1991 und im Jahr 2009 gab es immer noch fünf Fälle
       in Paraguay. Das Problem ist, dass es sich um eine Bakterie handelt, für
       die der Mensch das Reservoir ist. Und die auch sehr gut im feuchten Milieu
       überleben kann. In der Mehrheit der Fälle sind die Leute durch Wasser
       angesteckt worden. Es gibt keinen einzigen nachgewiesenen Fall, in dem eine
       infizierte Person eine andere angesteckt hat.
       
       Welche Krankheit droht Haiti als nächste? 
       
       Ich mache mir Sorgen wegen der Tuberkulose. Die Situation in den Zelten
       begünstigt ihre Übertragung. Im Inneren der Zelte leben verschiedene
       Familien. Auch eine Typhus-Epidemie ist jederzeit möglich. Typhus überträgt
       sich wie Cholera. Und das einzige Reservoir ist der Mensch.
       
       2 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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