# taz.de -- Aus der Deutschland-taz: "Wir achten nicht auf Herkunft"
       
       > Wer ist deutsch? Wegen angeblicher Deutschenfeindlichkeit geriet ihre
       > Schule in die Schlagzeilen. Die SchülerInnen der Otto-Hahn-Gesamtschule
       > in Neukölln wehren sich gegen dieses Abstempeln.
       
 (IMG) Bild: Integriert ist, wer Akkusativ von Dativ unterscheiden kann? Teilnehmer eines Deutsch-Kurses.
       
       taz: Wie findet Ihr die Debatte um "Deutschenfeindlichkeit" an Schulen? Sie
       betrifft ja auch Eure Schule. 
       
       Dilek: Ich finde es total grauenhaft, wie Ausländer da dargestellt werden.
       An allen Schulen wird gemobbt - und es sind nicht nur die Migranten, auch
       die Deutschen tun das.
       
       Yachya: Eine Deutschenfeindlichkeit gibt es nicht. Es wird gemobbt, wer
       anders oder in der Minderheit ist. Auch Schüler, die lernen, die etwas
       erreichen wollen, werden gemobbt. Oder die, die sich für die Schule
       einsetzen.
       
       Wie ihr? 
       
       Yachya: Wir von der Schülervertretung werden nicht gemobbt, wir werden
       respektiert. Aber manchmal kommen Schüler, die fragen, ob wir nichts
       Besseres zu tun haben.
       
       Dilek: Respekt muss man sich nicht durch Schlägereien erwerben, sondern
       indem man zeigt, was man im Köpfchen hat.
       
       Kassem: Ich habe früher selbst zu denen gehört, die gemobbt haben.
       
       Warum hast Du das gemacht? 
       
       Kassem: Ich fand mich cool! Und es lag auch an der Gruppe, zu der ich
       damals gehörte. Wir haben die gemobbt, die schwach waren, sich nicht
       wehrten.
       
       Wie bist Du davon abgekommen? 
       
       Kassem: Durch meine Klassenlehrerin, die mit einer Versäumnisanzeige wegen
       Schulschwänzen drohte. Und durch meine Eltern: Die haben Druck gemacht. Ich
       habe verstanden, dass ich irgendwie die Kurve kriegen muss. Und jetzt bin
       ich in der Schülervertretung.
       
       Nochmal zur Debatte … 
       
       Yachya: Neukölln hatte ja schon immer einen schlechten Ruf. Aber als das
       mit der Deutschenfeindlichkeit aufkam, hat die Presse total übertrieben. Es
       gab einen Artikel, da hat der Reporter meine Aussagen so falsch
       zusammengeschrieben, dass er Araber und Türken wieder schlecht dargestellt
       hat. Nachdem der erschienen war, konnte ich zwei Nächte nicht schlafen.
       
       Dilek: Ich finde, wir sind keine brutale Schule. Ganz im Gegenteil: Wir
       organisieren unheimlich viel, planen Veranstaltungen wie die Schuldisco und
       die Projekttage. Und demnächst machen wir eine mit den Eltern, damit die
       sich besser kennenlernen, über ihre Kulturen und Geschichten erzählen.
       
       Yachya: Ja, über diese positiven Sachen berichten die Journalisten nie.
       Immer nur Negatives.
       
       Kassem: Dabei haben sich die Schulen in Neukölln unheimlich verbessert in
       letzter Zeit! Und plötzlich stand in der Zeitung, dass die Deutschen hier
       sich nicht mehr auf den Schulhof trauen.
       
       Moritz: Auf unserer Schule gibt es halt ein paar Chaoten bei Migranten.
       Aber bei den Deutschen gibt es prozentual genauso viele, sie sind halt nur
       insgesamt weniger. Deswegen setzen sich eben die Chaoten unter den
       Migranten durch und gehen manchmal auch auf die Deutschen los. Es gab
       Zeiten, da sind einige deutsche Schüler nicht auf den Hof gegangen, weil es
       Stress gab. Aber die Schule hat das eingedämmt und ein paar Chaoten von der
       Schule verwiesen.
       
       Dilek: Ich finde, die Schule und Neukölln insgesamt haben sich sehr
       verbesssert. Ganz ehrlich, vor ein paar Jahren konnte man nachts alleine
       gar nicht rausgehen! Jetzt geht das. Es gibt aber Schüler, die meinen, sie
       bräuchten keinen Abschluss. Und wer so denkt, hat die Hoffnung auf die
       Zukunft irgendwie aufgegeben. Das sind oft die, die von Zuhause nicht so
       viel Mut oder Unterstützung bekommen.
       
       Ugur: Meistens sind es die Schüler, die kaum Leistung bringen, die frech
       sind.
       
       Kassem: Die oft nur zum Stören in die Schule kommen.
       
       Haben sich Deine Leistungen verbessert, seit Du mit dem Mobben aufgehört
       hast, Kassem? 
       
       Kassem: Auf jeden Fall! Ich konzentriere mich jetzt auf mich selbst, ich
       will in die Oberstufe, ich will etwas erreichen in meinem Leben. Und was
       die anderen Schüler von mir denken, interessiert mich eigentlich nicht
       mehr.
       
       Max: Die, die mobben, haben oft kein Ziel. Denen wird auch zuhause keins
       vorgegeben, da helfen die Eltern nicht oder verstehen gar nicht, was in der
       Schule los ist.
       
       Habt Ihr außerhalb der Schule gemischte Freundeskreise oder eher Freunde
       aus der eigenen Community? 
       
       Ugur: Bei mir ist es multikulturell. Mein bester Freund ist Vietnamese, ich
       habe viel mit Leuten anderer Herkunft zu tun. Bei manchen weiß ich gar
       nicht mal, woher sie sind.
       
       Moritz: Man freundet sich mit den Leuten an, mit denen man sich gut
       versteht. In unserem Haus wohnen Griechen, Türken, Araber - wenn man sich
       gut versteht, dann unternimmt man auch was zusammen.
       
       Deutschenfeindlichkeit wird ja vor allem den türkisch- und
       arabischstämmigen Schülern angelastet. 
       
       Yachya: Und meistens ist dann auch der Islam gemeint. Aber es gibt auch
       Araber oder Türken, die Christen sind, die keine Religion haben oder nicht
       religiös sind. Trotzdem wird immer auf den Islam gezeigt.
       
       Eine Studie will sogar herausgefunden haben: je gläubiger, desto
       gewalttätiger seien muslimische Jugendliche. 
       
       Yachya: Ich finde, es ist genau anders: Je religiöser man ist, desto
       friedlicher ist man.
       
       Ugur: Das würde ich auch sagen. Obwohl ich nicht sehr religiös bin.
       
       Kassem: Also ich selber bin Moslem. Und bei mir war es so: Als ich noch
       gemobbt habe, da hat mich die Religion nicht so interessiert. Aber wenn man
       gläubiger wird, bessert man sich. Bei mir ist das auf jeden Fall so.
       
       Max: Also ich finde, dass die Leute, die ständig auf Allah schwören, oft
       nicht gerade die wirklich Gläubigen sind. Die sind eher so pseudo … Wenn
       man an das glaubt, was im Koran steht, dann muss man auch die
       entsprechenden Regeln respektieren. Aber diese Pseudos halten sich gar
       nicht daran.
       
       Dilek: Bei mir in der Familie ist es so: Niemand zwingt mich zum Glauben.
       Meine Eltern sagen: Du kannst beten, du kannst fasten, du kannst dich
       orientieren nach welcher Religion du willst. Man muss nicht unbedingt
       religiös sein, um friedlich oder tolerant oder integriert zu sein. Der
       Mensch muss ja von sich allein aus denken können.
       
       Könnt Ihr mit dem Begriff Integration etwas anfangen? 
       
       Yachya: Ich nicht. Man ist hier geboren. Man geht hier zur Schule. Man
       spricht die Sprache. Man macht Abitur. Sind wir also integriert oder nicht?
       
       Ugur: Die Politiker sagen die ganze Zeit: "Integriert euch!" Aber sie sagen
       nicht, wie oder was sie sich darunter vorstellen.
       
       Was stellt Ihr Euch denn vor? 
       
       Yachya: Integriert ist, wie wir jetzt sind.
       
       Kassem: Ein friedliches Zusammenleben, oder?
       
       Dilek: Dort, wo Du dich wohl fühlst, bist Du zuhause.
       
       Du fühlst Dich hier wohl? 
       
       Dilek: Zum Teil, ja.
       
       Zum Teil? 
       
       Dilek: Diese ganzen Mediendebatten, die Berichte in den Zeitungen, das
       stört einen schon. Ich finde das total doof.
       
       Yachya: Alle werden in einen Topf geworfen.
       
       Ugur: Mich stört das gar nicht, weil ich weiß, dass ich nicht so bin. Da
       können die Medien schreiben, was sie wollen. Und wenn irgend jemand auf der
       Straße denkt oder sagt, du bist dies, du bist das, du bist Deutscher, du
       bist Ausländer - das interessiert mich nicht. Soll er denken, was er will.
       
       Wenn Du diskriminiert wirst, weil Du nicht deutsch aussiehst oder eine
       andere Religion hast, stört Dich das nicht? 
       
       Ugur: Ja, okay, es stört mich schon, wenn da irgendwo mal wieder steht:
       "Alle Türken…" Ich hab die deutsche Staatsangehörigkeit und werde trotzdem
       immer noch Migrant genannt.
       
       Max: Ich finde, Integration ist ein Aufeinanderzugehen. Wer nach
       Deutschland kommt oder hier geboren ist und eine andere Tradition hat, muss
       sich ein bisschen an unsere Traditionen anpassen. Man kann nicht überall
       machen, was man will. Das kann man auch in der Türkei nicht. Einwanderer
       müssen jetzt nicht komplett die deutsche Kultur annehmen, aber sie müssen
       sich sich komplett nach den deutschen Regeln verhalten.
       
       Kassem: Ich bin noch kein deutscher Staatsbürger, werde es aber bald. Und
       wenn man mich dann fragt, ob ich Deutscher oder Libanese bin, würde ich
       immer noch beim Libanesen bleiben. Meine Eltern sind doch Libanesen! Ich
       wäre dann libanesischer Deutscher. Ich bin beides.
       
       Dilek: Ich bin Türkin, aber ich lebe deutsch und türkisch. Also bin ich
       beides.
       
       Könntest Du sagen, was an Dir türkisch, was deutsch ist? 
       
       Dilek: Türkisch ist mein Name und - so weit ich weiß - mein Aussehen. Und
       einige meiner Interessen sind türkisch. Ich liebe türkische Volkstänze.
       
       Und was ist deutsch? 
       
       Dilek: Ich nehme vieles locker. Ich finde, Deutsche nehmen auch vieles
       locker.
       
       Wie bitte? Was ist mit deutschen Tugenden wie Pünktlichsein,
       Ordentlichsein? 
       
       Dilek: Ich mag die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit.
       
       Yachya, kannst Du sagen, was an Dir deutsch ist, was arabisch? 
       
       Yachya: Eigentlich kann man das nicht sagen. Ich bin Araber mit deutsch…
       Nee…
       
       Ugur: Du meinst: Deutscher mit arabischen …
       
       Yachya: Ja, Deutscher mit arabischen Wurzeln. Aber man kann jetzt nicht
       sagen: Der Teil ist deutsch, der arabisch. Als wir aus Ostfriesland nach
       Berlin gekommen sind, ist meine Mutter hier erstmal nicht mit den
       arabischen Leuten klar gekommen. Dort waren die Deutschen wie eine Familie
       für uns. Unsere Vermieterin hat geweint, als wir weggezogen sind. Und ich
       würde immer noch gerne zurück.
       
       Max: Ich denke nicht darüber nach, wie deutsch ich bin. Ich weiß, dass ich
       Deutscher bin, soweit man zurückgucken kann. Irgendwann ganz hinten kommen
       dänische Vorfahren ins Spiel.
       
       Ugur: Ich glaube, wir alle achten nicht so sehr auf Herkunft. Alle sind
       Menschen. Wichtiger ist, ob einer einen guten Charakter hat.
       
       Kassem: Natürlich bin ich stolz darauf, dass ich Libanese bin. Aber andere
       Sachen sind viel wichtiger: Dass ich geschafft habe, mich zu ändern, zu
       einem besseren Schüler zu werden. Das schafft nicht jeder. Ich bin von
       unten nach oben gekommen.
       
       7 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marlene Goetz
 (DIR) Canset Icpinar
 (DIR) Alke Wierth
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kommentar aus der Deutschland-taz: Zehlendorf contra Kreuzberg
       
       Wenn es um MigrantInnen geht, fühle ich mich neuerdings immer angesprochen.
       Obwohl ich faktisch keine bin. Chronische Schwäche der Gastarbeiterkinder.
       
 (DIR) Aus der Deutschland-taz: "Ich bin ein schwuler Pitbull"
       
       Für seine Familie darf er alles sein, nur nicht schwul; für seine
       Castingagentur durfte er nur den Klischeetürken mimen. Aber er konnte es
       einfach niemandem recht machen.
       
 (DIR) Aus der Deutschland-taz: "Einwanderer sollten sich vermischen"
       
       Eine "rationale Einwanderungspolitik" fordert Ex-Bundesbank-Vorstand Thilo
       Sarrazin und findet, dass die Reaktionen auf sein Buch "Deutschland schafft
       sich ab" jedes Maß verloren hätten.
       
 (DIR) Aus der Deutschland-taz: Wie deutsch ist Berlin?
       
       Menschen aus 189 Ländern leben in Berlin, ein Viertel der Bewohner sind
       Einwanderer. Für viele macht genau das den Reiz der deutschen Hauptstadt
       aus.