# taz.de -- Interview mit chinesischem Künstler Ai: "In China hilft der Nobelpreis nichts"
       
       > Einige Dissidenten wie Liu seien zu elitär und hätten den Bezug zu den
       > Menschen in China verloren, kritisiert Ai. Er erzählt, welche Formen von
       > Opposition in China wichtig sind.
       
 (IMG) Bild: Kritisiert das Elitäre viele Dissidenten: Ai WeiWei im November in Peking bei der Begleitung eines befreundeten Künstlers vor Gericht.
       
       taz: Herr Weiwei, befördert der Nobelpreis für Liu Xiaobo die
       Menschenrechten in China? 
       
       Ai Weiwei: Der Preis sendet nur ein Signal aus: Er zeigt, welche Werte es
       jenseits von China gibt. Das zu wissen ist wichtig für junge Leute hier.
       Das stärkt den Respekt für universelle Werte. Doch weil China nie eine
       offene Diskussion darüber zugelassen hat, wer Liu ist und wofür er kämpft,
       verstehen hier nur wenige, was vor sich geht. Das ist eine Schande. So ein
       Preis wird in China aber nichts zu den Menschenrechten oder zur
       Demokratisierung beitragen, weil diese hier nur aus der täglichen Praxis
       kommen können. Damit meine ich Freiheiten, die hier die Menschen im
       alltäglichen Leben beschäftigen und nicht nur irgendein Manifest sind.
       
       Was halten Sie denn vom Reformappell "Charta 08", den Liu Xiaobo
       mitveröffentlicht hat? 
       
       Solche Manifeste kommen selbst aus einer kulturellen Elite, die
       normalerweise keine Verbindung zum täglichen Überlebenskampf der Menschen
       hat. Das ist das Problem der Charta 08. Die Gruppe um Liu, welche die
       Charta verfasste, besteht vor allem aus Akademikern, die sich nicht
       wirklich darum sorgen, was im schwierigen Alltag der Menschen passiert, wie
       etwa kürzlich das Großfeuer in Schanghai, das Erdbeben in Sichuan 2008 oder
       die Bergbauunglücke. Solche Probleme werden nicht allein durch
       Demokratisierung beseitigt, sondern müssen direkt angegangen werden. Die
       großen politischen Fragen dagegen sind für die Menschen zweitrangig, dafür
       haben sie im Alltag keine Zeit.
       
       Sie interessieren sich für die Namen der Toten von Schanghai? Warum sind
       die wichtig? 
       
       Schon 2008 nach dem Erdbeben in Sichuan haben wir gemerkt, dass die
       Regierung die Namen von Toten verschweigt, selbst bei einer
       Naturkatastrophe. Sie erklärten die Namen zur Geheimsache. Wir haben
       deshalb selbst Listen erstellt von 5.000 Schülern, die ums Leben kamen, als
       ihre schlecht gebauten Schulen einstürzten. Wir konnten Namen, Geburtsdaten
       und Schulkassen herausfinden. Das war wie ein Wunder. Wir erhielten viel
       Unterstützung in der Bevölkerung. Die Regierung hingegen sperrte meine
       Blogs. Später wurde ich von der Polizei verprügelt und musste in München im
       Krankenhaus operiert werden.
       
       Warum verschweigen die Behörden jetzt die Namen der Opfer in Schanghai? 
       
       In Schanghai wurde zur Entschuldigung gesagt, ein Drittel der Angehörigen
       wollte die Namen nicht veröffentlicht sehen. Das ist typisch für die
       Regierung. Die Namen sind wichtig: Ohne sie lässt sich nie wirklich klären,
       wer für das Feuer verantwortlich ist, wie viele Menschen dabei starben und
       wie ihre Angehörigen zu entschädigen sind. Die Namen der Toten sind
       wichtiger als die Zahl. Wir trauern ja nicht um Zahlen, sondern um
       Menschen. Mit Namen verbinden wir Lebensgeschichten und können so auch die
       Gesellschaft verstehen. Ohne Namen geht es nicht.
       
       Wenn die politischen Forderungen für den Alltag unwesentlich sind: Warum
       die harsche Reaktion der Führung? 
       
       Die Regierung hat nicht sehr hart reagiert - außer in Lius Fall.
       Zehntausend Menschen haben die Charta unterzeichnet, einer wurde zu
       Gefängnis verurteilt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Liu verdient keinen
       einzigen Tag in Haft, aber eine harte Reaktion auf seine Ideen und gegen
       seine Unterstützer sähe anders aus. Daran ändert auch die Tatsache nichts,
       dass derzeit in China immer wieder Menschen unter Arrest gestellt oder ins
       Gefängnis geworfen werden. Die Reaktion der Regierung ist nicht umfassend,
       sondern dumm.
       
       China fordert nun von anderen Regierungen, keine Vertreter zur
       Nobelpreiszeremonie zu schicken. 
       
       Das zeigt, dass die Regierung nicht sehr intelligent damit umgeht.
       
       Von außen sieht es so aus, als sei Chinas Regierung restriktiver geworden.
       Trifft das zu? 
       
       Die Regierung ist restriktiver geworden, aber gleichzeitig haben wir mehr
       Freiräume: Zum einen durch das Internet, zum anderen weil das Verständnis
       über Grundwerte gewachsen ist und die Menschen, vor allem die jungen, heute
       weniger ängstlich sind. Als ich kürzlich unter Hausarrest gestellt wurde,
       folgten trotzdem 800 Menschen der Einladung zu meiner Party aus Anlass des
       umstrittenen Abrisses meines Ateliers in Schanghai. Die Menschen stehen
       nicht aufseiten der Regierung, sondern sind heute viel unabhängiger und
       weniger ängstlich.
       
       Wie geht es mit Ihrem Atelier weiter? 
       
       Die Behörden beharren weiter darauf, dass es weg muss. Sie sagen, sie
       wollen mich dafür auf Heller und Pfennig entschädigen - sogar mehr, als ich
       für den Bau ausgegeben habe. Aber mir geht es nicht um das Geld, ich will
       das Gebäude behalten. Ich will wissen, warum es zerstört werden soll. Ich
       will die Wahrheit wissen. Sie haben mich vor den Olympischen Spielen 2008
       eingeladen, ein Kulturprojekt zu entwickeln. Wir haben zwei Jahre lang an
       dem Entwurf gearbeitet, wir haben ein Programm für Künstler geplant, die
       zeitweise in dem Gebäude leben und arbeiten sollten. Plötzlich sagen sie:
       Es geht nicht, Anweisung von oben, wir können nichts machen, wir zahlen
       Ihnen, was immer Sie dafür verlangen.
       
       Was waren das für Leute, die zu Ihrer Abriss-Party gekommen sind, obwohl
       Sie selbst im Hausarrest waren? 
       
       Das war ein Ausschnitt aus der Gesellschaft. Ich war selbst sehr überrascht
       darüber, darunter waren sechzig-, siebzigjährige Anwälte ebenso wie
       Mittelschüler. Die Polizei bestellte sie zum "Teetrinken" ein.
       
       Eine Umschreibung für polizeiliche Verwarnung. 
       
       Darunter waren Leute, die sich seit Jahren für die Bürgerrechte einsetzen,
       und andere, die mich einfach nur bitten wollten, ein Poster von mir zu
       signieren.
       
       Sind dies Zeichen, dass sich in der chinesischen Gesellschaft etwas bewegt? 
       
       Mein Studio in Schanghai liegt in einem schwer zu erreichenden Gebiet, man
       findet es nur auf Google-Maps. Und es gab Leute, die drei Tage mit dem Zug
       gereist sind. Die haben ihre kleine Tochter mitgebracht, um Gleichgesinnte
       zu treffen und dann wieder zurückzufahren. Wenn die Party ganz offen hätte
       stattfinden können, dann wären über zehntausend Menschen gekommen. Daran
       können Sie leicht erkennen, dass etwas in der Luft liegt. Die Leute spüren,
       wie lächerlich das ist, und wollen zeigen, dass sie den Wandel wollen.
       Obwohl die Party abgesagt wurde, kamen immer noch achthundert Leute. Ich
       war erstaunt. Auch später kamen Tag für Tag immer noch fünfzig Leute.
       
       Die Regierung wird nicht mehr so sehr ernst genommen? 
       
       Die Leute beginnen, ihre Freiheiten als etwas Selbstverständliches zu
       akzeptieren, und sie sehen, wie unfähig die Regierung ist.
       
       Aber viele Menschen - besonders außerhalb Ihres Landes - bewundern China
       für seinen wirtschaftlichen Erfolg. Ist das nicht ein Widerspruch zur Lage
       im Land? 
       
       Das scheint ihnen so, weil der Westen schwächer wird, wirtschaftlich und
       von seinen eigenen Wertvorstellungen her. Sie sprechen von China wie von
       ihrer Hausangestellten: "Sie mal, sie arbeitet so fleißig, Tag und Nacht!"
       Sie merken, dass sie ohne China viel schlechter leben würden. Die Chinesen
       sind die Arbeitskräfte der Welt. Denken Sie nur an die deutschen Autos.
       Denken sie an all die Geschäftsdeals. Sie brauchen China, um zu überleben.
       Natürlich ist China sehr effizient, denn es ist eine autoritär regierte
       Gesellschaft, deren Menschen die Opfer dafür bringen. In einer kleinen
       Stadt in der Provinz Guangdong verlieren 40.000 junge Menschen ihre Finger
       bei Arbeitsunfällen, das sollte man nicht als Erfolg bezeichnen. Die
       Umweltverschmutzung ist enorm. Ich glaube, der Westen tut nur so, als ob er
       es nicht sieht.
       
       Tut der Westen genug für die Unterstützung der Menschenrechte in China? 
       
       Es geht nicht nur um die Menschenrechte in China. Der Kampf für die
       Menschenrechte ist ein tausendjähriger Kampf für die Zivilisation in der
       ganzen Welt, und es geht stets um den Schutz universeller Werte. Wer sie
       verletzt, sollte kritisiert und boykottiert werden. Die Menschenrechte sind
       kein Gefallen, den uns der Westen tut. Sie sind kein Schatz, den der Westen
       besitzt. Es sind Werte, die nicht aus wirtschaftlichen Interessen verhökert
       werden dürfen.
       
       Welche Folge hat Chinas neue Stärke? Politiker und Geschäftsleute im
       Ausland fürchten sich jetzt mehr als früher, die Pekinger Regierung zu
       verärgern. 
       
       Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Die demokratischen Gesellschaften
       verlieren ihre geistige Stärke, sie verneigen sich vor einer Gesellschaft,
       die keinen Respekt vor diesen grundlegenden Werten zeigt - das ist wirklich
       beschämend. Wer darauf vertraut, dass sich China international
       verantwortlich verhalten wird, ist sehr naiv. Dies ist ein kommunistischer
       Staat, der es seinem Volk sechzig Jahre nach seiner Gründung immer noch
       nicht erlaubt, zu wählen. Der keine einzige unabhängige Zeitung zulässt,
       und in dem es keine einzige Gerichtsverhandlung gibt, in der die Justiz
       nicht von der Politik manipuliert wird. Was ist denn das für eine
       Gesellschaft, mit der Sie es da zu tun haben? Das ist doch verrückt.
       
       Welche Rolle sollte ein Künstler in einer solchen Gesellschaft spielen? 
       
       Jeder Mensch, Künstler oder nicht, muss für seine Rechte kämpfen, das ist
       ganz wesentlich. Als Künstler sollte ich fähiger sein, mich auszudrücken,
       ich sollte umso fester an die Meinungsfreiheit glauben. Ich muss eine Form
       schaffen, die es mir erlaubt, mich auszudrücken und mit anderen zu
       kommunizieren. Wenn ich das nicht tue, was bin ich dann für ein Künstler?
       Wir müssen unser Recht, uns frei auszudrücken, schützen, nicht nur für uns
       selbst, sondern auch für andere, für eine bessere Gesellschaft. Kunst
       sollte der Gesellschaft nutzen. Künstler bauen keine Nahrungsmittel an, sie
       stellen keine Textilien her, sie produzieren eigentlich nichts - aber sie
       können dennoch ihre Funktion für eine bessere Gesellschaft haben.
       
       Teilen viele Ihrer Kollegen diese Ansicht? 
       
       Nein, ich stehe oft ganz allein in diesem Kampf. Ich habe das Gefühl, dass
       ich in einem tiefen Tunnel stecke. Meine Ideen und Werte werden von meinen
       Künstlerkollegen weniger akzeptiert als von jüngeren Menschen. Jugendliche
       um die zwanzig, dreißig, die haben weniger Barrieren, sie verstehen sehr
       gut, was ich tue.
       
       Nicht die älteren, die unter den politischen Kampagnen der KP gelitten
       haben? 
       
       Nein, es sind die Jungen: Die merken, warum sie im Internet keine
       Information über mich finden, wenn sie meinen Namen eintippen. Plötzlich
       fällt ihnen auf: Da ist diese interessante Person, ein Künstler, warum kann
       ich auf chinesischen Webseiten nichts über ihn erfahren? Es braucht nicht
       viel, um aus einer ganz normalen Person jemanden zu machen, der sich für
       seine Rechte einsetzt - das dauert manchmal nur eine Sekunde.
       
       Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie mit Ihren Aktionen nur Aufmerksamkeit
       erregen wollen, um den eigenen Marktwert zu steigern. 
       
       Das ist kein Problem: Jeder sollte für sich selbst werben - es hängt nur
       davon ab, was man vermarkten will, welchen Inhalt. Solche Kritik zeigt nur,
       dass ich ganz erfolgreich mit dem bin, was ich tue. Vermarkten? Hören Sie:
       Die Generation meiner Eltern hatte nicht das Recht, ihre Meinung zu sagen,
       für einen einzigen Satz wurden sie für zwanzig Jahre in die Verbannung
       geschickt. Meine ganze Familie musste leiden: Mein Vater war im Gefängnis,
       ich war in der Verbannung. Schon in den siebziger Jahren habe ich die die
       erste unabhängige Künstlerbewegung, die Gruppe "Sterne" mitgegründet. Dann
       ging ich in die Vereinigten Staaten, dort habe ich studiert. Ich habe
       Untergrundliteratur herausgegeben, eine erste Art-Space geschaffen, im Jahr
       2000 meine erste Kunstshow "Fuck-off" kuratiert. Man kann sagen, das ist
       Selbstvermarktung, aber eine Vermarktung von Menschenrechten, eine
       Vermarktung der Redefreiheit: Ich glaube nicht, dass ich mich dafür schämen
       sollte.
       
       Welche Zukunft sehen Sie für sich? 
       
       Ich habe keine Zukunft. An diesem Morgen bin ich aufgewacht und habe mir
       gedacht, das wird wieder ein anstrengender Tag. Und dann habe ich gedacht,
       vielleicht wird heute jemand an die Tür klopfen und sagen: Wir müssen Sie
       stoppen! Man vermarktet sich nicht selbst, indem man sich diese Art von
       Gesellschaft aussucht. Die Blutung in meinem Gehirn hat mich dem Tode nahe
       gebracht.
       
       Die Folge von Polizeischlägen in Sichuan. 
       
       Jeder weiß, dass das, was ich tue, sehr gefährlich ist, meine Familie,
       meine Freunde sagen es mir. Sogar die Geheimpolizisten kommen zu mir und
       sagen, wir finden gut, was du tust, aber wir müssen dir sagen, es ist sehr
       gefährlich. Man kann auswandern. Ich kann überall überleben, ich kann in
       allen Lebenslagen ziemlich erfolgreich sein. Aber dann würde ich die jungen
       Leute ohne Hoffnung lassen. Ich will nicht, dass die junge Generation
       dasselbe durchmachen muss, was ich erlebt habe. Für mich ist es okay. Ich
       bin schon so weit. Aber diese jungen Leute sollten diese Erfahrungen nicht
       kennenlernen müssen.
       
       Sehen Sie die Chance auf einen Wandel? 
       
       Ja, sonst würde ich das alles nicht machen. Ich bin zutiefst überzeugt,
       dass der Wandel jeden Moment kommen kann. Wenn sie es zulassen, dass ich
       diese Dinge offen diskutieren kann, dann können wir sicher sein, dass sich
       die Situation innerhalb weniger Monate verändert.
       
       Andernfalls landen Sie kurz über lang im Gefängnis? 
       
       Die Medien sind merkwürdig. Einerseits sagen sie: Das ist alles so
       gefährlich! Andererseits fragen sie mich, warum ich noch nicht inhaftiert
       bin. Hören Sie: Es sitzen schon so viele Leute im Gefängnis, ohne dass sich
       die Leute darüber aufregen. Was aus mir wird, ist mein Problem, ich werde
       damit fertig werden müssen.
       
       9 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sven Hansen
 (DIR) Jutta Lietsch
       
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