# taz.de -- Porträt Nobelpreisträger Liu Xiaobo: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders"
       
       > Sein Stuhl in Oslo bleibt leer: Die Nobelpreisfeier findet am Freitag
       > ohne den Preisträger Liu Xiaobo statt. Porträt eines mutigen chinesischen
       > Bürgerrechtlers.
       
 (IMG) Bild: Der streitbare und dennoch hochgeachtete inhaftierte Nobelpreisträger Liu Xiaobo.
       
       Liu Xiaobo hat sehr viel geschrieben. Gedichte, Essays, Literaturkritik,
       Bücher über Philosophie und über Nationalismus, Artikel über Marx und die
       Welt. Er spielt viele Rollen, ob er will oder nicht: Bürgerrechtler,
       Schriftsteller, Demokratieaktivist, Denker und Ästhetiker, "Werkzeug des
       Westens". Reaktionen auf seine Auszeichnung gibt es ebenfalls sehr viele.
       Was hat mich bei der Übersetzung seiner Biografie am meisten beeindruckt?
       Auf jeden Fall die Persönlichkeit - impulsiv, tollkühn, stur.
       
       Irrational und stolz darauf. Sehr empathisch, sehr gefühlvoll, sehr
       selbstkritisch. Und dann die Offenheit in seinen wichtigsten Werken. Das
       sind für mich die Manifeste und Erklärungen, die einfordern, was in der
       chinesischen Verfassung garantiert ist. Hier stehe ich, ich kann nicht
       anders. Hier in China. So hat er immer wieder gehandelt. Ob das nun richtig
       war oder nicht, oder vielleicht auch verhängnisvoll, besonders 1989,
       darüber hat er selbst immer wieder nachgedacht. Liu Xiaobo ist ehrgeizig,
       er hat sich auch damals selbst in den Mittelpunkt gerückt. Und er macht
       immer weiter. Bleibt in China, geht 1989 extra zurück, um sich in Gefahr zu
       begeben, und bleibt auch 1993 nicht in Australien, wo er als Gastdozent
       eingeladen war.
       
       Liu Xiaobo ist ein Bürgerrechtler in China. Das ist seine wesentliche
       Rolle, heute wie vor zwanzig Jahren. Auch damals wurde er bereits für den
       Friedensnobelpreis nominiert, von einigen Künstlern und Schriftstellern und
       einem Museumsdirektor in Norwegen. Auch damals war er gerade im Gefängnis.
       Vor zwei Jahren, als Liu Xiaobo gerade frei war, hat er sich für die
       Nominierung der Tiananmen-Mütter eingesetzt, jener Mütter, deren Kinder
       1989 auf dem Tiananmen-Platz getötet wurden. Das hat er immer wieder getan,
       auch 2001 und 2002. Die Tiananmen-Mütter haben Namenslisten erstellt und
       fordern immer wieder die Aufarbeitung der Pekinger Ereignisse von Juni
       1989.
       
       "Ich habe keine Feinde" 
       
       In der "Charta 08" und in Liu Xiaobos Verteidigungsreden vor Gericht, die
       vielen, die nicht selbst inhaftiert sind, viel zu weich erscheinen, gibt es
       Passagen, die beinahe wörtlich wiederholen, was Liu Xiaobo und seine
       Freunde bereits 1989 auf dem Tiananmen-Platz gesagt haben. "Wir haben keine
       Feinde" hieß es damals. "Ich habe keine Feinde" sagt Liu Xiaobo jetzt. Er
       war sehr erleichtert, als er erfuhr, dass er als einziger der Autoren und
       Unterzeichner der "Charta 08" angeklagt und verurteilt wurde. Bei seinen
       vielen anderen Aktionen blieb er ebenfalls einfach in Peking und wartete
       auf seine Verhaftung, auf Gefängnis und "Umerziehung durch Arbeit". Er kann
       offenbar wirklich nicht anders.
       
       Niemand, nicht einmal er selbst ist mit allem einverstanden, was er
       geschrieben hat. Aber alle Chinesen, mit denen ich seit dem ersten
       Weihnachtstag 2009, als er zu elf Jahren Haft verurteilt wurde, gesprochen
       habe, schämen sich für ihr Land. Wegen dieses Urteils. Ich selbst fange
       nicht davon zu reden an, wenn ich mit chinesischen Freunden und Bekannten
       spreche. Es gibt ja genügend andere Themen.
       
       Aber was mich am meisten überrascht hat, war der chinesische Offizier, der
       von sich aus die Sache erwähnte und darüber sprechen wollte. Er habe Liu
       Xiaobo noch als Philosophieprofessor in Erinnerung, sagte er. Bei einem
       Symposium an seiner Universität habe er Liu Xiaobo eingeladen, das sei
       damals seine Aufgabe gewesen, in der offiziellen Studentenorganisation.
       Deshalb war er an diesem Weihnachtstag so bestürzt und beschämt.
       
       Nicht links, nicht rechts 
       
       Es geht nicht darum, was Liu Xiaobo alles gesagt hat, was alles fragwürdig
       ist an seinen Schriften und Meinungen. Es geht darum, wofür er seit über
       zwanzig Jahren steht. Nein, das ist nicht hauptsächlich Privatisierung und
       hat mit links oder rechts wenig zu tun. In seinen Aktionen in China steht
       Liu Xiaobo für Aufarbeitung ein, für eine schonungslose Aufarbeitung der
       Zeitgeschichte. Für Redefreiheit, Versammlungsfreiheit und andere
       Grundrechte, die auch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) immer wieder
       garantiert hat. 1945 und 1948, vor der Gründung der Volksrepublik, und in
       der heute gültigen Verfassung.
       
       Ich habe von Offenheit gesprochen, von Selbstkritik. Manche, die nicht im
       Gefängnis sind, fürchten, Liu Xiaobo könnte wieder ein Geständnis schreiben
       oder unterschreiben, wie 1991, um freizukommen. In Wirklichkeit hat er oft
       gesagt, er würde gern wieder ins Gefängnis gehen, um sein Geständnis von
       damals zu widerrufen. Er hat sich selbst am schärfsten kritisiert. Und
       unter den Exponenten der Protestbewegung von 1989 ist er wahrscheinlich der
       schärfste Kritiker der damaligen Haltungen, die unter den Regierungsgegnern
       vorherrschten.
       
       "Wir machen Revolution, wir praktizieren Demokratie, wir lassen nur unsere
       Meinungsfreiheit zu und verbieten diejenige der anderen. Wir verhalten uns
       genau wie Mao Tse-tung und dulden keine andere Meinung. Wir unterdrücken
       genau wie die Handlanger der KPCh diejenigen Bilder der Journalisten, die
       uns nicht gefallen, wir nehmen die Filme aus der Kamera und zerschlagen die
       Kamera. Um der Regierung keine Handhabe gegen uns zu geben, liefern wir
       jene drei Männer aus Hunan, die das große Maoporträt mit Farbe bewerfen,
       der Polizei aus, damit der eine dann zu 15, der andere zu 18 und der letzte
       zu 20 Jahren schweren Kerkers verurteilt wird", schrieb er im Juni 1993 in
       der Zeitung Central Daily News, die in Taiwan erscheint.
       
       Diese Art von Selbstbetrachtung ist nicht häufig unter
       Demokratieaktivisten, und sie ist auch nicht gerade beliebt. Besonders
       unter prominenten Chinesen im Exil wurde gerade gegen diesen Artikel
       gewettert, den Liu Xiaobo nach Taiwan schmuggeln ließ. Liu Xiaobo ist
       umstritten, auch unter Gegnern des Regimes. Aber in Wirklichkeit sind
       selbst die schärfsten Kritiker unter ihnen froh über seinen Nobelpreis,
       auch jene, die finden, er hätte ihn nie erhalten sollen. Sonst würde sie
       nämlich niemand beachten.
       
       Liu Xiaobo ist in den siebziger Jahren groß geworden, hat 1978 mit dem
       Studium begonnen und bekam 1988 sein Doktorat. Er hat die Kulturrevolution
       noch als Kind miterlebt und setzt sich seit Langem für eine gründliche
       Aufarbeitung der damaligen Gewalttaten ein, im Gegensatz zu manchen anderen
       Demokratieaktivisten. 1978, als unter Deng Xiaoping die Politik der Reform
       und Öffnung eingeleitet wurde, entstand die "Mauer der Demokratie" in
       Peking im Rahmen des "Pekinger Frühlings", der kaum ein Jahr dauerte.
       Demokratieaktivisten benutzten damals die Mauer als Wandzeitung. In den
       achtziger Jahren gab es immer wieder Studentendemonstrationen. Und von
       Regierungsseite gab es dagegen eine "Kampagne gegen bürgerliche
       Liberalisierung" und eine "gegen geistige Verschmutzung".
       
       Liu Xiaobo begann Ende der siebziger Jahre, Gedichte zu schreiben. Er
       gehört zur selben Generation wie Yu Jian aus Kunming, von dem jetzt endlich
       ein Gedichtband auf Deutsch erhältlich ist, in der Übersetzung von Marc
       Hermann. Einer von Liu Xiaobos Kommilitonen war Xu Jingya, der durch seine
       viel diskutierten Essays entscheidend dazu beitrug, dass damals sehr viele
       in China und darüber hinaus von chinesischen Gedichten sprachen.
       
       Nobelpreis für die Seelen 
       
       Bei Ling, der Autor seiner jetzt erschienenen Biografie, spricht von einer
       Pflicht gegenüber seinem alten Freund Liu Xiaobo, die er durch diese
       Biografie ein wenig abzutragen versuchte. Sie haben zusammen mit Meng Lang
       2001 den unabhängigen chinesischen PEN-Club gegründet. Manche der
       Mitglieder sind im Exil, die meisten veröffentlichen hauptsächlich
       außerhalb des chinesischen Festlandes, also in Hongkong und Taiwan und im
       sonstigen Ausland.
       
       Liu Xiaobo und Bei Ling hatten auch viele Differenzen. Anfang 1989 wohnten
       sie im selben Zimmer in New York. Ende April ging Liu Xiaobo zurück nach
       China, um an der Protestbewegung teilzunehmen. Bei Ling hatte versprochen,
       mit- oder zumindest gleich nachzukommen. Er kam doch nicht, aber jetzt hat
       er doch noch etwas Verrücktes für seinen alten Freund getan: eine Biografie
       in Rekordzeit geschrieben.
       
       Liu Xiaobo hat den Nobelpreis den Seelen der 1989 getöteten Menschen
       gewidmet. Dazu gehören für ihn auch die getöteten Soldaten, das hat er
       ausdrücklich geschrieben. Er wollte sich 2009 erneut für einen
       Friedensnobelpreis für die Tiananmen-Mütter einsetzen. Stattdessen wurde er
       seit Ende 2008 gefangengehalten und am 25. Dezember 2009 zu elf Jahren
       verurteilt. Die Zahl 11 war längere Zeit danach in China im Internet tabu.
       
       Liu Xiaobo hat den Friedensnobelpreis aus ähnlichen Gründen erhalten wie
       Martin Luther King oder Aung San Suu Kyi. Er kämpft mit friedlichen Mitteln
       für Bürgerrechte in seinem Land und wird dafür verfolgt. Jetzt gibt es eine
       Biografie von ihm, die ich mit übersetzt habe. Hoffentlich kann sie dazu
       beitragen, dass sich viele Menschen etwas genauer über ihn informieren.
       
       9 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Winter
       
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