# taz.de -- Ahmet Toprak über jugendliche Migranten: "Sie sind fasziniert von dieser Macht"
       
       > An der Schule riefen sie ihn "Scheißtürke", heute erforscht Ahmet Toprak
       > gewalttätige Migrantenjungs. Deutschenfeindlichkeit existiert, sagt er.
       > Eigentlich gehe es aber um Diskriminierung.
       
 (IMG) Bild: Kann zum Ort des Grauens werden - egal ob deutsch oder nicht: Schulhof.
       
       taz: Herr Toprak, derzeit wird viel über Deutschenfeindlichkeit
       insbesondere unter muslimischen Schülern gesprochen. Wie bewerten Sie das? 
       
       Ahmet Toprak: Ich finde den Begriff unglücklich. Es geht um
       Diskriminierung. Und Diskriminierung gibt es immer dort, wo es Machtgefälle
       gibt. Früher waren die Schulen besser durchmischt. Wenn deutsche Schüler in
       Berliner oder Essener Schulen jetzt in der Minderheit sind, dann werden sie
       diskriminiert. Für uns Wissenschaftler ist das etwas ganz Triviales, weil
       Minderheiten immer diskriminiert werden.
       
       Ist das, was sich an den Schulen abspielt, also keine Verschärfung? 
       
       Grundsätzlich nicht. Bei manchen Schülern mit Migrationshintergrund hat
       sich ein enormer Frust aufgebaut, weil sie sich an der Gesellschaft nicht
       so beteiligen können, wie sie wollen. Das Problem beobachten wir ja in
       Hauptschulen in schwierigen Quartieren, von denen wir wissen, dass zum
       Beispiel in Berlin nur 8 Prozent der Schüler eine Lehrstelle bekommen. Mit
       der sogenannten Deutschenfeindlichkeit lassen sie den Frust raus.
       
       Hat Diskriminierung an den Schulen früher eine andere Gruppe getroffen,
       weil sie in der Minderheit war? 
       
       Ja, genau das will ich damit sagen. Ich habe in den 80er Jahren die
       Hauptschule besucht, und da war es an der Tagesordnung, dass wir beleidigt
       und drangsaliert wurden. Knoblauchfresser, Scheißtürke, das war für uns
       etwas Alltägliches. Wir waren damals in der Minderheit, und es gab ein
       klares Machtgefälle: Die deutschen Jugendlichen hatten das Sagen. Heute ist
       das an manchen Schulen ganz anders, da sind die Deutschen in der
       Minderheit, und die Migranten fühlen sich mächtig.
       
       Also alles nicht so schlimm? 
       
       Nein. Natürlich gibt es dieses Problem, das muss man ganz klar sagen.
       Diskriminierung kann man nicht gutheißen. Aber man muss sie im Zusammenhang
       sehen.
       
       Für Familienministerin Schröder ist Deutschenfeindlichkeit ein Problem in
       dem Gefüge von Islam, Machogehabe und Gewalt. Sie sagt, islamische
       Religiosität korreliere mit Männlichkeitsnormen, die zu Gewalt führen. Was
       meinem Sie? 
       
       Es gibt diesen Dreiklang, aber der Zusammenhang ist bedingt. Jugendliche
       mit wenig Selbstwertgefühl, die keine Perspektive haben, suchen
       Identifikationsfiguren. Wenn sie keine finden, spielen andere Faktoren wie
       Männlichkeit oder Religion eine Rolle. Diese Faktoren können zu
       Gewaltbereitschaft beitragen, müssen aber nicht. Man muss also fragen,
       warum sich diese Jugendlichen auf Männlichkeitsnormen und Religion so
       kaprizieren. Untersuchungen zeigen: Wenn an anderer Stelle etwas nicht
       funktioniert, werden Männlichkeit und Religion zu Ankern, über die sich die
       Jugendlichen in der Gesellschaft positionieren. Diese Mischung kann zu
       Gewalt führen, muss es aber nicht.
       
       Sie sagen also: Die Religion ist nicht die Ursache, sondern ein möglicher
       Schritt auf dem Weg zur Gewalt. Vor wenigen Monaten hat aber eine Studie
       des Kriminologischen Instituts in Niedersachsen für Furore gesorgt, die so
       zusammengefasst wurde: Je religiöser junge Muslime sind, desto härter
       schlagen sie auch zu. 
       
       Auch die Studie von Christian Pfeiffer zeigt, dass nicht die Religion die
       Ursache für die Gewalttätigkeit ist, sondern dass es die sozialen und
       wirtschaftlichen Probleme der Jugendlichen sind. Die Religion kommt dann
       irgendwann dazu. In den Medien ist das verkürzt dargestellt worden. Richtig
       ist: Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang zwischen Religiosität und
       Gewalt, sondern ein Ursachenbündel, das zur Gewalttätigkeit führt. Religion
       kann dazugehören. Wobei überprüft werden muss, ob die Jugendlichen wirklich
       religiös sind oder nur auf einer religiösen Folie argumentieren, was etwas
       völlig anderes ist.
       
       Sind muslimische Jugendliche nun gewaltaffiner oder sind sie es nicht? 
       
       Die Religion ist nicht das Entscheidende. Es gibt Untersuchungen, die
       zeigen, dass Migrantenjugendliche - unabhängig von ihrer Religion -
       gewaltaffiner sind. Die Wissenschaftler sind sich aber im Kern einig, dass
       Religion und ethnische Herkunft nicht die entscheidenden Kriterien sind.
       Wichtiger sind Bildung, Perspektivlosigkeit, eingeschränkte verbale
       Fähigkeiten, eigene Gewalterfahrungen, ein traditionelles
       Männlichkeitsbild. Bei Migranten ist all das häufiger anzutreffen, weil sie
       vor allem in sozialen Unterschichtsmilieus mit geringem Bildungsniveau
       unterwegs sind.
       
       Aber nicht jeder Hauptschüler mit arbeitslosen Eltern schlägt zu. Warum
       kommt das bei Jungen aus Einwandererfamilien so häufig vor? 
       
       Viele von ihnen haben nicht gelernt zu argumentieren, einen Kompromiss zu
       suchen, Konflikte auszuhandeln. Sie haben in der Familie und auch bei
       Freunden gelernt, dass Gewalt Probleme löst. Sie haben gelernt: Wenn ich
       Gewalt anwende, bin ich stark, dann habe ich Macht. Jugendliche, die Gewalt
       anwenden, sind meist selbst Opfer geworden.
       
       Was läuft in diesen Familien ab? 
       
       Häufig gibt es Arbeitslosigkeit, Alkoholprobleme, fehlende Kommunikation.
       Die Eltern sind schlechte Vorbilder: Der Vater schlägt die Mutter oder
       umgekehrt, die Kinder beobachten das. Sie sind fasziniert von dieser Macht.
       
       Ist der Vater das Problem? 
       
       Der Vater ist bei häuslicher Gewalt häufig der Täter. Man darf aber auch
       die Geschwister nicht vergessen: Es kommt auch vor, dass der große Bruder
       den kleinen schlägt.
       
       Die Väter in solchen Familien haben häufig Probleme, ihr Leben auf die
       Reihe zu bekommen. Untergräbt das nicht ihre Autorität? 
       
       Genau darum geht es. Die Väter versuchen mit Gewalt ihre Autorität
       durchzusetzen, obwohl sie häufig von den Kindern abhängig sind: Die
       übersetzen und können sich viel besser in der deutschen Gesellschaft
       bewegen.
       
       Der Vater vermittelt also ein Männlichkeitsbild, das er gar nicht erfüllt.
       Warum machen die Söhne das mit? 
       
       Die Jugendlichen machen häufig eine Gratwanderung: Sie dulden dieses Bild,
       bis sie erwachsen sind, und gehen dann aber den eigenen Weg.
       
       Perspektivlose Hauptschüler mit Migrationshintergrund gibt es sehr viele.
       Bedeutet das automatisch, dass unsere Gesellschaft vor einem massiven
       Gewaltproblem steht? 
       
       Wenn sich die Gesellschaft entscheidet, auf Konfrontation und
       Schuldzuweisungen zu setzen, wie es derzeit der Fall ist, dann kann ich mir
       vorstellen, dass sich die Situation zuspitzen wird. Die Migranten sind
       inzwischen bereit, sich zu wehren. Diskriminierung gab es auch in der
       ersten Generation, aber die ist anders damit umgegangen. Sie hat sich als
       Gast gefühlt, die dritte und vierte aber will dazugehören, will mitreden
       und die gleichen Rechte und Chancen haben. Denen muss man mehr Angebote
       machen. Aber auch wenn einiges verbessert werden muss, vieles in
       Deutschland funktioniert gut. Wir werden keine Verhältnisse wie in den
       französischen Vororten bekommen.
       
       Sie haben als Sozialarbeiter mit gewalttätigen Jugendlichen gearbeitet. Was
       macht man mit denen? 
       
       Wir haben Antiaggressionstrainings durchgeführt und versucht, den
       Jugendlichen Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung aufzuzeigen. Man könnte
       auch sagen: soziale Kompetenz, die haben sie nämlich nicht gelernt.
       
       Das hört sich in der Theorie sehr schön an. Aber wie funktioniert das
       praktisch bei jungen Männern, die mehrfach gewalttätig geworden sind? 
       
       Die Trainings laufen zwölf Wochen lang. Die Täter müssen sich zunächst
       Fotos ihrer Opfer ansehen, damit werden sie erstmals mit den Folgen ihrer
       Tat konfrontiert. Sie versuchen, sich zu rechtfertigen. Der hat meine
       Freundin blöd angeguckt, heißt es dann zum Beispiel. Wir arbeiten sehr viel
       mit Rollenspielen. Dabei geht es natürlich auch um Männlichkeitsbilder.
       
       Und was ist Ihre Erfahrung, Fruchtet das? 
       
       Zumindest laut Selbsteinschätzung der Jugendlichen hat sich etwas geändert.
       Nach sechs Monaten sagen sie: Ich gehe mit Konflikten anders um. Harte
       Daten gibt es nicht.
       
       15 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine am Orde
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Deniz Yücel
       
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