# taz.de -- Interview mit kubanischem Dissidenten: "Es ist eine revolutionäre Situation"
       
       > Regierungskritische Oppositionelle in Kuba werden aufgefordert,
       > auszureisen. Der bekannte kubanische Dissident Guillermo Fariñas wünscht
       > sich dazu eine deutliche Kritik aus Europa.
       
 (IMG) Bild: Guillermo Fariñas, während der Regeneration nach seinem Hungerstreik im November 2010.
       
       taz: Herr Fariñas, die Appelle von Jerzy Buzek, dem Präsidenten des
       Europäischen Parlaments, haben nichts bewirkt. Sie werden nicht zugegen
       sein, wenn Ihnen der Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen wird.
       Haben Sie das so erwartet? 
       
       Guillermo Fariñas: Ich wäre sehr gern nach Straßburg gereist. Aber viel
       Hoffnung hatte ich nicht. Und vorige Woche wurde mir endgültig klar, dass
       ich die Papiere nicht bekommen würde. Ich habe zwar einen Pass, aber um zu
       reisen, benötige ich eine Ausreiseerlaubnis. Die habe ich nicht erhalten.
       
       Warum nicht? 
       
       Ich denke, weil die Regierung den direkten Austausch der pazifistischen
       Opposition auf Kuba, zu der ich gehöre, und den Abgeordneten des
       EU-Parlaments und den Unterstützern in Europa fürchtet. Es gibt einen
       Unterschied zwischen dem direkten Dialog und den überwachten
       Telefongesprächen.
       
       Wird es eine Videobotschaft für das EU-Parlament oder etwas Ähnliches von
       Ihnen geben? 
       
       Bisher ist so etwas nicht geplant.
       
       International sind Sie vor allem durch Ihre mehr als zwanzig Hungerstreiks
       bekannt geworden. Warum haben Sie derart oft zu diesem Mittel gegriffen? 
       
       Der Hungerstreik ist ein extremes Mittel, damit die Regierung uns und
       unsere Position überhaupt wahr- und ernst nimmt. Aber es ist nur das letzte
       Mittel, denn ich bin auch als unabhängiger Journalist tätig. Ich schreibe,
       informiere in einem Blog und in einer unabhängigen Presseagentur, die Foro
       Cubanácan Press heißt. Da wird über die Realitäten und Meinungen berichtet,
       die in den Medien des staatlichen Sozialismus keine Berücksichtigung
       finden. Zudem arbeiten wir im Rahmen des Netzwerkes der unabhängigen
       Bibliotheken und sorgen dafür, dass die Bevölkerung etwas anderes lesen
       kann als die durch die Zensur gebilligten Publikationen.
       
       Für die Regierung sind Sie ein gewöhnlicher Krimineller. 
       
       Oh, das ist ein interessantes Thema. Am 8. März dieses Jahres erschien ein
       Artikel von Alberto Nuñez Betancourt, einem der Vizedirektoren der
       Parteizeitung Granma, in dem ich verschiedener krimineller Delikte
       beschuldigt wurde. Von meinem Einsatz im Krieg in Angola, von meiner
       Ausbildung in Russland, von der revolutionären Vergangenheit meiner Familie
       - von alledem war keine Rede. Einige Wochen später, ich war dem Tode nahe,
       erschien in derselben Zeitung ein Interview mit meinem Arzt, und ich wurde
       da als gewöhnlicher Bürger in durchaus respektvoller Weise dargestellt.
       Hier in Santa Clara weiß jeder, der mich kennt, dass ich ein Pazifist bin
       und niemanden schlagen würde, wie es mir in der Granma zur Last gelegt
       wurde.
       
       Welche Bedeutung hat der EU-Menschenrechtspreis für Sie und für Kuba? 
       
       Dieser Preis ist keine Auszeichnung für Guillermo Fariñas, sondern für den
       Widerstand des kubanischen Volkes. Er ist zugleich eine Verpflichtung, bis
       wir es endlich geschafft haben, den eigentlichen Preis zu erringen: die
       totale Demokratisierung Kubas.
       
       Was wünschen Sie von Europa? 
       
       Ich wünsche mir eine klare Haltung zu mehr Demokratie in Kuba. Ich wünsche,
       dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments kritisieren, dass es
       nicht ausreicht, politische Gefangene freizulassen, ohne die Gesetze zu
       verändern, die deren Verurteilung erst ermöglicht haben.
       
       Es ist immerhin das dritte Mal, dass ein Kubaner diesen Preis erhält. 
       
       Wenn ein Kubaner diesen Preis erhält, dann ist das auch eine Kritik an den
       Zuständen auf der Insel. Ich denke, dass die Regierung sehr wohl versucht,
       auf diplomatischen Wegen eine derartige Preisverleihung zu verhindern.
       
       Noch immer sitzen elf Leute aus der Gruppe der 75 in Haft. Warum hält die
       Regierung nicht die Zusage ein, die sie der Kirche, der spanischen
       Regierung und Ihnen gemacht hat? 
       
       Ich denke, weil die Häftlinge sich weigern, in die Verbannung zu gehen,
       weil sie in Kuba leben wollen, weil sie widerstehen und nicht akzeptieren,
       dass die Regierung ihnen vorschreibt, wo und wie sie zu leben haben. Denn
       ein Ziel der Regierung ist es, das politische, soziale und ökonomische
       Leben zu kontrollieren.
       
       Aber angesichts der fehlenden ökonomischen Perspektiven ist die
       Auswanderung doch Alltag auf Kuba. 
       
       Ja, und jedes Mal, wenn die Unzufriedenheit zu groß wird, lässt man über
       die Ausreise etwas Dampf aus dem Kessel. Das war 1965 so, als in Absprache
       mit den USA eine Luftbrücke eingerichtet wurde; das war 1980 so, als die
       Ausreise über den Hafen von Mariel gestattet wurde, und das war 1994 so,
       als etliche tausend Kubaner auf allem, was schwimmen konnte, die Insel
       verließen.
       
       Aber die Aufforderung an Oppositionelle, das Land zu verlassen, ist doch
       neu, oder? 
       
       Ja, mir hat man das auch ans Herz gelegt. Aber diese elf Häftlinge stellen
       etwas dar, was der Regierung ganz und gar nicht gefällt: Sie wollen in
       ihrer Heimat bleiben und hier für ein anderes Kuba kämpfen. Ihr Verbleiben
       in Haft ist die Quittung der Regierung für diese Haltung.
       
       Wie ist die derzeitige Situation auf der Insel? 
       
       Wir befinden uns in einer revolutionären Situation, denn die Regierten sind
       mit den Lebensbedingungen nicht zufrieden, die ihnen die Regierenden
       bieten, und es gibt spontane Proteste. So haben zum Beispiel die Kutscher
       in Bayamo kürzlich gegen die hohen Steuern protestiert, und hier in Santa
       Clara hat es während des Kinofestivals Proteste von Jugendlichen gegen die
       Informationspolitik der Regierung gegeben. Sie wollten unbedingt ein
       Fußballspiel der spanischen Liga sehen.
       
       Und wie reagiert die Regierung auf diese Dinge? 
       
       Ich denke, dass sie noch nicht realisiert hat, dass es kaum mehr möglich
       ist, die Informationen zu steuern. Die Leute wissen immer öfter, was in und
       außerhalb Kubas passiert. Die Informationen durchlaufen nicht mehr wie
       früher den offiziellen Filter, und es häufen sich die Proteste, die man
       nach wie vor zu ersticken versucht.
       
       Hat dieser Wandel auch etwas mit den jüngsten ökonomischen Reformen zu tun,
       die den Abbau von sozialen Sicherheitssystemen zur Folge haben? 
       
       Ja, auf jeden Fall, denn die Entlassung von Staatsbediensteten, die
       angestrebte Aufkündigung sozialer Sicherheitssysteme hat dazu beigetragen,
       dass Unzufriedenheit und Proteste zunehmen.
       
       Sie haben Anfang Dezember gemeinsam mit den Dissidenten René Gómez Manzano
       und Félix Antonio Bonne Carcassé, die dem konservativen Lager zugerechnet
       werden, Stellung zur Wirtschaftspolitik der Regierung bezogen. Worum geht
       es Ihnen dabei? 
       
       Wir kritisieren, dass die Regierung seit über 50 Jahre eine Regierung der
       falschen Versprechen ist. Aus materieller Perspektive hat sie nie erfüllt,
       was sie versprochen hat. Wir appellieren, einen Schlussstrich zu ziehen und
       die Verantwortung anderen zu überlassen, die eher dazu in der Lage sind,
       die Bevölkerung aus der Armut zu führen, in der wir uns befinden. Das ist
       in wenigen Worten der Kern des Dokuments, das wir Anfang Dezember
       vorgestellt haben. Es ist eine Reaktion auf das Dokument, das die
       Kommunistische Partei vor einigen Wochen präsentiert hat, um die Diskussion
       auf dem Parteikongress im April vorzubereiten.
       
       Es ein knappes halbes Jahr her, das Sie Ihren mehr als hundert Tage
       währenden Hungerstreik beendet haben, an dessen Ende die Regierung
       zusicherte, die letzten 52 Häftlinge aus der Gruppe der 75 freizulassen.
       Wie geht es Ihnen jetzt? 
       
       Mit geht es recht gut, aber ich habe noch mit zwei Blutgerinnseln zu
       kämpfen, ein Thrombus im linken Arm und einem am Hals, die medikamentös
       behandelt werden. Das sind die beiden Dinge, die Sorgen machen.
       
       15 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
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