# taz.de -- Nach der Jasmin-Revolution: Tunesier gehen weiter auf die Straße
       
       > Eine "Karawane der Freiheit" marschiert auf Tunis zu, um gegen Vertreter
       > des alten Regimes in der Übergangsregierung zu protestieren. Auch in
       > Algerien und Marokko bleibt es unruhig.
       
 (IMG) Bild: Gestern Prügel verteilt, heute Transparente gemalt: Polizistin demonstriert am Samstag für höhere Löhne und eine unabhängige Gewerkschaft.
       
       TUNIS/PARIS afp/dpa/rtr | Trotz des Versprechens demokratischer Reformen
       halten in Tunesien die Proteste gegen die Übergangsregierung an. Etwa 1.000
       Menschen aus der Region um Sidi Bouzid, wo der Aufstand seinen Anfang nahm,
       marschierten nach Angaben des französischen Rundfunks am Sonntagmorgen in
       die Hauptstadt Tunis. "Das Volk will die Regierung stürzen", skandierten
       die zumeist jugendlichen Protestler, die eine "saubere" Regierung
       verlangen, ohne Vertreter des gestürzten Regimes von Präsident Zine el
       Abidine Ben Ali.
       
       Auch aus anderen Landesteilen wollten Demonstranten zu Protesten nach Tunis
       marschieren. Schon gestern waren zahlreiche Polizisten zu Kundegebungen auf
       die Straßen von Tunis gegangen. Die Übergangangsregierung hat derweil die
       Zensur aufgehoben und die Einfuhr von Zeitschriften und Filman, die vorher
       genehmigt werden musste, freigegeben. Die EU bekräftigte, Tunesien beim
       Aufbau einer Demokratie unterstützen zu wollen.
       
       Die "Karawane der Freiheit" hatte ihren Marsch auf Tunis am Samstagmorgen
       in dem etwa 280 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegenen Ort Menzel
       Boutaiane begonnen. Je mehr Orte der Zug passierte, um so mehr Menschen
       schlossen sich an. In Menzel Boutaiane begann nach Angaben der
       Organisatoren des Marsches die "Jasmin-Revolution". In der Ortschaft seien
       erstmals Demonstranten von der Polizei niedergeschossen worden. Die
       anhaltenden Proteste im ganzen Land trieben letztlich den Präsidenten Ben
       Ali am 14. Januar in die Flucht. Inzwischen wird das Land von einer
       Übergangsregierung geführt. Da ihr aber mehrere Mitglieder der alten
       Regierung angehören, gab es seit ihrer Ernennung vergangenen Montag täglich
       weitere Proteste von Demonstranten, die einen vollständigen Bruch mit der
       Vergangenheit fordern.
       
       Am Samstag hatten vor dem Regierungssitz in Tunis demonstrierende
       Polizisten in Zivil und Uniform kurz das Auto von Übergangspräsident Foued
       Mebazaa blockiert. Sie ließen das Fahrzeug aber schließlich passieren. Die
       Polizisten fordern unter anderem die Gründung einer eigenen Gewerkschaft
       und höhere Löhne. Wegen ihres Vorgehens gegen die politischen Proteste der
       vergangenen Woche ist die tunesische Polizei bei den Bürgern des Landes in
       Verruf geraten.
       
       Eine unabhängige Kommission soll nun die Rolle der Sicherheitskräfte bei
       den gewaltsamen Übergriffen auf Demonstranten untersuchen, bei denen in den
       vergangenen Tagen Dutzende Menschen getötet wurden. "Wir werden der Frage
       nachgehen, wer gab die Erlaubnis für den Einsatz der Schusswaffen", sagte
       der Chef der Untersuchungskommission, Taoufik Bouderbala, am Samstag. Er
       verwies darauf, dass in einzelnen Fällen offenbar gezielt auf Köpfe und
       Oberkörper der Menschen geschossen worden sei. Es gehe jetzt darum, die
       Fakten zu prüfen, warum mit Waffen gegen Menschen vorgegangen sei, die
       unbewaffnet Brot und Freiheit gefordert hätten.
       
       Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte wurden bei dem
       Aufstand 117 Menschen getötet, 70 davon durch Schüsse mit scharfer
       Munition. Tunesiens Innenminister Ahmed Friaa gab die Zahl der Toten mit 78
       an.
       
       In einem am Freitagabend im tunesischen Fernsehen ausgestrahlten Interview
       versprach Regierungschef Ghannouchi, die Übergangsphase werde "mit
       demokratischen und transparenten Wahlen" zu Ende gehen. Er selber werde
       sich nach den Wahlen aus der Politik zurückziehen. Außerdem würden
       "sämtliche undemokratischen Gesetze" abgeschafft, die unter dem früheren
       Regime eingeführt wurden.
       
       Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sagte der WamS, Europa arbeite
       derzeit an Maßnahmen, die Tunesien beim Übergang zu einer Demokratie helfen
       und zugleich die sozialen Probleme im Land lindern sollten. "Dazu gehören
       die Unterstützung von Wahlen, finanzielle Zusammenarbeit und die Förderung
       einer unabhängigen Justiz." Zugleich forderte Ashton, die Opposition in der
       Übergangsregierung ausreichend zu berücksichtigen.
       
       Die seit knapp zwei Wochen geschlossenen Hochschulen in Tunesien sollen in
       der kommenden Woche schrittweise wieder geöffnet werden, wie das
       Bildungsministerium mitteilte. Am Dienstag sollte zunächst in den
       Ingenieursschulen und den Einrichtungen der Lehrerausbildung der Unterricht
       wiederaufgenommen werden. Allerdings haben die Gewerkschaften die Lehrer zu
       einem unbefristete Streik aufgefordert
       
       Demonstrationen in Algerien, versuchte Selbstverbrennungen in Algerien 
       
       In Algerien hat die Polizei gewaltsam eine nicht genehmigte Demonstration
       der Opposition für mehr Demokratie aufgelöst. Bei Auseinandersetzungen mit
       den Sicherheitskräften in der Hauptstadt Algier seien am Samstag 42 seiner
       Anhänger verletzt worden, sagte der Präsident der Oppositionspartei RCD,
       Saïd Sadi. Nach Polizeiangaben wurden auch sieben Beamte verletzt, zwei von
       ihnen schwer.
       
       Unter den Oppositionsanhängern haben es zwei Schwerverletzte gegeben, sagte
       Parteichef Sadi von der oppositionelle Sammlungsbewegung für Kultur und
       Demokratie (RCD). Verletzt worden sei auch der RCD-Fraktionsvorsitzende im
       algerischen Parlament, Othmane Amazouz. Bei der Kundgebung in der
       Hauptstadt Algier seien zudem "viele" Demonstranten festgenommen worden.
       Die algerische Nachrichtenagentur APS sprach von fünf festgenommenen
       Demonstranten.
       
       Rund 300 Demonstranten hatten sich in Algier vor dem Sitz der RCD
       versammelt, um zum Parlamentsgebäude zu ziehen. Zwar hatten die Behörden
       die Demonstration untersagt, die Partei rief dennoch zu der Veranstaltung
       auf. Ein massives Polizeiaufgebot verhinderte aber den Protestmarsch,
       Regierungskritiker und Sicherheitskräfte lieferten sich
       Auseinandersetzungen. Mit der Demonstration wollte die Partei gegen den
       seit 1992 geltenden Ausnahmezustand in dem nordafrikanischen Land und die
       politische Unterdrückung durch die Regierung protestieren.
       
       Die algerische Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (Laddh)
       verurteilte das Demonstrationsverbot. Friedliche Protestzüge, die von
       politischen Parteien und der Zivilgesellschaft getragen würden, zu
       verbieten heiße eine "Explosion" zu provozieren, sagte Laddh-Präsident
       Mostefa Bouchachi zu AFP. Noch vor drei Wochen hätten die Behörden das
       Recht auf friedliche Proteste bekräftigt. Kaum wolle eine Partei dieses
       Recht in Anspruch nehmen, werde die Demonstration jedoch untersagt, sagte
       Bouchachi. "Es ist nicht mehr zu verstehen, was das Regime aus Algerien
       machen will." Bei Protesten in Algerien starben in den vergangenen Wochen
       mindestens fünf Menschen. Mehr als 800 weitere wurden verletzt.
       
       In Marokko versuchten unterdessen drei Männer, sich selbst anzuzünden. Die
       Vorfälle ereigneten sich laut Medienberichten bereits am Freitag in
       verschiedenen Regionen des Landes. Es handelte sich um die ersten Fälle von
       versuchten Selbstverbrennungen in Marokko seit Beginn der Unruhen in
       Tunesien, die durch eine Selbstverbrennung ausgelöst worden waren. Auch in
       weiteren nordafrikanischen Staaten hatten in den vergangenen Tagen mehrere
       Menschen gegen die Lage in ihren Ländern protestiert, indem sie sich
       anzündeten. Am Samstag starb in Marokko nach Angaben seiner Familie ein
       Mann, der sich zuvor in Mauretanien angezündet hatte.
       
       23 Jan 2011
       
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 (DIR) taz.lab 2011 „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt“
       
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