# taz.de -- Debatte Dioxin: Demokratie der Stoffe
       
       > Für unsere tägliche Dosis Gift brauchen wir keine Futterpanscher, die
       > liefert uns unsere Warenwelt. Doch wir verfügen über Mittel, das zu
       > ändern.
       
       Dioxin im Ei, Dioxin im Schnitzel - wer sich in der Debatte über das Gift
       gedanklich in den Supermarkt aufmacht, begibt sich auf die falsche Fährte.
       Der Dioxinskandal ist kein Lebensmittelskandal. Denn das, was unter dem
       Namen Dioxin firmiert, ist ja keine in der Landwirtschaft eingesetzte
       Chemikalie wie etwa Gift gegen Pilzbefall, Unkraut oder Käfer. Sondern ein
       unerwünschtes Nebenprodukt von Verbrennungsprozessen in der Industrie. Mit
       rund 40 Gramm jährlich stößt die meisten Dioxine in Deutschland die Eisen-
       und Stahlindustrie aus.
       
       Jeder hierzulande ist mit Dioxin verseucht, die einen mehr, die anderen
       weniger. Für unsere tägliche Dosis sind keine kriminellen Futterpanscher
       nötig. Umgeben sind wir nicht nur von gefährlichem Dioxin, das keiner
       wollte. Umgeben sind wir auch von – sicher, wahrscheinlich und vielleicht –
       gefährlichen Chemikalien, die extra für unseren Gebrauch hergestellt
       werden. Flammschutzmittel machen Kunststoffe schwerer entflammbar, und
       viele von ihnen sind giftig. Bestimmte Duftstoffe können Allergien
       auslösen. Weichmacher in Kunststoff stehen im Verdacht, auf den
       Hormonhaushalt von Lebewesen zu wirken, Krebs auszulösen oder die
       Fortpflanzungsfähigkeit zu stören.
       
       Während Dioxin quasi der Ausrutscher der chemischen Industrie war, sind all
       diese Stoffe ihr Alltag. Dass sie uns umgeben, beruht auf dem Handel, den
       wir in unserer Konsumgesellschaft geschlossen haben: giftige Produkte für
       wenig Geld. Massenkonsum und Massenproduktion bauen auf den Stoffen der
       chemischen Industrie (und der folgenden oder vorgeschalteten Kunststoff-,
       Pharma-, Kraftstoffbranche et cetera) auf.
       
       Obwohl dieser Deal seit spätestens 40 Jahren mit der Feststellung von den
       "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome für alle sichtbar und für jeden
       verständlich infrage gestellt wird, erweist er sich als erstaunlich
       haltbar. Nachhaltiger Konsum, Konsumverzicht - sie finden noch immer in
       Nischen statt. Das straft die Behauptung Lügen, die Bevölkerung Europas sei
       technikmüde oder gar -feindlich.
       
       Noch immer handeln die reichen Industriegesellschaften nämlich nach
       folgendem Muster: Ingenieure, Techniker, Naturwissenschaftler entwickeln
       eine Technologie oder einen Stoff. Dann lernt die Gesellschaft, sie zu
       nutzen und mit ihren Risiken umzugehen. Ihr Selbstverständnis als
       Avantgarde bezieht die Industrie aus dem Startvorteil, den sie gegenüber
       einer selbstbewussten demokratischen Öffentlichkeit genießt: Erst kam die
       Industrialisierung, dann die Demokratisierung. Noch immer, selbst in
       Deutschland, dem Land der Mitbestimmung, ist der Zugriff der demokratischen
       Öffentlichkeit auf Dinge und Stoffe erstaunlich unterentwickelt.
       Allerdings, in das Spiel kommt Bewegung.
       
       REACH ist ein Anfang 
       
       Im Zuge der Debatten um die grüne Gentechnik wollen die Gesellschaften
       nicht nur, aber vor allem in Europa erst die Risiken der neuen Produkte
       sowie ihren Bedarf diskutieren, bevor sie breiten Einzug halten können. Das
       ist neu.
       
       Weniger öffentlichkeitswirksam, aber genauso grundlegend ist der Versuch
       der EU-Bürokratie, mit ihrer Chemikalienpolitik die notwendige
       demokratische Aneignung der Stoffe durch Politik und Öffentlichkeit
       nachzuholen. Der Prozess der Registration, Evaluation and Authorisation of
       Chemicals – REACH – hat deshalb jede Aufmerksamkeit und Leidenschaft der
       Regierungen und des Publikums verdient, weil er versucht, eine Übersicht
       über die vorhandenen Chemikalien zu bekommen und sie zu bewerten. Letztlich
       definieren staatliche Institutionen und Verbraucher gemeinsam, welche
       Risiken sie zu ertragen bereit sind: Die EU-Mitgliedsländer schlagen Stoffe
       vor, die auf eine Verbotsliste kommen. Die Verbraucher verfügen über das
       Recht, innerhalb von 45 Tagen kostenlos bei jedem Händler oder Hersteller
       zu erfragen, ob sich solche gefährlichen Stoffe in dem Produkt befinden,
       das sie kaufen wollen.
       
       Allein: Weder die Mitgliedstaaten noch die Verbraucher machen von ihrem
       Recht in angemessener Weise Gebrauch. Von den geschätzten 1.500 Stoffen,
       die auf der Giftliste landen müssten, wurden erst 45 von den Regierungen
       dorthin befördert - ob aus mangelndem Willen oder mangelnden Ressourcen,
       sei dahingestellt. Und verschiedene Handelsketten halten zwar
       vorformulierte Auskunftsbögen über Inhaltsstoffe im Rahmen von REACH
       bereit, aber kaum ein Käufer will sie haben. Der REACH-Prozess läuft
       frustrierend schleppend. Weder Politik noch Bürger haben bislang
       verstanden, welch machtvolles Instrument ihnen die Brüsseler Bürokraten in
       gewohnt umständlicher wie gründlicher Manier in die Hand gegeben haben, und
       zwar zum rechten Zeitpunkt.
       
       Denn das Zeitalter der erdölbasierten Chemie - unter ökologischen und
       sozialen Gesichtspunkten gründlich versemmelt - neigt sich langsam, aber
       sicher dem Ende zu. Mit Hochdruck und intensiver staatlicher Förderung
       arbeiten Ingenieure, Chemiker und Biologen daran, die Massenproduktion auf
       einer anderen Rohstoffbasis fortzuführen. Dieser Wechsel von der erdöl- auf
       eine biobasierte Stoff- und Energieversorgung markiert einen Epochenwandel
       - der zu anderen, aber nicht automatisch zu besseren Produkten führt.
       
       Anders als beim Eintritt in das Zeitalter der Dampfmaschine oder in das des
       Erdöls verfügen wir heute über eine Öffentlichkeit und demokratische
       Institutionen, in denen der Bedarf an und die Gestalt von Produkten
       diskutiert und mitgestaltet werden können. Dabei geht es nicht um den
       "nachhaltigen Konsum", dem immer der Geruch des Elitären anhaftet. Es geht
       nicht um den Einkauf bei Manufaktum, sondern um die Demokratisierung der
       Stoffe.
       
       Dafür sind sensibilisierte und informierte Verbraucher genauso notwendig
       wie selbstbewusste Politiker, die bereit sind, Verantwortung für die
       produzierten Stoffe zu übernehmen. Das klingt utopisch, ist aber leistbar.
       In jedem Toom-Baumarkt liegen Formulare, mit denen man nach dem Gift im
       Brett fragen kann. Billiger werden wir den Einstieg in eine bessere
       Warenwelt nicht bekommen.
       
       31 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Holdinghausen
       
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