# taz.de -- Litauischer Regisseur über Tschetschenien: "Lebe ich noch oder bin ich schon tot?"
       
       > Der Regisseur Mantas Kvedaravicius untersucht die Logik der Folter in
       > Tschetschenien. Mit der taz spricht er über Nähe, die Idee von Träumen
       > und die Alltäglichkeit von Gewalt.
       
 (IMG) Bild: Alltag in Tschetschenien. Szene aus "Barzakh".
       
       taz: Herr Kvedaravicius, wie kommt ein litauischer Kulturwissenschaftler,
       der in Cambridge promoviert, dazu, einen Dokumentarfilm in Tschetschenien
       zu drehen? 
       
       Mantas Kvedaravicius: Ich bin ursprünglich Anthropologe und schreibe ein
       Buch über Folter. Nach Tschetschenien kam ich über die koloniale Idee der
       Feldforschung: Man geht an einen fremden Ort und macht sich mit dem
       "lokalen" Leben vertraut. Schritt für Schritt haben sich aber bei meinen
       Recherchen die Schichten des Lebens verschoben - was außergewöhnlich
       erschien, wurde alltäglich.
       
       Wie findet man Zugang zu einer Gesellschaft wie der tschetschenischen? 
       
       Persönliche Nähe war einer der Schlüssel, das Gefühl von Alltäglichkeit zu
       bekommen, auch der Alltäglichkeit von Gewalt. Ich habe im Verlauf dreier
       Jahre vierzehn Reisen dorthin unternommen. Im Kaukasus zählen Beziehungen:
       Mit wem kommst du, wer stellt dich vor? Wegen des Kriegs sind die Kreise
       eng geschlossen, wenn man aber drinnen ist, hat man das Vertrauen.
       
       Was war Ihr intellektueller Ausgangspunkt für den Film "Barzakh"? 
       
       Ich begann mit Fragen zur Folter. In welchen Situationen wird sie
       verwendet, welche Effekte hat sie auf Gesellschaft, welche Beziehung
       entsteht zwischen Schmerz und Staatsgewalt? Zu Beginn stand ich unter dem
       Einfluss von Giorgio Agambens Buch "Homo sacer", diese philosophische
       Perspektive wurde später irrelevant. Die Dinge, die man nur durch Details
       hervorbringen konnte, wurden wichtiger.
       
       "Barzakh" bezieht sich auf einen Ort des Übergangs zwischen Leben und Tod. 
       
       Der Film begann mit der Idee des Traums. Mütter träumen von Orten, an denen
       die Verschwundenen sind. Das hat mich auf dieses andere Medium Film
       gebracht. Ich bin auch Unterwasserarchäologe, ich tauche und interessiere
       mich für Seen, und in Tschetschenien haben sie von Hubschraubern aus
       Leichen in einen See geworfen. Das wurde ein Paradigma für die
       Ungewissheit, denn niemand weiß genau, wo diese Verschwundenen bleiben.
       
       Eine markante Szene zeigt eine Hochzeit, bei der eine Lebenslust zu sehen
       ist, die nicht zum Klischeebild von Tschetschenien passt. 
       
       Die Hochzeitsszene führt all das zusammen, was die Rolle der Frauen in der
       Gesellschaft anlangt. Man sieht ein großes Selbstbewusstsein der Frauen.
       Die russische Besatzung und der islamistische Fundamentalismus sind
       Zwangsjacken, die das Leben in seiner Komplexität nicht zulassen.
       
       Erschütternd hingegen sind die Szenen, die in den verlassenen
       Foltergefängnissen gedreht wurden. An einer Stelle hat jemand 2006 an die
       Wand geschrieben: Lebe ich noch oder bin ich schon tot? 
       
       Es gibt zwei Foltergefängnisse im Film. Diese Szene wurde schon 2006
       gedreht. Dieses Gefängnis wurde danach geschlossen. Das Material hat mich
       so mitgenommen, weil es sich auch wieder auf das Paradigma des Films
       bezieht: Bin ich lebendig oder schon tot? Das ist ja kein Gedicht, kein
       Haiku, sondern eine existenzielle Frage in dieser Situation.
       
       Was ist nun eigentlich die Logik der Folter in Tschetschenien: Dient sie
       der Einschüchterung der Bevölkerung, oder behaupten die russischen
       Sicherheitskräfte und die lokalen Machthaber tatsächlich, dass sie dadurch
       Verbrechen verhindern? 
       
       Ich glaube, da gibt es Schichten. Erstens werden Geständnisse erpresst.
       Denn es gibt so viele Verbrechen, man muss Resultate bei der
       Verbrechensbekämpfung vorweisen, das funktioniert wie am Fließband, man
       verhaftet einen jungen Mann, foltert ihn und hat dann einen geständigen
       Verbrecher. Diese Polizeiarbeit produziert Terroristen fast nach Quote, die
       Einschüchterung der Bevölkerung geht damit wie nebenbei einher.
       
       "Barzakh" zeichnet sich durch eine Sanftheit aus, die im Gegensatz zu dem
       "männlichen Primitivismus" steht. Gibt es in der Alltagskultur Ansätze, die
       den Gegensatz zwischen fundamentalistischem Islam und russischer Hegemonie
       unterlaufen könnten? 
       
       Ich erinnere mich an diese Sufi-Rituale, man spricht von "zikr". Das ist so
       etwas, das die Menschen zusammenbringt, aber im Fernsehen gibt es
       inzwischen auch "zikrs", die von Soldaten begangen werden, die dabei Tiere
       töten. Ich glaube aber, dass das ursprüngliche Moment nicht vollständig
       verloren gegangen ist, diese Beziehungen, die sich auch in der
       Gastfreundschaft äußern, ein bodenständiger, persönlicher Umgang. Wenn ich
       auf etwas setzen müsste, dann darauf: Beziehungen zählen.
       
       "Bazarkh", Regie: Mantas Kvedaravicius, Sektion: Panorama Dokumente,
       Finnland/Litauen 2011, 59. Min
       
       11 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bert Rebhandl
       
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