# taz.de -- Diktatorensturz in Tunesien: Gegenrevolution nur knapp gescheitert
       
       > Was geschah am 28. Januar in Tunis? Bezahlte Provokateure und altbekannte
       > Einsatzkräfte haben versucht, Unruhe zu stiften und Misstrauen zu sähen.
       
 (IMG) Bild: "Wir lassen uns die Revolution nicht stehlen", riefen die Demonstranten am 28. Januar, als die Polizeit versuchte, gegen sie vorzugehen.
       
       TUNIS taz | An arabischen Polizeistaaten gemessen sieht der Flughafen
       Tunis-Carthage beinahe gespenstisch aus. Alle Farbe scheint nach der
       friedlichen Revolution aus ihm entwichen: Die bunten, operettenhaften
       Gala-Uniformen der Polizisten, die azurblauen Monturen der Grenzer, die
       Monumentalporträts des Präsidenten, Ben Ali vor grünem Hintergrund, mit
       seinen gnadenlos schwarz gefärbten Haaren ewige Jugend und Aktivität
       verheißend … Mithilfe von Zivilisten funktioniert alles genauso reibungslos
       wie vorher, vielleicht sogar besser. Die Koffer kommen an, die Stempel
       werden rasch in den Pass geknallt, das Taxi fährt los, durch eine kahle
       Landschaft ohne Ben-Ali-Bilder, ohne den allgegenwärtigen großen Bruder,
       der den Passanten so lange mit den Augen verfolgte, bis das nächste Porträt
       auftauchte und die Beobachtung fortzusetzen schien.
       
       Auf dem Mittelstreifen der Avenue Habib Bourguiba stehen Panzer und
       bewachen das Innenministerium, Humvees aus alten amerikanischen Beständen,
       Soldaten mit Helmen, in Schutzwesten, die Buchstaben "US" noch aufgedruckt.
       In der Altstadt, der Medina, haben hunderte junger Leute vor dem Sitz des
       Premierministers ein Zeltlager errichtet, viele sind aus entfernten
       Provinzen nach Tunis angereist. Ihre Unterkünfte stehen leer, denn die
       Demonstranten - einige von ihnen mit der tunesischen Fahne über den
       Schultern wie Capes - haben sich in Kreisen zusammengefunden, um zu
       diskutieren. Andere singen Lieder, skandieren Slogans gegen den
       Übergangspremier Ghannouchi, dem sie nicht trauen, weil er ein enger
       Mitarbeiter des gestürzten Präsidenten war. Auf einer Treppe, die zu einer
       der neomaurischen Repräsentationsbauten hoch führt, steht ein Anwalt in
       schwarzer Robe und redet mit Stentorstimme, ohne Mikrofon: "Ich bin dafür,
       hier auszuharren, bis auch diese Übergangsregierung zurücktritt." -
       Applaus.
       
       Angesichts solcher Szenen drängen sich Erinnerungen auf an das Tunesien,
       das es noch vor vier, fünf Wochen gab.
       
       Hinter der Fassade von Sonne, Strand und Schnäppchenreisen öffnete sich das
       Szenario eines Polizeifilms der B-Kategorie. Kam der ausländische
       Journalist aus seinem Zimmer, zuckten regelmäßig drei Herren in Lederjacken
       von ihrem Platz an der Rezeption zurück. Natürlich wurde das Telefon
       abgehört, natürlich drang die politische Polizei ins Hotelzimmer ein,
       sobald man fort war und kopierte alles, was man liegen ließ,
       beziehungsweise nahm es auch mal einfach mit. Ein US-Reporter ließ
       spaßeshalber einmal seine versteckte Kamera weiterlaufen, als er aus dem
       Zimmer ging und freute sich nach seiner Rückkehr über die
       Durchsuchungsszene.
       
       Immer dieselben Gestalten saßen im immer selben Verfolgerauto. Um zu
       Mohammed Abou zu kommen, einem Anwalt, der es wagte, Folteropfer zu
       verteidigen, musste man regelrechte Verfolgungsjagden absolvieren, immer
       das Auto der politischen Polizei im Schlepptau. Bei Maître Abou bekam man
       dann grausige Videoaufnahmen von einem Toten mit eingeschlagenem Schädel
       vorgeführt, der nach Angaben des Gefängnisarztes "an Gelbsucht" gestorben
       war. Ähnliche Fälle türmten sich auf seinem Schreibtisch zu Dutzenden.
       Gebräuchliche Foltermethoden waren unter Ben Ali die sogenannten Badewanne
       - das Opfer wurde aufgehängt und mit dem Kopf in einen Kübel voller
       Exkremente gelassen - oder im "Brathähnchen" - man band das Opfer so
       zusammen wie ein Huhn, das sich im Imbiss über dem Grill dreht. Ein paar
       Wochen nach dem letzten Treffen in seiner Kanzlei verschwand auch dieser
       Anwalt im Gefängnis.
       
       Auf deutscher Seite stützten willige Helfershelfer das Regime, immer mit
       denselben Argumenten: Die tunesische Wirtschaft blühte angeblich, die
       Bevölkerung war angeblich nicht reif für Demokratie, die Mittelklasse
       brauchte anstelle von Demokratie Ruhe und Ordnung, um sich zu entwickeln,
       Ben Ali garantierte angeblich die Westbindung und die Absage an islamischen
       Radikalismus, die Frauen jubelten tagein, tagaus, weil sie Miniröcke tragen
       durften und keine Polygamie erdulden mussten. Auch noch öffentlich Kritik
       äußern? Man durfte der arabischen Mentalität auch nicht zu viel
       abverlangen. Auf dem Höhepunkt der Folter, nach dem 11. September 2001, als
       der treue Verbündete glaubte, sich alles leisten zu können, erklärte im
       Entwicklungshilfeministerium ein Mitarbeiter der grünen Staatssekretärin
       Uschi Eid: "Man darf der Menschenrechtslobby nicht alles unbesehen
       abnehmen." Bezüglich Tunesien gebe es keinerlei stichhaltige Beweise für
       Folter. Nachfrage: "Woher wissen Sie das?" Antwort: "Von der tunesischen
       Regierung."
       
       Plötzlich und unerwartet ist die Polizei wieder da, erstmals seit der
       Revolution, es ist Freitag, der 28. Januar. Über dem Zeltlager in der
       Medina von Tunis kündigt sie sich mit einem unheilvollen
       Hubschraubergebrumm an. Plötzlich tauchen Eingreiftrupps auf mit Helmen,
       Schilden, Schlagstöcken und gehen gegen das Zeltlager vor. Ein allgemeines
       Laufen, Stoßen, Schreien beginnt - wohin? Am besten wieder durch das
       Medina-Labyrinth zurück ins Zentrum der Ville Nouvelle, der Europäerstadt.
       Steine fliegen von beiden Seiten über die Köpfe - doch an der Porte de
       France, dem alten Stadttor, an dem die Avenue Bourguiba beginnt: die böse
       Überraschung. Cordons von blau-weiß uniformierten Polizisten erwarten schon
       die Flüchtenden. Es knallt, wie Feuerwerkskörper sausen Tränengasgranaten
       in den Himmel, beschreiben einen Bogen und explodieren mitten unter denen,
       die sich der Gefahr schon entronnen glaubten.
       
       Durch die Tränengasschwaden sind weiter hinten auf der Avenue Bourguiba
       Gruppen von Polizisten zu erkennen, ein Mann kommt atemlos aus der Richtung
       des Buchgeschäfts al-Kitab gelaufen, bricht zusammen, bleibt reglos vor der
       Kathedrale liegen, wird von den Panzer-Soldaten in ein ziviles Auto gelegt,
       das eilig losfährt. Demonstranten ziehen sich Halstücher über Mund und
       Nase, um sich gegen das Reizmittel zu schützen, schleudern Steine. "Wir
       lassen uns die Revolution nicht stehlen", rufen sie und: "Wir brauchen die
       Ghannouchi-Regierung nicht." Und wer soll den Übergang organisieren: "Wir -
       das Volk!" Aber auch andere wenden sich an den Reporter, junge Männer
       ebenfalls, die den Demonstranten äußerlich gleichen "Sehen Sie, was die
       dort tun? Barrikaden bauen, die Polizei angreifen - das sind alles
       Drogenabhängige und Alkoholiker. Eine schöne Demokratie ist das!"
       
       Anwalt Mohammed Abou lässt anderntags keinen Zweifel: Bezahlte
       Provokateure, Milizionäre von Ben Alis RCD-Partei, haben die Gewalt gesät,
       zusammen mit den altbekannten Einsatzkräften unter den notorischen
       Kommandeuren. Wer? Mohammed Abou - tatsächlich ist der Verhaftete wieder
       aufgetaucht, leicht mitgenommen, ein bisschen kahl, doch ungebrochen, noch
       immer mit seinem flotten pinseldünnen Schnurrbärtchen, genauso
       entschlossen, das System zu ändern, wie er es schon vor Jahren war. Jetzt
       gehört er mit anderen Oppositionellen zu einem Beratergremium der
       Übergangsregierung und kommt gerade von einem Gespräch mit dem
       Innenminister Fahrat Rahi zurück. Der berichtete ihm, wie er sich nach der
       brutalen Auflösung des Sit-in bei den verantwortlichen Einsatzleitern
       erkundigt habe, wer eigentlich den Befehl dazu gegeben hatte. Daraufhin
       seien Polizeikräfte in seinen Amtssitz eingedrungen, entwendeten ihm das
       Mobiltelefon, versuchten ihn festzunehmen. Nur mithilfe einer
       Spezialeinheit gelang es Rahi zu entkommen. Ein Putsch, der Versuch einer
       Gegenrevolution und möglicherweise nicht der letzte. Was ist zu tun? Die
       Rezepte der Oppositionellen sind unterschiedlich.
       
       Zukunftskonzepte
       
       Für Hamma Hammami, den unbeugsamen Linksoppositionellen und Gründer der
       PCOT (Parti Communiste des Ouvriers Tunisiens), bedarf es keiner ehemaligen
       Ben-Ali-Minister, sondern einer Regierung aus Persönlichkeiten, die nichts
       mit dem alten Regime zu tun hatten; "Die an-Nahda", stellt der ergraute
       Sozialist fest, "hält sich an die parlamentarischen Spielregeln und gleicht
       einer christdemokratischen Partei in Europa oder der AKP in der Türkei."
       
       Der, der es wissen muss, greift den Ball gern auf: Rachid Ghannouchi,
       Führer der islamistischen an-Nahda, erst vor wenigen Tagen aus dem Londoner
       Exil zurückgekehrt, empfängt im Zimmer eines schlichten Bungalows gegenüber
       der Moschee El Menzah an der Peripherie von Tunis. Nicht von den
       organisierten Islamisten geht nach seiner Meinung die Gefahr für die
       Demokratie aus, sondern von denen, die sich jenseits des politischen
       Spektrums sammeln könnten, weil man sie aus dem parlamentarischen System
       ausgrenzt, wie Ben Ali das getan hat. Und: Von der Gegenrevolution. "Die
       Milizen der ehemals staatstragenden RCD-Partei stiften Unfrieden." Damit,
       befürchtet Ghannouchi, könnten sie ein Chaos schaffen, "in dem sich die
       gewendeten alten Machthaber dann als Retter andienen."
       
       11 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marc Thörner
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Tunesien: Ein Hauch von Jasmin
       
       Die Revolution in Tunesien steht erst noch an ihrem Anfang. Vom Westen
       haben die Demokraten dort allerdings wenig Hilfe zu erwarten.
       
 (DIR) Erneute Gewalt in Tunesien: Militär zieht Reservisten ein
       
       Das tunesische Verteidigungsministerium beruft frühere Mitglieder der
       Armee, um die Lage zu stabilisieren. Außerdem verabschiedete das Parlament
       ein Notstandsgesetz.
       
 (DIR) Bilanz der Revolution in Tunesien: 219 Tote, 510 Verletzte, 0 Synagogen
       
       Beim vierwöchigen Volksaufstand kamen 219 Menschen ums Leben. Die jüdische
       Gemeinde dementiert Meldungen, dass eine Synagoge angegriffen worden sein
       soll.
       
 (DIR) Arabischer Frühling: Willkommen in der neuen Welt
       
       Seit 20 Jahren berichtet unser Korrespondent aus Ägypten. Aber was jetzt
       passiert, davon hätte er noch nicht einmal zu träumen gewagt.
       
 (DIR) Kommentar Aufstand in Arabien: Die Diktatorendämmerung
       
       Für die autoritär-diktatorischen Regime in der arabischen Region läuft die
       Zeit ab. Die gesamte arabische Welt steht vor einem historischen Wandel.