# taz.de -- Interview mit Sigmar Gabriel: "Wir brauchen Strom aus Kohle"
       
       > Bis zum Jahr 2020 aus der Atomenergie und der Kohle auszusteigen, sei
       > unmöglich. Der SPD-Vorsitzende über Energiepolitik nach Fukushima.
       
 (IMG) Bild: "Die Debatte um Kohle ist zum Teil ein Fetisch", sagt Sigmar Gabriel im taz-Interview.
       
       taz: Herr Gabriel, haben Sie Angst, dass die Regierung Ihnen beim Atomthema
       den Schneid abkauft? 
       
       Sigmar Gabriel: Ganz im Gegenteil. Wenn die Regierung die Landtagswahlen
       vom vergangenen Wochenende als Volksabstimmung gegen die Atomenergie werten
       und ernsthaft aussteigen würde, wäre das ein Riesenerfolg.
       
       Glauben Sie, dass es Angela Merkel ernst meint? 
       
       Die Kanzlerin meint nur ihren Machterhalt ernst. Ich glaube nicht, dass sie
       zu dem Atomausstieg wirklich eine innere Haltung hat. Ebenso wenig wie zur
       Eurokrise oder den anderen großen Fragen. Wenn sich die politische Lage
       ändert, ändert sich auch die Meinung der Kanzlerin. In diesem Fall ist das
       gut. Denn so kommen wir schneller aus der Atomenergie raus.
       
       Wissen Sie denn selber, was Sie wollen? Gibt es ein Zurück zum rot-grünen
       Atomkonsens? 
       
       Nein, denn der Konsens war ein Kompromiss und ist durch die Atomwirtschaft
       selbst aufgekündigt worden. Die sieben Altmeiler und Krümmel dürfen nicht
       mehr ans Netz und es dürfen keine Laufzeiten mehr übertragen werden. Zudem
       müssen alle AKWs anhand moderner Sicherheitsstandards überprüft und
       gegebenenfalls für den Rest ihrer Laufzeit nachgerüstet werden. Für all das
       müssen wir jetzt die erneuerbaren Energien mit all der notwendigen
       Infrastruktur schneller ausbauen – so, dass das für alle bezahlbar bleibt.
       
       Ist ein Ausstieg bis zum Jahr 2017, wie es die Grünen vorschlagen, auch
       denkbar? 
       
       Ich halte das für ein mögliches Szenario. Ob es realistisch ist, wird sich
       zeigen, wenn wir wissen, wie viel Geld wir für den Ausbau erneuerbarer
       Energien und die Steigerung der Energieeffizienz in die Hand nehmen. Wir
       schaffen 2017 auf gar keinen Fall, ohne die fossile Energiegewinnung zu
       modernisieren.
       
       Was heißt das konkret? 
       
       Wir brauchen für eine Übergangszeit auch Strom aus Kohle. Wir müssen die
       alten Kraftwerke modernisieren und die im Bau befindlichen fertigstellen.
       Denn sonst werden die sozialen Kosten der Energiewende zu hoch. Und das
       darf uns Sozialdemokraten nicht egal sein.
       
       Was bedeutet Ihr Festhalten an fossilen Energien für Koalitionen mit den
       Grünen? 
       
       Das werden die Grünen im Zweifel nicht anders sehen. Wenn wir
       Mindestwirkungsgrade und Kraft-Wärme-Kopplung vorschreiben, müssen auch bei
       der Kohle alte Kraftwerke vom Netz. Da müssen wir massiv Druck auf die
       Energiewirtschaft ausüben.
       
       Stellen sich die Grünen bei dem Thema Kohle nur an? 
       
       Die Debatte um Kohle ist zum Teil ein Fetisch. Denn schließlich haben wir
       den Emissionshandel. Dadurch wird der CO2-Ausstoß ohnehin gesenkt. Es war
       ein Fehler, den Leuten zu sagen, man könne bis 2020 gleichzeitig aus Kohle
       und Atom aussteigen. Alle Parteien müssen sich in der Energiepolitik
       bewegen. Am meisten Union und FDP. Aber auch wir Sozialdemokraten. Und auch
       die Grünen. Und Herr Kretschmann wird bereit sein müssen, in
       Baden-Württemberg nach einem Endlagerstandort zu suchen.
       
       Ich habe große Zweifel an der Eignung von Gorleben und wollte schon als
       Umweltminister eine ergebnisoffene Suche in ganz Deutschland. Das ist
       damals am baden-württembergischen Ministerpräsidenten gescheitert. Diesen
       historischen Fehler kann Herr Kretschmann jetzt rückgängig machen.
       
       Zur Förderung ökologischer Energie gehören Durchleitungen und Windräder –
       wogegen sich Widerstand regt. Was tun? 
       
       Die Konflikte zwischen dem Natur- und Landschaftsschutz auf der einen und
       dem Ausbau der Erneuerbaren auf der anderen Seite werden zunehmen. Deshalb
       wird die Windenergie vor den deutschen Küsten wichtiger.
       
       Trotzdem gibt es Proteste gegen die benötigten Durchleitungen. 
       
       Der Widerstand wird abnehmen, wenn der Atomausstieg kommt. Und man kann den
       Widerstand auch deutlich reduzieren. Statt überall Freileitungsausbau zu
       machen, müssen wir die großen Offshore-Windparks mit Gleichstromtechnik
       über 500 km im Erdkabel direkt an den Süden und den Westen anschließen. Das
       hätten wir übrigens längst getan, wenn CDU/CSU und FDP diesen Trassenausbau
       nicht immer wieder verhindert hätten. Und wir müssen den Leuten zeigen:
       Das, was wir da machen, hat für euch einen unmittelbaren Wert. Wir müssen
       sie deshalb zuerst entlasten. Mit Zuschüssen für die Gebäudesanierung oder
       mit der Förderung der Energieeffizienz, gerade auch für Haushalte mit
       geringem Einkommen.
       
       Soll das Volk mehr mitentscheiden können? 
       
       Das Volk entscheidet vor allem bei Wahlen. Bei Stuttgart 21 ist die
       Volksabstimmung eine Notlösung. Sie ist die einzige Alternative zum
       Polizeiknüppel. Hier brauchen wir eine neue Legitimation durch die
       Bürgerinnen und Bürger selbst.
       
       Und bei Trassen? 
       
       Ist das keine Lösung. Wir brauchen allerdings mehr Beteiligung im Vorfeld.
       Wir müssen die Belastung der Bevölkerung minimieren. In Wohngebieten müssen
       wir auf Erdkabel setzen. Aber natürlich brauchen wir auch Freileitungen.
       
       Vor einigen Wochen haben Sie ein "Demokratiepapier" beschlossen. Ist die
       SPD nur für Bürgerbeteiligung, wenn die der Parteimeinung folgt? 
       
       Bürgerbeteiligung im Vorfeld und parallel zu Planungsvorhaben brauchen wir
       unbedingt auch beim Ausbau erneuerbarer Energien, Netzen und Speichern.
       Volksabstimmungen haben aber doch nichts mit einzelnen Projekten zu tun.
       Aber alle Planungsvorhaben beruhen auf Gesetzen. Über diese Gesetze kann
       man eine Volksabstimmung durchführen.
       
       Die Leute interessieren sich für das, was vor der eigenen Haustür passiert. 
       
       Ich teile nicht Ihre Einschätzung, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für
       die großen und abstrakten Fragen nicht interessieren. Bei den letzten
       Landtagswahlen ist die Wahlbeteiligung sehr gestiegen. Und das lag nicht an
       den Protesten gegen Stromleitungen vor Ort, sondern am Atom-Thema. Alle
       vier Jahre ein Kreuzchen machen ist nicht der Gipfelpunkt der
       Volksherrschaft. Ich gehöre nicht zu denen, die Angst vorm Volk haben.
       
       Die Aufsteiger des Jahres heißen Olaf Scholz, Torsten Albig und neuerdings
       auch Peer Steinbrück. Gibt es in der SPD einen Rechtsdrall? 
       
       Eher einen Drall nach vorne, denn nach der Bundestagswahl haben wir bereits
       zwei CDU-Ministerpräsidenten durch eine Sozialdemokratin bzw. einen
       Sozialdemokraten besetzt. Und was die Schubladen angeht: Olaf Scholz hat
       die Korrektur bei Rente mit 67 und bei der Leiharbeit formuliert. Ist das
       nun rechts oder links?
       
       Statt von Linksöffnung redet die SPD wieder von der "Mitte". 
       
       Ich kann mit dem Begriff Mitte nicht viel anfangen. Willy Brandts
       Ostpolitik wurde erst massiv bekämpft - und war später in der Mitte unserer
       Bevölkerung fest verankert. Die Mitte ist der Ausdruck für die Mehrheit der
       Bevölkerung. Wir brauchen wirtschaftliche Dynamik, sozialen Zusammenhalt
       und ökologische Nachhaltigkeit. Dies miteinander zu verbinden, ist die
       Aufgabe der SPD.
       
       Peer Steinbrück wird als Kanzlerkandidat gehandelt. 
       
       Es ist gut, dass die SPD in einem Zustand ist, in dem die Leute die Frage
       nach einem SPD-Kanzlerkandidaten stellen.
       
       Was wollen Sie mit ihm machen? 
       
       Er ist der finanz- und wirtschaftspolitische Kopf der SPD. Er spielt eine
       wichtige Rolle bei der Erarbeitung unseres Steuerkonzepts. Und ich hoffe,
       dass er sich auch in Zukunft häufig zu Wort meldet.
       
       Bei den Landtagswahlen haben Sie Stimmen verloren und fühlen sich dennoch
       als Sieger. Muss die SPD sich mit weniger zufrieden geben? 
       
       In Rheinland-Pfalz, einem konservativ geprägten Land, sind wir zum fünften
       Mal wiedergewählt worden, in Hamburg haben wir die absolute Mehrheit
       gewonnen. Aber klar ist: Die Milieus in Deutschland lösen sich auf. Die
       Gesellschaft ist freier geworden. Das freut uns, aber dadurch sinkt
       natürlich auch die Parteibindung. Da ist Platz für eine neue liberale
       Partei. Das sind heute die Grünen. Sie lösen die FDP ab, die so sehr
       ideologisch auf ihren Marktradikalismus verengt ist, dass ihr selbst eine
       Ablösung von Westerwelle kurzfristig nicht helfen wird.
       
       Sind die Grünen Volkspartei? 
       
       Die Grünen müssen entscheiden, ob sie das sein wollen. Für die SPD ist es
       Pflicht, Volkspartei zu bleiben. Wir wollen weder nur einzelne Gruppen in
       der Gesellschaft vertreten noch uns auf bestimmte Politikfelder
       konzentrieren.
       
       1 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) I. Pohl
 (DIR) G. Repinski
       
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