# taz.de -- Grüne als Volkspartei: Pop und Biedermeier
       
       > Ein Wahlkreis, viele Milieus – und überall verliert die CDU. Früher wurde
       > der grüne Naturschützer Wolfgang Raufelder belächelt, heute ist er
       > mehrheitsfähig.
       
 (IMG) Bild: Wahlkampf in Mannheim.
       
       MANNHEIM taz | Die beiden Müllmänner trällern orientalische Lieder, picken
       im Akkord den Unrat vom Gehweg an der Werftstraße: Zigarettenschachteln,
       Glasscherben, zerfledderte Werbeheftchen. Die Säcke füllen sich schnell in
       diesem Winkel der Stadt, der einst bürgerliches Hafenviertel war, bevor der
       Abstieg begann. In einer Kneipe gehen die ersten Morgenbierchen über den
       Tresen. Arabische Männer stehen im Pulk vor einem Kiosk, palavern und
       trinken Tee aus weißen Plastikbechern, während um die Ecke im Hörsaal der
       Popakademie die Musiktheorievorlesung beginnt.
       
       Ein Donnerstagmorgen im Jungbusch-Viertel. Nirgendwo im Mannheimer Süden
       haben die Grünen bei der Landtagswahl besser abgeschnitten als hier. Gut
       jeder Dritte hat Grün gewählt. Dabei gibt es im ganzen Viertel keinen
       Bioladen. Es hängen auch keine Anti-Atomkraft-Transparente an den Balkonen.
       Im Jungbusch sind heute zwei Drittel der Bewohner Migranten, die
       Arbeitslosigkeit ist enorm.
       
       ## Der Jungbusch, das nächste Kreuzberg
       
       Seit vor sieben Jahren auf einer Brache im früheren Industriehafen die
       erste staatliche Popakademie der Republik eröffnet wurde und Musikstudenten
       in die heruntergekommenen Altbauwohnungen ringsherum zogen, wurden Puffs in
       Szeneclubs verwandelt, Häuser saniert, die ersten Kreativfirmen siedelten
       sich in leeren Industriebauten an. Die Stadt müht sich nun, die Ecke als
       hippes Trendzentrum zu vermarkten. Der Jungbusch, das nächste Kreuzberg.
       
       Wolfgang Raufelder, 51 Jahre, silbergrauer Stoppelhaarschnitt, dunkles Hemd
       unter dem grauen Sakko, kann nicht viel anfangen mit solchen
       Imagekampagnen. "Schön, dass man hier versucht, neue Ufer zu erreichen",
       sagt er bemüht höflich. "Aber die Marketingexperten übertreiben zum Teil
       doch ein bisschen."
       
       Es ist die Woche nach der "Sensation". So jedenfalls betitelte die
       Lokalpresse das Ergebnis der Landtagswahl hier im Mannheimer Süden.
       Erstmals in der Nachkriegsgeschichte hat die CDU den Wahlkreis knapp
       verloren - an Wolfgang Raufelder, einen Architekten und Biologen, der seit
       1999 für die Grünen im Gemeinderat der Stadt sitzt.
       
       Der Süden der 310.000-Einwohner-Stadt hat wenig gemein mit wohligen
       Biotopen wie Tübingen, wo die Grünen schon länger mehrheitsfähig sind. Wenn
       Wolfgang Raufelder durch den Wahlkreis fährt, sieht er: bescheidene
       Wohnblöcke, Industriegebiete, einen Containerhafen, ein Kohlekraftwerk, das
       gerade erweitert wird, studentische Viertel, Villenkolonien, ländliche
       Zonen.
       
       Raufelder biegt mit seinem Auto in den Stadtteil Seckenheim ein, wo er mit
       seiner Familie lebt. Alte Tabakbauernhöfe mit schlanken Giebeln reihen sich
       entlang der Gassen. Die zweitgrößte Stadt Baden-Württembergs - hier sieht
       sie aus wie ein Dorf. Einige Bauern bewirtschaften sogar noch ihr Land.
       
       ## Früher war Raufelder ein Exot
       
       Früher war der BUND-Mitstreiter und Anti-Atom-Aktivist Wolfgang Raufelder
       hier ein Exot. Sein Wildgarten wurde in der Nachbarschaft beargwöhnt. Mal
       flog er aus einer Kleingartenjury, weil er Punkte für "Unkraut" vergeben
       wollte. Als er vor Anglern über ein geplantes Naturschutzgebiet referierte,
       zogen die ihm den Stecker: "Wir wollen angeln, keinen Naturschutz!"
       
       Doch nun im Wahlkampf, erzählt Raufelder, hätten plötzlich Landwirte
       unangemeldet vor seiner Haustür gestanden und wissen wollen: "Was heißt
       Fukushima für uns Bauern?" Ältere Leute klopften ihm auf die Schultern oder
       schickten handschriftliche Glückwunschbriefe. "Du bist doch der Einzige,
       der wo da immer drangeblieben ist!"
       
       So zersplittert der Wahlkreis ist: Wolfgang Raufelder hat bei der
       Landtagswahl in allen Vierteln ähnlich gut abgeschnitten. Im Durchschnitt
       bekam er 29,6 Prozent der Stimmen. Nicht nur die affärengeplagte, erstmals
       unterlegene CDU fragt sich jetzt: Wie konnte das passieren?
       
       Sachlich, ehrlich, geradlinig - das ist Raufelders Ruf. Kein Charismatiker,
       dafür volksnah und mit Bodenhaftung. Ein gebürtiger Mannheimer, der im
       freundlichen Kurpfälzer Singsang spricht. Eher brav als laut. Einer jener
       Grünen, der Konservative nicht mehr verschreckt. Aber reicht das inzwischen
       aus, um CDU und SPD zu überholen?
       
       Alina Wichmann lacht kräftig los. Dann fragt sie nach: "Raufelder? War der
       hier der Kandidat?" Tja, dann hat sie diesem Herrn wohl in den Landtag
       verholfen. Für die Kandidaten auf dem Wahlzetteln habe sie sich eigentlich
       nicht interessiert, sagt die Sängerin. "Bei uns hier wurde eher parteimäßig
       gewählt."
       
       Bei uns hier. Alina Wichmann, 25 Jahre, kann das so sagen. Denn für die
       Grünen haben am Sonntag vor einer Woche so ziemlich alle gestimmt, mit
       denen sie hier an der Popakademie im Jungbusch studiert. Künstler seien nun
       mal Idealisten. "Und weil wir nicht so marktwirtschaftlich denken, sind wir
       natürlich alle eher links orientiert."
       
       ## Nach Japan war alles anders
       
       Unter normalen Umständen hätten allerdings wohl einige ihrer Freunde
       vergessen, zur Wahl zu gehen. Diesmal war das anders. Die Atomkatastrophe
       in Japan, sie war auch an der Popakademie das große Thema. Abends in der
       Kneipe wurde plötzlich über Energiepolitik diskutiert. Alle hätten sich
       "machtlos gefühlt" angesichts der furchtbaren Bilder, sagt Alina Wichmann.
       "Und dem konnte man mit der Stimmabgabe etwas entgegensetzen." Die
       Popmusikdesign-Studentin hat sogar ihr Foto bei Facebook kürzlich mit einem
       "Atomkraft? Nein danke!"-Button verziert. Das Siebzigerjahre-Logo sei
       wieder zum "coolen Brand" geworden, sagt sie. "Das ist doch wirklich
       schön!"
       
       Sechs Kilometer weiter östlich redet Volker Keller nicht von Logos und
       Brands, sondern von Kindern. Der Grundschulrektor hat eine Tabelle mit den
       Wahlergebnissen auf dem Esszimmertisch ausgebreitet. Sie beweist, was vor
       Kurzem kaum jemand für möglich gehalten hätte: Nirgendwo im Mannheimer
       Süden gewannen die Grünen mehr dazu als in diesem Viertel. Plus 16,5
       Prozentpunkte - ausgerechnet in Neuostheim, das traditionell als
       tiefschwarz galt! Der Schulleiter verrät nicht, ob er selbst auch dazu
       beigetragen hat. Aber er hat eine These, wie es zu dem Umschwung kam: "Hier
       wird jetzt wegen der Kinder grün gewählt."
       
       Die Kellers haben sich in Neuostheim ihren Traum vom eigenen Haus mit
       Garten erfüllt. Ein Lüster hängt im Flur, historische Stiche schmücken die
       Wände, die älteste Tochter übt Klavier, im Esszimmer stapeln sich
       Geigenkästen. Die Grundstücke sind groß in diesem Villenviertel aus den
       zwanziger Jahren, keine drei Minuten von der Neckarpromenade entfernt.
       Magnolien blühen in alten Gärten. Und unter den Alleebäumen parkt schon mal
       ein Jaguar zwischen neuen Oberklassekombis. Wer hier herzieht, hat es
       geschafft.
       
       Wohlhabend, spießig, alt - so hätte Volker Keller seine Nachbarschaft
       früher beschrieben. Heute sei Neuostheim zwar immer noch reich und
       bürgerlich, sagt der Schulleiter, aber die Bewohner würden immer jünger.
       Mit drei Kindern liege seine Familie inzwischen eher unter dem
       Durchschnitt. Und das habe auch politische Folgen. Denn Mannheims Süden sei
       nicht nur geplagt von dem Regionalflughafen und dem Kohlekraftwerk. "Wir
       sind umzingelt von Atomkraftwerken", sagt Keller. "Große Konzepte brauchen
       die Grünen da vielleicht gar nicht."
       
       Von Programmatik sprechen auch Boris Stepanow und Verena Joost nicht, wenn
       sie das Wahlergebnis in ihrer Nachbarschaft erklären. Es geht mehr um das
       perfekte Lebensgefühl. Das kinderlose Paar ist eher zufällig in Neuostheim
       gelandet. Eigentlich hatten die beiden eine Eigentumswohnung drüben im
       Jungbusch gesucht, wo Stepanow eine Internetagentur mit 26 Angestellten
       betreibt. "Aber dieses Loft hier, das war es", sagt Verena Joost.
       
       Die Lehrerin und der Unternehmer haben eine frühere Eckkneipe in ein
       Zuhause verwandelt, wie man es aus Designmagazinen kennt. Unter dem Tisch
       schlummert Hugo, ein französischer Hirtenhund mit neckischem Felldutt auf
       dem Kopf. Vor der Tür wartet der Luxusjeep auf die nächste Fahrt durch die
       Innenstadt zum Büro.
       
       ## Elektroautos sucht man vergeblich
       
       "Eine kleine heile Welt", sagt Verena Joost über ihre neue Nachbarschaft.
       "Man kümmert sich." Was im Park gegenüber passiere, sei nicht egal. "Die
       Kehrwoche geht hier mit Grünsein zusammen." Am Wochenende trifft man die
       Nachbarn nicht auf der Anti-Atomkraft-Demo, sondern am Brotstand im
       Biosupermarkt. Weil die Brötchen vom Bäcker im Viertel nicht schmecken.
       "Das Elektroauto sucht man hier vergeblich", sagt Verena Joost.
       
       In Neuostheim lebe man eben keinen Öko-"Fundamentalismus". Eher schon ein
       "wohlstandsgrünes Dasein". Und Raufelder finden beide einfach
       "authentisch". Keiner, der die Leute noch verschrecke. "Zumindest nicht,
       seit er keinen Vokuhila mehr trägt", witzelt Stepanow.
       
       Oft hat Wolfgang Raufelder sich belächeln lassen, weil er für den
       Lebensraum von Drosselrohrsängern in der Großstadt kämpfte, zu Natursafaris
       durch Mannheim lud und vor Kraftwerkszäunen gelbe Anti-AKW-Tücher
       hochhielt. Wann immer er im Gemeinderat für regenerative Energien warb,
       erklärte die CDU seine Ideen für Unfug. Und nun? War genau das sein
       Kapital. Der Wahlsieger wirkt, als könne er es so richtig noch nicht
       fassen. "Schon Wahnsinn", sagt Raufelder. "So ändern sich die Zeiten."
       
       6 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Astrid Geisler
       
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