# taz.de -- Historiker über Eichmann-Prozess: "Tüchtig, klug, sogar charmant"
       
       > Vor 50 Jahren begann der Prozess gegen Adolf Eichmann. Historiker Ulrich
       > Herbert sieht in ihm eher einen intellektuellen Überzeugungstäter als
       > einen asozialen Verbrecher.
       
 (IMG) Bild: Gewiss ein Befehlsempfänger, aber zugleich ein Überzeugungstäter: Adolf Eichmann vor 50 Jahren.
       
       taz: Herr Herbert, heute vor 50 Jahren begann der Prozess gegen Adolf
       Eichmann. Hannah Arendt hat ihn als Bürokraten beschrieben, der unfähig
       ist, moralisch zu urteilen? War das eine zutreffende Beschreibung? 
       
       Ulrich Herbert: Nein. Dass ein Bürokrat nicht in der Lage sei, moralisch zu
       urteilen, ist ja nicht per se plausibel. Eichmann tat, was er tat, weil er
       überzeugt war, dass dies im Sinne eines höheren Ziels, auch eines höheren
       Rechts, richtig war, auch wenn es gegen die konventionelle Moral verstieß,
       mit der er aufgewachsen war. Dass er den Transport der Juden in die
       Vernichtungsstationen im besetzten Polen bürokratisch organisierte und die
       Züge planmäßig laufen ließ, empfand er als Fortschritt gegenüber der
       chaotischen Weise, wie etwa die Einsatzgruppen die Juden zu den
       Erschießungsgräben brachten.
       
       Eichmann hat sich im Jerusalemer Prozess als Befehlsempfänger präsentiert,
       als jemand, der tat, was ihm gesagt wurde. Das war also eine Inszenierung? 
       
       Das ist widersprüchlicher. Eichmann war gewiss ein Befehlsempfänger, aber
       zugleich ein Überzeugungstäter: einer, der das, was er befehlsgemäß tat,
       auch tun wollte. Zugleich aber suchten die Israelis 1962 nach der
       zentralen, symbolischen Figur des Judenmords, und in Eichmann fanden sie
       einen aus der dritten Reihe, ohne persönliches Format. In gewisser Weise
       wirkte das wie eine nachträgliche Beleidigung der Toten.
       
       Also war Eichmann keine zentrale Figur des Holocaust? 
       
       Er hat keine grundsätzlichen Entscheidungen getroffen wie Himmler und
       Heydrich. Er war auch kein Regionalfürst mit beinahe unumschränkter Macht
       wie Frank in Polen oder die höheren SS- und Polizeiführer in der
       Sowjetunion. Aber Eichmann hatte in Wien ein System der Erfassung und
       Deportation der Juden entwickelt, das er und seine Leute dann in ganz
       Europa anwenden konnten. Insofern war er von großer Bedeutung - ein
       Organisator, der etwa bei der Koordination der Deportation der
       westeuropäischen Juden klar erkennbar auch eine antreibende, eskalierende
       Rolle spielte.
       
       Warum hatte Arendts Formel von der "Banalität des Bösen" eine so
       durchschlagende Wirkung - wenn das Bild des Bürokraten den historischen
       Fakten nur bedingt entsprach? 
       
       Eben weil es eine Formel war. Sie formulierte einerseits die Enttäuschung
       über den Mangel an wenn auch diabolischer Größe, die man angesichts der
       Millionen von Opfern bei einem der wichtigsten Organisatoren des
       Massenmords doch irgendwie erwartete. Andererseits auch einen späten
       Triumph, wenn man sah: Dieser große Mörder - was war das für ein Würstchen!
       In Deutschland aber passte der Begriff gut in die Vorstellung von den Nazis
       als "asozialen Verbrechern". Die Täter waren also Bürokraten und Kretins -
       dass es auch promovierte Einsatzgruppenchefs wie Ohlendorf oder Rasch gab,
       kam in diesem Bild nicht vor.
       
       Das war eine Ausweichbewegung? 
       
       Im Frankfurter Auschwitzprozess in den 60er Jahren wurde ausgerechnet der
       Unterscharführer Oswald Kaduk, vorher Metzger und Feuerwehrmann, zum Symbol
       der KZ-Morde. Ein kleines Licht, ein brutaler Kerl. Damit war für die
       bürgerliche Gesellschaft in Deutschland auch ein Element der Entlastung und
       des Selbstschutzes verbunden. Die "Kaduks dieser Welt" waren es!, hieß es,
       und die fänden sich bekanntlich überall.
       
       Im Rückblick erkennt man Konjunkturen von Täterbildern, die immer auch
       Erklärungen des NS-Systems sind: In den 50ern galten die Nazis als
       Deklassierte, Kriminelle … 
       
       … "wirkliche Asoziale", wie Konrad Adenauer sagte.
       
       Warum haben die Historiker nicht dafür gesorgt, dass es ein genaueres Bild
       der Täter gab? 
       
       Das war in den fünfziger und sechziger Jahren nicht das vorrangige Problem.
       Es gab damals Forschungen über Tätergruppen, aber meist von Außenseitern.
       Die Gesellschaft dieser Jahrzehnte fragte: Wie konnte das geschehen? Nicht:
       Wer waren die Verantwortlichen? Darauf antworteten die Historiker. Zudem
       gab es in der NS-Forschung jahrzehntelang eine richtige Scheu davor, Namen
       zu nennen. Der bedeutende NS-Historiker Martin Broszat etwa war der
       Überzeugung, dass die NS-Täter unwichtig seien, gewissermaßen nicht
       geschichtsfähig. Es komme auf die Strukturen an - was bis zu einem gewissen
       Punkt ja auch stimmt. Die Geschichte der Personen allein erklärt gar
       nichts. Aber das war nur die eine Seite. Es gab ja auch massive Widerstände
       gegen Forschungen über die Täter und ihre Verhältnis zur deutschen
       Gesellschaft.
       
       Von wem? 
       
       Man darf nicht vergessen, dass in der Bundesrepublik erst seit den frühen
       60er Jahren wieder Prozesse gegen NS-Täter in Gang kamen, die zudem in der
       Bundesrepublik unpopulär waren. Forschungen und Recherchen von Historikern
       stießen auf Abwehr und Schweigen. Das war auch deshalb so erfolgreich, weil
       die NS-Eliten in vieler Weise mit den Eliten der Bundesrepublik verbunden
       waren. Ein Beispiel: Die weitreichendste Amnestie der Spitzenleute des
       Terrorsystems geschah auf einem juristischen Umweg, durch ein ganz
       unscheinbar aussehendes "Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz"
       von 1968, veranlasst von Ministerialbeamten im Bundesjustizministerium,
       koordiniert von einem hoch angesehenen Ministerialdirigenten, Dr. Eduard
       Dreher, den jeder Jurist bis heute als führenden Kommentator des
       Strafgesetzbuches kennt.
       
       Aber manches war auch vor vierzig Jahren bekannt: Nehmen wir den Fall
       Globke, Adenauers Kanzleramtschef und Kommentator der NS-Rassengesetze,
       dessen Verbindung zu Eichmann von der Bonner Regierung verschleiert wurde. 
       
       Ja, der Fall Globke war der Paradeskandal der 50er und 60er Jahre. Die
       Adenauer-Regierung wollte auch verhindern, dass es einen öffentlichen
       Prozess mit viel internationalem Aufsehen gegen Leute wie Eichmann gab,
       weil sie dadurch das "deutsche Ansehen" gefährdet sah. Das wirkt heute fast
       naiv. Aber zugleich lenkte der Fall Globke auch davon ab, dass nahezu alle
       hochrangigen Nazis, die Krieg und Nachkriegszeit überlebt hatten, auch aus
       Gestapo und SS, jahrzehntelang unbehelligt in der Mitte unserer
       Gesellschaft lebten. In dem Polizeipräsidium, das meiner Schule in Mülheim
       an der Ruhr gegenüberlag, sind in den 60er und 70er Jahren die einstigen
       SS-Spitzenleute ein und aus gegangen. In Mülheim lebte bis 1979 Otto
       Bovensiepen, der als Chef der Berliner Gestapo von 1941 bis 1943 die
       Deportation der Berliner Juden "in den Osten" organisiert hat. Er war
       Geschäftsführer in einem Versicherungsunternehmen. In der Stadt wusste man
       das offenbar, und das war ganz normal.
       
       Warum ist es noch heute so schwierig aufzuzeigen, wie BND und BKA Täter wie
       Eichmann und Barbie beschützt haben. Das passt doch nicht zum Selbstbild
       des Weltmeisters in Vergangenheitsbewältigung? 
       
       Zum einen: Alle Bundesregierungen bis in die späten 90er Jahre haben
       sorgfältig darauf geachtet, dass diese "sicherheitsrelevanten" Bereiche
       hermetisch verschlossen blieben. Erst jetzt wird vorsichtig Aktenzugang
       gewährt. Zum anderen ist das Bild eines gelungenen Projekts
       "Vergangenheitsbewältigung" eben falsch und trägt zur Mythenbildung bei.
       Zur Erinnerung: Sinti und Roma galten bis in die 60er Jahre nicht als
       NS-Verfolgte, weder juristisch noch in der öffentlichen Meinung - will
       sagen: Sie galten als Kriminelle, die sozusagen zu Recht im KZ gewesen
       waren. Es hat viele Jahre und ungeheure Mühe gebraucht, das zu ändern. Die
       so genannte Vergangenheitsbewältigung war in Wirklichkeit ein
       jahrzehntelanger Kampf um Aufklärung - gegen eine Verschwörung der
       Verschwiegenheit. Hinterher sieht es dann so aus, als habe man immer schon
       alles gewusst und alle seien immer dafür gewesen, das aufzuklären.
       
       Sie haben vor fünfzehn Jahren eine Biografie über den SS-Intellektuellen
       Werner Best geschrieben. Auch der hat bis zu seinem Tod 1989 in Mülheim
       gewohnt. Haben Sie ihn getroffen? 
       
       Nein. Ich habe das in den Akten entdeckt. Ich wusste das gar nicht.
       
       Der SS-Mann, der als Justitiar und Unternehmensberater in der gleichen
       Stadt lebt - das ist ein Symbol für die Eliten, die in der Bundesrepublik
       recht unbehelligt weiterlebten? 
       
       Das kann man so sehen.
       
       Best war in den 30er Jahren Stellvertreter Heydrichs in der Gestapo, später
       hat er die Besatzung in Frankreich und Dänemark mit organisiert. War er an
       Massenmorden beteiligt? 
       
       Best war 1934 für die Morde an der SA mitverantwortlich, er hat dann die
       Gestapo organisatorisch aufgebaut. Im Herbst 1939 hat er, von Berlin aus,
       die Einsatzgruppen dirigiert, die in Polen Massenmorde begingen. In
       Frankreich setzt er sich dafür ein, keine Franzosen als Geiseln zu
       erschießen - sondern besser Juden nach dem Osten deportieren zu lassen,
       weil ihm das das effektivere Mittel zu sein schien. In Dänemark schlug er
       als deutscher Reichsbevollmächtigter erst die Deportation der Juden vor und
       trug dann auf eine sehr widersprüchliche, komplizierte Weise dazu bei, dass
       sich Juden retten können. Er war keiner, der an der Grube stand, sondern
       einer, der Apparate organisierte und politische und juristische
       Begründungen für die NS-Verbrechen entwickelte.
       
       Ein Schreibtischtäter? 
       
       Ja, auch. Er lenkte die Apparate der Verfolgung und des Mordes. Zudem
       liefert er vor allem Begründungen, warum es notwendig und unumgänglich ist,
       bestimmte Völker umzubringen. Er ist im Legitimationsgeschäft. Er denkt den
       Nationalsozialismus. "Vernichtung und Verdrängung fremden Volkstums
       widerspricht nach geschichtlichen Erfahrungen den Lebensgesetzen nicht,
       wenn sie vollständig geschieht", formulierte er 1942 in der "Zeitschrift
       für Politik".
       
       Best, so wie Sie ihn schildern, ist rational. Ist er das Paradox eines
       rationalen Antisemiten? 
       
       Best sah sich als Antisemit ohne antisemitische Gefühle, der den
       Straßenantisemitismus ablehnte und die Verfolgung der Juden als "historisch
       notwendig" ansah. Eine solche Selbststilisierung war in der NS-Bewegung,
       vor allem bei Studenten, nicht selten. Best und andere waren überzeugt,
       dass biologische Systeme entscheidend sind, dass Eigenschaftskombinationen
       von Völkern und Rassen der Grund für die Widersprüche der Moderne sind.
       Leuten wie Best erschienen Antisemitismus und Rassismus als rationale
       Welterklärung. Für sie erklärt sich der Lauf der Geschichte dadurch, dass
       sie Volk und Rasse als Subjekte der Geschichte sehen.
       
       Wie wichtig ist die Tätergruppe mit diesem biografischen Profil für das
       NS-System? 
       
       Sie ist eine unter vielen, aber eine besonders wichtige, weil sie in den
       Schaltstellen des Terrors besonders häufig vertreten war - das hat ja vor
       allem Michael Wildt sehr deutlich gezeigt. In der Partei gibt es diesen
       Typus hingegen kaum. Dass so viele junge Akademiker gerade in der Führung
       von SS und Gestapo zu finden sind, widerspricht dem Bild, das etwa
       Friedrich Meinecke nach dem Kriege gezeichnet hat, in dem das gebildete
       Deutschland für das "andere Deutschland" stand. So war es eben nicht. Der
       intellektuelle Fortschritt der letzten 30 Jahre besteht in der Erkenntnis:
       Diese extremen Massenmörder waren vielfach tüchtige, kluge, womöglich sogar
       charmante Herrschaften, keine Monster. Das ist gedanklich nach wie vor
       schwer auszuhalten.
       
       11 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) S. Reinecke
       
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