# taz.de -- Integrativ lernen: Gemeinsam lernen muss Schule machen
> Die Fläming-Grundschule in Friedenau ist ein Vorzeigeprojekt: Behinderte
> und nichtbehinderte Kinder lernen hier seit 35 Jahren gemeinsam. Nach
> diesem Vorbild will der Senat nun Berlins Schullandschaft umgestalten.
(IMG) Bild: Gemeinsam lernen lautet die neue Devision des Senats.
Sie tanzen, als würde niemand zuschauen. Über Tische und Bänke. Zu zweit,
allein, in einer Reihe. Es sind große und kleine Kinder, dicke und dünne,
schüchterne und laute, behinderte und nichtbehinderte. "Hier wird nicht
durch Reden integriert, sondern durch Machen", sagt Lehrerin Gudrun Haase.
Sie bereitet mit 40 Kindern der Fläming-Grundschule in Friedenau eine
Schulaufführung vor. Unter Elefantenmasken, Affenohren und Bärenumhängen
verbergen sich genetische Syndrome, geistige Behinderungen,
Verhaltensstörungen und Hochbegabungen. Aber das sind Etiketten, die an
dieser Schule nur ungern verteilt werden. Seit 1975 lernen hier behinderte
und nichtbehinderte Kinder gemeinsam. Nicht nur in Theaterprojekten,
sondern in jeder einzelnen Klasse.
Die Fläming-Grundschule ist eine "Schule für alle": auch für Kinder im
Rollstuhl oder mit seltenen Erkrankungen wie der Glasknochenkrankheit, für
blinde und taube Kinder und solche, die bald sterben werden. Es ist eine
Schule, die nicht aussondert, sondern alle Kinder gemeinsam beschult, die
in der Nähe wohnen. Inklusion nennt man das in der Fachwelt. Auch Politiker
müssen den Begriff erst lernen, obwohl eine von Deutschland unterschriebene
und 2009 in Kraft getretene UN-Konvention, jedem behinderten Kind das Recht
zuspricht, mit nichtbehinderten Kindern zur Schule zu gehen. Nach
Auffassung vieler Rechtswissenschaftler gibt es damit ein einklagbares
Menschenrecht auf inklusive Beschulung. Auch der Berliner Senat hat jetzt
gehandelt - Anfang der Woche stellte er vor LehrerInnen und Eltern sein
Konzept für ein inklusives Schulsystem vor.
## Berlin steht ganz gut da
Im Deutschlandvergleich ist Berlin schon jetzt unter den Spitzenreitern bei
der inklusiven Beschulung: Mehr als 40 Prozent aller behinderten Kinder
werden zusammen mit nichtbehinderten unterrichtet. Aber in der Regel sind
es die weniger Betroffenen, und viele ihrer Eltern mussten lange dafür
kämpfen. Denn zu den Grundfesten unseres Bildungssystems gehört der Glaube,
dass Kinder umso besser lernen, je geringer die Leistungsunterschiede sind.
Deshalb ist Deutschland Weltmeister der Selektion. Auch Berlin verteilt
seine Kinder auf Gymnasien, Sekundarschulen und - am Boden der
Leistungspyramide - Sonderschulen, die inzwischen gern Förderzentren
genannt werden.
Was soll ein kluger Kopf auch von einem geistig behinderten Kind lernen?
Und überfordert der gemeinsame Unterricht nicht sowohl die Behinderten als
auch die LehrerInnen? Es sind die Erwachsenen, die sich das fragen. Eltern,
LehrerInnen und PolitikerInnen, die sich mit der Notwendigkeit der
inklusiven Schule konfrontiert sehen. Kinder stellen sich solche Fragen
genauso wenig, wie sie jeden Tag und jeden Spielkameraden nach dem Nutzen
für das eigene Vorwärtskommen bewerten. "Die Kinder begegnen sich mit einer
Wärme, wie ich sie bei den Erwachsenen nie wiedersehe", sagt Lehrerin
Gudrun Haase am Rande der Theaterprobe.
In der 3. Klasse, ein Stockwerk über der Theater-AG, steht "Magnetismus" in
großen Buchstaben an der Tafel. Der Unterricht hat längst begonnen, aber
keines der 18 Kinder ist ruhig. Sie sitzen, stehen, laufen um die vier
Tischgruppen herum. "Ich erklär dir das mit dem Kompass", sagt ein Junge zu
seinem Nachbarn. Auf dem Boden liegen zwei Mädchen vor einer großen
Holzkiste mit Metallstücken. Die eine hakt Aufgaben auf ihrem Arbeitsblatt
ab, die andere schaut ihr zu. Die Lehrerin steht nicht vor der Tafel,
sondern mitten im Zimmer. "Die Kinder haben unterschiedliche Lernziele",
sagt sie. "Ich bewerte ihre Fortschritte auf der Grundlage ihrer
Möglichkeiten."
## Pizzabacken im Unterricht
Bis zu fünf SchülerInnen pro Klasse haben einen sonderpädogogischen
Förderbedarf. ErzieherInnen und SonderpädagogInnen unterstützen die
LehrerInnen, regelmäßig holen sie ein Kind zu einer Extrastunde - etwa zum
Pizzabacken im lebenskundlichen Unterricht.
Den Fragen und Ängsten der Erwachsenen wissen sie an der
Fläming-Grundschule dank jahrzehntelanger Erfahrung zu begegnen.
Überdurchschnittlich viele ihrer Kinder bekämen eine Gymnasialempfehlung,
sagt Direktorin Rita Schaffrinna. Gerade die nichtbehinderten Kinder machen
zudem die Erfahrung, dass sie keine Angst vor Ausgrenzung haben müssen.
"Inklusion ist eine radikal-soziale Idee", so Schaffrinna. Sie setze dem
selektiven System eines entgegen, in dem jeder so willkommen ist, wie er
ist. "Das ist eine Idee, die für alle da ist, und nahezu jedes Kind kommt
irgendwann in eine Situation, in der es besonders gefördert werden muss."
Das kann die Scheidung der Eltern sein oder der Verlust der Oma, ein
Zerwürfnis mit den Klassenkameraden oder Versagensängste.
Die Frage, ob behinderte Kinder in der Regelschule ausreichend gefördert
werden oder ob das nicht auch die LehrerInnen überfordert, ist schwieriger
zu beantworten. "Das hängt von den Ressourcen ab", sagt Fred Ziebarth. Er
ist sonderpädagogischer Koordinator an der Fläming-Schule und berät ganze
Klassen, einzelne SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen. An der
Fläming-Schule gebe es ein breites Unterstützungssystem, aber Förderzentren
seien häufig noch genauer auf die Bedürfnisse Behinderter zugeschnitten.
"Ob ein behindertes Kind besser in einem Förderzentrum oder in einer
inklusiven Schule aufgehoben ist, ist eine Glaubensfrage", sagt Ziebarth.
Es sei die Entscheidung darüber, ob Kinder besser in einer spezialisierten
Umgebung oder mitten im Leben aufwachsen sollen. "Selbst bei uns erfahren
behinderte Kinder ab und an Ausgrenzung", so Ziebarth. Aber damit seien
auch Sonderschüler konfrontiert, sobald sie nur das Schulgebäude verlassen.
Als vor 35 Jahren die erste Integrationsklasse an der Fläming-Grundschule
eingeschult wurde, war dies nur der Hartnäckigkeit einiger Eltern,
ErzieherInnen und LehrerInnen geschuldet, denen die gängige Aussonderung
Behinderter mit der gesellschaftlichen Emanzipation unvereinbar schien.
Heute ist zumindest die Rechtslage eine andere: Auf den Druck der
UN-Konvention hat der Senat mit seinem Konzept zur inklusiven Beschulung
reagiert und ein Umdenken in Aussicht gestellt. In allen Bezirken soll es
behindertengerecht ausgestattete Schwerpunktschulen geben, an denen
behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam lernen. Der Anteil der
inklusiv beschulten Kinder soll erhöht, die Zahl der Förderzentren
reduziert werden.
Gerade an gut ausgestatteten inklusiven Schulen wie der
Fläming-Grundschule, aber auch an den Förderzentren sieht man das Konzept
mit Unbehagen. Sie fürchten, dass ihnen Gelder entzogen werden, um sie auf
mehr Schulen zu verteilen. Denn zusätzliche Mittel - das müssen die
BildungspolitikerInnen der Regierung und Opposition eingestehen - wird es
kaum geben.
## Angst um die Gelder
Die Finanzierung ist für den Pädagogikprofessor Ulf Preuss-Lausitz von der
Technischen Universität Berlin nur eine der Herausforderungen. Wie andere
Inklusionswissenschaftler glaubt auch er, dass das inklusive Schulsystem
langfristig nicht mehr kostet als die Selektion in die verschiedenen
Schultypen.
Um aber aus der inklusiven Schule mehr als eine Utopie, mehr als
Insellösungen zu machen, brauche es eine Revolution des Bildungssystems.
Das fängt bei der Lehreraus- und -fortbildung an und geht beim Rütteln an
der Institution Gymnasium weiter. Vor allem aber müssen sowohl die
LehrerInnen aller Schultypen als auch die Eltern das Vertrauen haben, dass
sie mit der inklusiven Schule nichts verlieren, sondern gewinnen.
14 Apr 2011
## AUTOREN
(DIR) Manuela Heim
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