# taz.de -- Kommentar zur Krise der Idee von Europa: Europa gibt es nicht
       
       > Die Idee gemeinsamer Werte und Ziele ist illusorisch. Das zeigt jede neue
       > Krise eines EU-Landes. Und der Siegeszug des Trash-Populismus.
       
       Was hat die Abwehr tunesischer Flüchtlinge an der italienisch-französischen
       Grenze mit der erfolgreichen Stimmungsmache finnischer Rechtspopulisten
       gegen Rettungspakete für Griechenland zu tun?
       
       Vordergründig gar nichts - tatsächlich aber offenbart sich immer deutlicher
       die Krise der europäischen Idee: der Vision also, dass alle Länder Europas
       gemeinsame Werte und Ziele teilen und dass sie gemeinsam Entscheidungen für
       das gemeinsame Wohl treffen können.
       
       Das hehre Ideal von der Einheit Europas als alternativloser Endpunkt des
       geschichtlichen Fortschritts war schon immer eine Kopfgeburt einer schmalen
       Elite, eine utopische Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und
       ein schaler Ersatz für die danach untergegangenen imperialen
       Weltmachtträume. Die Einführung des Euro als politisches Projekt, das
       Europa endlich auf Augenhöhe mit den USA bringen sollte, war sein letzter
       Erfolg.
       
       Dass der Euro ökonomischer Unfug ist, weil die beteiligten
       Volkswirtschaften keine gemeinsame Zentralbank vertragen, rächt sich nun in
       den Krisen, die regelmäßig im Halbjahresrhythmus aufkommen: Griechenland
       vor einem Jahr, Irland vor einem halben, Portugal heute, und wer im Herbst
       2011 dran ist, dürfen die Spekulanten an den Finanzmärkten bestimmen.
       
       Mit jeder dieser Krisen wächst der Druck auf die noch intakten
       Volkswirtschaften der Eurozone, ihre eigenen Interessen hinter die der
       kränkelnden Partner zurückzustellen, um des gemeinsamen Projektes willen.
       Dies bedeutet, dass die Wähler eines Landes für die Folgen der
       Entscheidungen von Regierungen anderer Länder, die sie selbst gar nicht
       gewählt haben und auch nicht beeinflussen können, geradestehen sollen. Das
       mag eine logische, vielleicht sogar gewollte Konsequenz der Währungsunion
       sein, aber in der Praxis verwandelt es lediglich ökonomischen in
       politischen Unfug und höhlt jede Form von Demokratie aus.
       
       ## Der Siegeszug des Populismus
       
       Populismus als Reaktion auf den Verlust ökonomischer Souveränität ist
       vertraut aus Entwicklungsländern, die in die Krise geraten. Das ist in
       Europa allerdings auch nicht anders, denn europäische Länder sind nicht
       anders als andere Länder, egal was Propagandisten des europäischen
       Sonderweges denken. Der Siegeszug des Populismus in der EU macht sich nicht
       so sehr daran fest, ob Wahre Finnen oder Freiheitliche Österreicher in
       Parlamente und Regierungen einziehen. Sie verkörpern lediglich die
       Trash-Variante des Populismus, der heutzutage in Europa zunehmend die
       Politik bestimmt.
       
       Sein Kern besteht in einer Veränderung des Blickwinkels, aus dem heraus
       Regierungen politische Entscheidungen treffen. Ob in Paris oder Rom, ob in
       Berlin oder London, sie sagen immer öfter: Wieso soll ich etwas gut finden,
       was mein Nachbar macht, bloß weil es EU-konform ist? Wieso soll ich meine
       eigenen Interessen zurückstellen?
       
       Im Prinzip ist diese Form des Populismus eine gesunde demokratische
       Reaktion, aber sie ist nichtsdestotrotz lediglich eine Reaktion. Ob Italien
       tunesische Flüchtlinge auf andere Länder verteilt; ob Frankreich
       bulgarische Roma deportiert; ob Deutschland sich im UN-Sicherheitsrat aus
       der europäischen Außenpolitik verabschiedet; ob Großbritannien
       Finanzmarktregulierungen blockiert - all dies sind keine gestaltenden
       Momente eines eigenen politischen Projekts.
       
       Es sind Demonstrationen der Abgrenzung mit Blick auf die nächste Wahl. Dass
       dieser eigentlich urdemokratische Reflex jetzt immer als populistisch und
       damit als irgendwie anrüchig gilt und dass daher die skrupellosesten
       Rattenfänger ihn als Erste für sich entdecken und anwenden, ist ein
       weiteres Indiz für die Sinnkrise Europas.
       
       Ganz normale, unaufgeregte demokratische Willensbildung ist kaum noch
       möglich. Die europäische Idee schrumpft derweil auf einen unübersichtlichen
       Wust von Verfahrensregeln, mit denen man zwar Rapssubventionen und
       Glühbirnenrichtlinien auf den Weg bringen kann, nicht aber gemeinsame
       politische Interessen und Ziele.
       
       Warum sollten die 500 Millionen Europäer auch so tun, als hätten sie
       gemeinsame Interessen und Ziele? Europa gibt es nicht, es ist gescheitert
       an den Europäern. Für den Rest der Welt, der lange genug unter dem
       Großmachtstreben europäischer Imperialisten und der Selbstüberschätzung
       europäischer Zivilisatoren gelitten hat, ist das ein Segen. Jetzt müssen es
       nur noch die Europäer merken.
       
       19 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dominic Johnson
       
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