# taz.de -- Interview mit einem gehörlosen Bankberater: "Wir müssen Gebärden erfinden"
       
       > Robert Davis, selbst gehörlos, arbeitet als Bankberater für
       > hörgeschädigte Kunden. Seine Gebärden für Begriffe wie "Riester-Rente"
       > sind bisweilen sehr kreativ.
       
 (IMG) Bild: Robert Davis bei seiner täglichen Kreativ-Arbeit: So sehen die beiden Gebärden für den Begriff "Bank...beratung" aus.
       
       taz: Herr Davis, was war das letzte Geräusch, an das Sie sich erinnern
       können? 
       
       Robert Davis: Das war der Narkosearzt, der mich dazu aufforderte, bis zehn
       zu zählen. Als ich aufwachte, quatsche die Krankenschwester mit mir. Ich
       habe aber nichts mehr gehört.
       
       Herr Davis, Sie haben Ihr Gehör mit 40 durch eine Krankheit verloren. Kam
       der Verlust plötzlich? 
       
       Es war ein schleichender Prozess. Nach einer Infektion wurde ich operiert
       und infolgedessen auf einem Ohr gehörlos, auf dem anderen ließ mein
       Hörvermögen immer mehr nach. Eines Tages stand ich vor dem
       Badezimmerspiegel und erschrak - denn ich blutete aus den Ohren. Nach einer
       weiteren Operation war ich vollständig taub.
       
       Sie hören heute also überhaupt nichts mehr? 
       
       Durch meine Implantate bekomme ich einen Rieseninput an Informationen, die
       ich nicht verwerten kann. Ich nehme Hintergrundgeräusche wahr, weiß aber
       nicht, sind es schreiende Kinder oder vorbeirasende Autos. Die Stimmen, die
       ich jetzt wahrnehme, hören sich an wie die von Robotern oder von Micky
       Maus.
       
       Sie haben den Hörverlust zunächst gegenüber Ihrem Arbeitgeber versteckt.
       Warum? 
       
       Ich wurde langsam schwerbehindert und habe mich geschämt. Deswegen habe ich
       versucht, meinen Beruf so weiter auszuüben wie bisher. Ich hatte Angst,
       habe mein ganzes Leben an der Börse gearbeitet. Ich konnte mir schlicht
       nicht vorstellen, etwas anderes zu machen und meinen Job zu verlieren.
       
       Wie konnten Sie den Hörverlust verbergen? 
       
       Ich hatte immer häufiger Probleme, die Zahlen am Telefon zu verstehen.
       Deswegen habe ich meinen Arbeitsplatz aufgerüstet, meine Telefone heimlich
       mit Verstärkern ausgestattet, immer seltener meine Kunden angerufen und bin
       auf E-Mail-Kommunikation ausgewichen. Aber ich hatte ständig Angst davor,
       Fehler zu machen. Ich habe täglich mit Millionenbeträgen gehandelt, und
       nachts lag ich dann wach, weil ich mir Sorgen machte, Zahlen verwechselt zu
       haben. Jeden Morgen, wenn ich den Bildschirm einschaltete, war ich
       schweißgebadet.
       
       Auch Ihrer Familie haben Sie den Hörverlust verschwiegen. Warum? 
       
       Auch meiner Familie gegenüber habe ich mich zunächst geschämt. Ich wollte
       die Konfrontation nicht und dachte immer, es wird besser, es wird etwas
       passieren. Aber es passiert nichts. Ich spielte den gesunden Familienvater
       und Ehemann, der ich längst nicht mehr war. Wir haben uns viel gestritten
       zu dieser Zeit, weil ich den Eindruck hatte, dass ich von bestimmten Sachen
       nicht informiert wurde. Aber letztendlich hatte ich es einfach nicht
       gehört.
       
       War dieses Versteckspiel nicht unglaublich stressig? 
       
       Es war Stress pur. Ich ging nicht mehr gern nach Hause oder zur Arbeit. Ich
       hatte immer Angst, entdeckt zu werden. Aber ich war in dieser Lügenspirale
       gefangen. Nachdem ich mich als Gehörloser geoutet habe, habe ich alle meine
       Freunde verloren. Diese Menschen sehe ich heute nicht mehr als Freunde.
       
       Für immer in der Stille, wie gewöhnt man sich daran? 
       
       Es war ein Schock für mich. Ein Beispiel: Ich habe irgendwann bei uns im
       Haus einen Knall gespürt, und ich wusste, meine Enkel sind oben. Es war
       klar, dass etwas passiert war. Aber ich wusste nicht, wo es war, was
       passiert war und wo die Kinder waren. Diese Hilflosigkeit war am Anfang
       sehr schwer zu ertragen.
       
       Und heute? 
       
       Aber heute finde ich es schön. Wenn ich Feierabend habe, bin ich offline.
       Ich muss nicht mehr den ganzen Krach um mich herum ertragen, keine
       gestressten Eltern und schreienden Kinder in der Weihnachtszeit hören. Ich
       habe meine völlige Ruhe und genieße das.
       
       Wie sehr müssen Sie gegen Vorurteile kämpfen? 
       
       Das Leben als Gehörloser ist in Deutschland verdammt einsam, man wird immer
       wieder angestarrt und weggeschickt. Wenn ich in England oder den USA
       gebärde, wird damit ganz anders umgegangen. Auch in Schweden und in
       Finnland arbeiten viel mehr Gehörlosendolmetscher, und die Gebärdensprache
       ist dort als Amts- und Unterrichtssprache anerkannt. Aber hier werde ich
       ständig angestarrt, wenn ich gebärde. In Sachen Toleranz und Akzeptanz
       hinkt Deutschland noch weit hinterher. Einmal war ich im Zug mit einer
       Bekannten unterwegs. Wir unterhielten uns. Dann hat sich ein Geschäftsmann
       fürchterlich über uns aufgeregt, weil wir angeblich so laut waren. Ich kann
       ja meine Stimme nicht kontrollieren. Meine Bekannte ist in Tränen
       ausgebrochen. Mir wurde auch schon gesagt: "Na, zumindest sind Sie nicht
       blind." Solche Sätze machen mich wütend.
       
       Sie arbeiten heute als Bankberater für hörgeschädigte Kunden bei der
       Commerzbank. Wie sehr hat sich Ihre Arbeit durch die Krankheit verändert? 
       
       Heute geht es nicht mehr nur ums Geld, sondern auch um eine Art
       Sozialberatung. Kunden kommen manchmal auf mich zu und benötigen Hilfe beim
       Autokauf oder der Arztsuche.
       
       "Vermögenswirksame Leistung", "Abgeltungssteuer" - im Bankwesen gibt es
       viele Fachausdrücke, neue Begriffe wie "Riester-Rente" kommen ständig
       hinzu. Wie entstehen neue Gebärden für neue Wörter? 
       
       Für neue Wörter müssen wir die Gebärde erst erfinden, wir Gehörlosen müssen
       sehr kreativ sein. Mit meinen Kunden einige ich mich zunächst auf ein
       Zeichen, bevor die Gehörlosengemeinde sich auf eine Gebärde einigt. Aber es
       kommt auch zu Irritationen: Einmal deutete ein Kunde auf seine Haare, ich
       dachte es geht um eine Friseurrente. Ich habe daraufhin recherchiert, ob es
       eine Frisur- oder Friseurrente gibt. Dann begriff ich: Riester hat einen
       Haarkranz. Der Kunde meinte die Riester-Rente.
       
       Sie handeln heute mit niedrigeren Summen als früher. Woran liegt das? Haben
       Gehörlose weniger Geld zur Verfügung? 
       
       Früher habe ich mit Millionen gehandelt, heute handelt es sich um
       wesentlich geringere Summen. Gehörlose haben es wesentlich schwerer auf dem
       Arbeitsmarkt. Sie leben nicht selten zurückgezogen und sind isoliert.
       
       Welche Töne vermissen Sie? 
       
       Ich vermisse das Lachen meiner Enkelkinder; dass ich nicht einfach meinen
       Papa anrufen kann. Wir haben jetzt eine Webcam, aber es ist eine sehr kalte
       Form der Kommunikation.
       
       Herr Davis, haben Sie die Hoffnung, jemals wieder hören zu können? 
       
       Nein, ich habe gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Anderenfalls
       würde ich nur immer wieder enttäuscht werden.
       
       21 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cigdem Akyol
       
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