# taz.de -- Interview mit Tschernobyl-Berichterstatter: "Kinder tranken verseuchtes Wasser"
       
       > Alexander Krutow berichtete als einziger TV-Journalist aus Tschernobyl.
       > Er erinnert sich, dass den Parteibonzen die Wahrheit bedrohlicher
       > erschien als der Tod unzähliger Menschen.
       
 (IMG) Bild: Überreste einer Katastrophe: Spielzeug und Gasmaske in Pripjat.
       
       taz: Herr Krutow, 1986 berichteten Sie als Fernsehjournalist aus
       Tschernobyl. Ihre Bilder waren die einzigen, die die Welt von der
       Reaktorkatastrophe zu sehen bekam. Wann erfuhren Sie von dem GAU? 
       
       Alexander Krutow: Ich arbeitete in der Nachrichtensendung "Wremja" des
       zentralen Fernsehens der UdSSR. Zwei Tage nach der Explosion hörten wir,
       dass in Tschernobyl etwas passiert war, und verlasen eine Meldung der
       staatlichen Agentur TASS, aus der nicht klar wurde, was vorgefallen war.
       Erst am 30. April, vier Tage nach der Katastrophe, wurde die Explosion
       öffentlich eingeräumt. Wir zeigten 30 Sekunden Bildmaterial, das das
       Militär gedreht hatte. Die Dimension des Unglücks ging daraus aber nicht
       hervor.
       
       Am Nachmittag des 1. Mai, der noch mit einer Militärparade gefeiert wurde,
       rief mich das Politbüromitglied der KPdSU Alexander Jakowlew ins Politbüro.
       Ich sollte mich sofort auf den Weg nach Tschernobyl machen. Die
       Parteiführung war vor allem über Berichte in westlichen Medien beunruhigt,
       die behaupteten, es seien schon Massengräber für tausende Opfer ausgehoben
       worden.
       
       Wie lautete der Auftrag des Politbüros? 
       
       Die Menschen müssen die Wahrheit erfahren, sagte Jakowlew. Ich fragte, ob
       wir alles zeigen dürften. Er darauf sibyllinisch: "Ja, alles, was ihr seht
       und was erlaubt wird." Es war der Beginn der Perestroika unter Gorbatschow,
       die mehr Offenheit bringen sollte. Ich nahm noch am Abend mit Kollegen der
       Prawda und Iswestja den Zug nach Kiew. Der war ganz leer, die Züge aus der
       Gegenrichtung platzten hingegen aus allen Nähten. Die Leute hingen sogar an
       den Türen, alle wollten weg.
       
       Wann erfuhr die Bevölkerung Einzelheiten? 
       
       Meine erste Reportage wurde am 8. Mai im zentralen Fernsehen gesendet. Vor
       Ort versuchten die Verantwortlichen jedoch, uns an der Arbeit zu hindern.
       Alle hatten Angst, sie könnten etwas Falsches machen. Das war auch der
       Grund für die spärlichen Informationen: Die Reaktorbetreiber fürchteten die
       politische Führung in Kiew, und diese wiederum wollte sich vor der Moskauer
       Nomenklatura keine Blöße geben. Erst als Jakowlew intervenierte, durften
       wir überall drehen.
       
       Das war eine erschreckende Erkenntnis: Für die Parteibonzen war die
       Wahrheit bedrohlicher als der Tod unzähliger Menschen. Tschernobyl legte
       den Werteverfall des kommunistischen Systems und seiner Eliten offen. Die
       einen verkrochen sich in Bunkern und überlegten fieberhaft, wie sie das
       Ausmaß der Katastrophe vertuschen oder wenigstens herunterspielen konnten.
       Andere machten sich einfach aus dem Staub. Zur gleichen Zeit kämpften
       einfache Leute mit dem Feuer. Die meisten trugen nicht einmal Schutzanzüge.
       Sie waren dem Tod geweiht, ahnten es, aber gaben trotzdem nicht auf.
       
       Gingen die Helfer wirklich freiwillig? War die totalitäre Verfasstheit der
       sowjetischen Gesellschaft nicht der Grund, warum die Folgen durch ein
       Großaufgebot an Hilfskräften schnell beseitigt werden konnten? 
       
       Die Sowjetunion war ein riesiger Koloss. Alle Ressourcen des Imperiums
       wurden mobilisiert und auf die Beseitigung der Katastrophe gelenkt -
       Menschen, Mittel, Finanzen, Technik. Aber auch die offizielle
       Solidaritätsideologie wirkte noch: "Fremdes Unglück gibt es nicht", hieß
       es, daher halfen alle Republiken. Der Sowjetbürger war zum Gemeinsinn
       erzogen worden, nicht alles war nur hohle Propaganda. Die Menschen waren
       eher zu Opfern bereit. Hunderttausende gingen durch die Hölle von
       Tschernobyl.
       
       Wären Staat und Gesellschaft heute dazu noch in der Lage? 
       
       Ich glaube nicht.
       
       Idealisieren Sie die Opferbereitschaft im Rückblick nicht? 
       
       Es war eine Mischung aus Freiwilligkeit und moralischem Druck. Niemand
       wurde einfach abbeordert. Ob Soldat oder Experte - alle wurden vorher
       gefragt. Viele willigten aber ein, weil sie sich dem sozialen Druck nicht
       entziehen konnten. Niemand wollte als Feigling dastehen. Natürlich gab es
       auch solche, die fürchteten, eine Weigerung hätte Konsequenzen für die
       Karriere. Es gab aber viele, die aus freien Stücken gingen.
       
       Also doch nicht purer Gemeinsinn und Hingabe. 
       
       Die damalige Gesellschaft war nicht so atomisiert. Heute verfügt der Mensch
       nur noch über ein videoclipartiges Bewusstsein. Individualismus verschüttet
       die europäische Zivilisation. Mit Geld und Gewalt lassen sich Katastrophen
       auffangen und hinausschieben, verhindern können sie sie nicht. Dazu bedarf
       es eines geistigen und moralischen Fundaments. Tschernobyl sandte
       widersprüchliche Signale aus: Einerseits stellte es die Kraft des
       Vielvölkerreiches noch einmal unter Beweis, im gleichen Atemzug legte es
       aber auch den Verfall der sowjetischen Eliten offen. Das Verhältnis der
       Führung zum Volk stand auf dem Prüfstand. Die Machthaber versagten.
       
       Ließe sich ein GAU im Zeitalter des Internets noch so lange geheim halten? 
       
       Das Internet wird in Russland nur von einer Minderheit genutzt. Natürlich
       ist es nicht mehr so einfach, etwas zu verheimlichen. An richtige
       Informationen zu gelangen, wie man sich schützen kann, setzt aber
       Orientierung und Wissen voraus. Russland hat schon Probleme, eine
       Grippewelle in den Griff zu bekommen. Wie steht es dann erst mit dem Atom?
       Tschernobyl war nicht zuletzt eine Folge des leichtfertigen Umgangs mit der
       Gefahr.
       
       Der Reaktor wurde bedient wie ein Tauchsieder. Das Sicherheitssystem war
       ausgeschaltet worden. Außerdem gab es keinen tauglichen Notfallplan.
       Niemand, nicht einmal die Wissenschaftler wussten, was zu tun war. Die
       Katastrophe wurde nach dem Prinzip Trial and Error bekämpft. Trotz Internet
       haben wir nichts dazugelernt. Die Kenntnisse sind heute noch geringer als
       in den 80er Jahren, als die Bedrohung durch einen nuklearen Schlagabtausch
       noch bestand.
       
       Im Fernen Osten Russlands deckte sich die Bevölkerung nach dem Unglück in
       Japan mit Jod und Rotwein ein. 
       
       Mich hat das an die ersten Eindrücke in Kiew erinnert. Überall waren die
       Scheiben der Apotheken zertrümmert, die Einwohner waren auf der Suche nach
       Jod. Sie haben das Zeug in riesigen Mengen geschluckt und sich innerlich
       verbrannt. Das waren die Folgen der Geheimhaltung, die Tausende das Leben
       kostete. In Pripjat gingen die Kinder noch am Tag nach der Explosion in die
       Schule und tranken das verseuchte Wasser. Ich war geschockt, als wir nach
       Tagen in Tschernobyl auf eine Stadt voller Menschen stießen. Als wäre
       nichts geschehen. Auch wir hatten keine Ahnung, sonst wären wir nicht in
       Straßenkleidung in die Sperrzone wie zum Picknick gefahren. Uns war auch
       gar nicht klar, dass die Augenzeugen, die wir interviewten, schon
       verstrahlt waren. Als man mir meine verseuchte Jacke wegnehmen wollte,
       wehrte ich mich noch. Folgen des Mangels, sie war schwer zu bekommen und
       teuer.
       
       Hat Tschernobyl Ihr persönliches Leben verändert? 
       
       Ein Storch saß auf einem Baum. Spatzen flogen auf ihn zu und fielen
       plötzlich tot vom Himmel. Die Anspannung war ungeheuer und die Gewissheit,
       dass etwas Schreckliches bevorstünde. Es war Mai und windig, alles stand in
       Blüte. Ich spürte Sand zwischen den Zähnen, erst langsam dämmerte mir, dass
       er radioaktiv ist. Eines Abends übernachtete ich mit dem Chefingenieur des
       Reaktors in einem Holzhaus. Eine Maus huschte über den Boden und fiel
       plötzlich um, die Hinterbeine versagten. "Überdosis", meinte der Ingenieur.
       
       Ich ging nach draußen, das Gefühl des Ausgeliefertseins war übermächtig.
       Der Mensch mag ein genialer Erfinder sein, die Folgen seiner Schöpfung
       beherrscht er aber nicht. An diesem Abend fand ich den Weg zum Glauben an
       Gott. Ich war getauft, aber nie ein praktizierender Christ gewesen. Seit
       dem Tag hat sich meine Haltung zum Leben, meinen Mitmenschen und zur Arbeit
       grundlegend geändert. Ich begriff, dass es noch ein anderes Leben gibt.
       
       Trotzdem glauben Sie, Atomenergie sei unverzichtbar? 
       
       Ich bin kein radikaler Gegner der Atomenergie, weil es sinnlos ist. Wenn
       der Mensch einmal beschlossen hat, das Atom zu zähmen, ist es aussichtslos,
       ihn zur Umkehr zu bewegen.
       
       Sehen Sie Parallelen zwischen Fukushima und Tschernobyl? 
       
       Ich glaube, die Japaner haben aus Tschernobyl Lehren gezogen und richtig
       reagiert. Für den Katastrophenfall hatten sie immerhin ein minutiöses
       Szenario. Mir schien das alles recht überlegt. Auch wenn sich die
       japanische Öffentlichkeit beklagte, dass die Bevölkerung nicht ausreichend
       über die Strahlungen informiert worden sei. Aus der Ferne hatte ich den
       Eindruck, dass die Japaner rechtzeitig vor den Folgen gewarnt und
       Informationen so dosiert wurden, damit keine Panik entsteht. In Tschernobyl
       wurde dagegen geschwiegen, weil sich die Verantwortlichen vor Panik
       fürchteten.
       
       Nicht nur die japanische Öffentlichkeit, auch das Ausland war mit der
       Information aus Fukushima nicht zufrieden. 
       
       Ich halte es nicht für angebracht, wenn wir tausende Kilometer entfernt die
       schrecklich heimgesuchten Japaner kritisieren, weil sie uns nicht rundum
       alle Daten mitteilten. Das Verhalten der Japaner verdient Bewunderung. Die
       Betroffenen sind verängstigt, sie verhalten sich aber diszipliniert. Wir
       können es uns auch gar nicht vorstellen, dass es keine Plünderungen gab.
       
       25 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus-Helge Donath
       
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