# taz.de -- Herta Müller liest in Berlin: Mit bildersatter Sprache
       
       > Nobelpreisträgerin Herta Müller las in Berlin aus ihrem neuen Essayband.
       > Poetische Sprachschöpfungen machen ihre Erfahrungen auch
       > Desinteressierten zugänglich.
       
 (IMG) Bild: Scheint beim Lesen ihrer Texte gespannt zu sein wie die Saite einer Gitarre: Nobelpreisträgerin Herta Müller.
       
       BERLIN taz | Dissident zu sein, das ist graues, hartes Brot. Nicht nur,
       dass da die Erfahrungen sind, die man nicht loszuwerden imstande ist. Dazu
       kommt: Wer in der westlichen Hemisphäre einmal Dissident ist, muss immer
       Dissident bleiben. Egal ob zehn, zwanzig oder dreißig Jahre nach dem großen
       Bruch mit dem System, egal wie weit sich das Denken und Schreiben des
       Dissidenten vom Erlebten entfernt hat: Auf jeder Lesung, bei jedem
       Interview wird der Dissident im Exil erneut danach gefragt, wie das damals
       war mit dem Regime, mit den Spitzeln, mit der Unterdrückung und mit der
       Angst.
       
       Herta Müller ist da keine Ausnahme. Auch bei ihrer vom Literaturforum im
       Brecht-Haus anberaumten Lesung im Berliner Ensemble, bei der es um ihr
       neues Buch, einen Essayband mit dem irren Titel "Immer derselbe Schnee,
       immer derselbe Onkel" ging, war das wieder so. Da saß sie also, diese
       zierliche, elegante, schöne Person, die immer, wenn sie aus ihren eigenen
       Texten liest, so gespannt zu sein scheint wie die Saite einer Gitarre. Und
       immer, wenn Sigrid Löffler, die Grande Dame der Literaturkritik, sie fragte
       nach dem Regime, nach den Spitzeln, nach der Unterdrückung und nach der
       Angst, strahlte jede der Gesten von Herta Müller Ungeduld aus. Ungeduld und
       Langeweile.
       
       Dabei ist es gerade Herta Müller, die, auch wenn sie sich noch immer
       schreibend am Erlebten abarbeitet, in ihrer Sprache selbst den großen
       Ausweg gefunden hat aus der Rolle, dem Knast, Dissident zu sein. Es ist die
       Sprache, die ihr einmal Therapie der Traumata gewesen sein mag, die sie
       aber heute vor betonierten Zuschreibungen schützen könnte. Es ist ihre
       Sprache, die die 1953 im Banat geborene, vom rumänischen Geheimdienst
       verfolgte Nobelpreisträgerin auch für jene interessant macht, die sich
       nicht für die Unsäglichkeiten der Vergangenheit in Europa interessieren.
       
       Herta Müller selbst las im Berliner Ensemble einen Text, der diese ihre
       Sprache und den Sog, den diese entwickeln kann, sehr gut erklärt. Es
       handelte sich um den Essay, der ihrem neuen Buch den Namen gegeben hat. Der
       Text erzählt von der Ausreise Herta Müllers und ihrer Mutter aus Rumänien
       im tiefsten Winter. Irgendwann auf dem Anhänger des Lkw, der sie in den
       Westen brachte, sagt die Mutter: "Es ist doch immer derselbe Schnee." Herta
       Müller verdichtete diesen Satz weiter zu einem Wort. "Schneeverrat".
       
       ## "Schneeverrat"
       
       Sie erklärt: "Damit meinte meine Mutter den Januar 1945, ihre Deportation
       zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Schon 16-Jährige standen auf den
       Listen der Russen. Viele haben sich versteckt. Meine Mutter saß schon vier
       Tage in einem Erdloch im Nachbargarten, hinter der Scheune. Doch dann kam
       der Schnee. Man konnte ihr nicht mehr heimlich das Essen bringen, jeder
       Schritt zwischen Haus, Scheune und Erdloch wurde sichtbar."
       
       Die Mutter, so Herta Müller, sprach nicht direkt von der Angst, vom Leid.
       Sie hatte dafür ein Bild gefunden. Herta Müller: "Für komplizierte lange
       Geschichten ein direktes Wort, das so viel Unausgesprochenes enthält, weil
       es alle Einzelheiten meidet. Weil so ein Wort den Verlauf des Geschehens zu
       einem Punkt verkürzt, verlängern sich im Kopf die Vorstellungen über die
       zahllosen Möglichkeiten."
       
       So beschreibt Herta Müller also die Kunstfertigkeit ihrer bildersatten
       Sprache, die sie auch durch ihren fremden Blick auf muttersprachliche
       Selbstverständlichkeiten, durch ihre Heimat im banatschwäbischen Dialekt
       wie ihre zweite Heimat im Rumänischen bezogen haben mag. Es sind diese
       poetischen Sprachschöpfungen, die Metaphern, die Vergleiche, die das
       Erschütternde der Totalitarismuserfahrung der Herta Müller auch
       Desinteressierten öffnet. Herta Müllers Literatur schöpft ihre Kraft aus
       der Erkenntnis, dass man die Wirklichkeit nicht einfach abschreiben kein.
       Die Wirklichkeit muss in der Sprache neu erfunden werden. Und je mehr Raum
       die Sprache ihrem Leser lässt, sich selbst das Unvorstellbare vorzustellen,
       desto mehr ist die Autorin der Wahrheit auf die Schliche gekommen.
       
       Doch ist solche Sprache leider kein Patentrezept. Herta Müller hatte im
       Grunde riesengroßes Glück. Kürzlich hat sie einmal einen Text über den
       Nobelpreisträger Liu Xiaobo geschrieben. Auch darin ging es um den
       Dissidenten als eine der tragischsten Figuren, dem es selten gelingt, sich
       aus seiner Rolle zu befreien. Doch selbst wenn Liu in absehbarer Zeit aus
       dem Gefängnis kommen sollte: Er könnte nicht wie Herta Müller in ein Land,
       wo man seine Sprache spricht. Er könnte keinen Dialog führen, wie Herta
       Müller dies auf bewundernswerte Weise auf Lesungen wie der im Berliner
       Ensemble tut.
       
       22 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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