# taz.de -- Debatte Spanien: Aufbruch der Vielen
       
       > Europas repräsentative Demokratien kriseln. Spanien zeigt, dass davon
       > nicht nur die Rechtspopulisten profitieren müssen. Die Macht der
       > Finanzmärkte kann gebrochen werden.
       
 (IMG) Bild: Demonstranten in Barcelona fordern am Samstag den Rücktritt des katalanischen Innenministers Felip Puig.
       
       Die Massenproteste von Madrid und Barcelona haben viele überrascht. Die
       spanische Gesellschaft hatte mit der Transición, dem Ende der 1970er-Jahre
       zwischen Franquisten, Königshaus und Linksparteien ausgehandelten
       Kompromiss zur Modernisierung des Landes, eine rasante Entpolitisierung
       erlebt. Und ausgerechnet diese Gesellschaft bringt heute neue Formen
       politischer Bewegung hervor?
       
       Neu daran ist, dass der Widerstand gegen die Umverteilung von unten nach
       oben mit einer radikaldemokratischen Praxis im öffentlichen Raum verbunden
       wird. Man demonstriert gegen die Sparprogramme der spanischen Regierung,
       mit denen Spekulationsvermögen und - nicht zuletzt deutsche - Banken
       gerettet werden sollen. Man demonstriert aber auch gegen die real
       existierende Demokratie. "Wir lassen nicht länger zu, dass andere für uns
       sprechen. Wir wollen selber sprechen", lautet eine der zentralen Losungen
       der Revolte.
       
       Die Demonstrierenden selbst haben ihren Protest in eine Reihe mit den
       arabischen Bewegungen gestellt und die Puerta del Sol als europäischen
       Tahrirplatz bezeichnet. Keine schlechte These: Soziale und politische
       Teilhabe sind auch in Europa uneingelöste Versprechen. Doch wohl noch
       interessanter als der Bezug zur arabischen Revolte sind die Parallelen zu
       den Bewegungen, die den lateinamerikanischen Kontinent in den vergangenen
       20 Jahren verändert haben.
       
       ## Es begann in Lateinamerika
       
       Auch in Argentinien, Venezuela oder Kolumbien entzündete sich der
       gesellschaftliche Widerstand an einer Austeritätspolitik, mit der die
       Kosten der ökonomischen Krise nach unten abgewälzt wurden. Auch dort
       richtete sich die Wut gegen die Repräsentation der politischen und medialen
       Apparate: "Sie sollen alle abhauen", lautete das Motto in Argentinien 2001.
       Und in Venezuela stürmten die Bewohner der Armenviertel 1989 ganz einfach
       die Einkaufsmeilen, um sich jenen Wohlstand zu holen, den man ihnen immer
       versprochen hatte.
       
       Und schließlich war, wie heute in Spanien, die politische Linke vor den
       lateinamerikanischen Revolten völlig marginalisiert gewesen. Das scheint
       kein Zufall zu sein: Gerade weil niemand beanspruchen konnte, die
       Ausgeschlossenen zu repräsentieren - weder Politik noch Gewerkschaften,
       Medien oder Intellektuelle -, fand die Gesellschaft, zumindest phasenweise,
       zum Kern der Demokratie zurück: zur Artikulation der Vielen.
       
       Die Krise der Repräsentation hat nun offensichtlich also auch Westeuropa
       erreicht. Aber woran liegt das?
       
       Der britische Politologe Colin Crouch erklärte den Legitimationsverfall der
       politischen Systeme in seinem vielbeachteten Essay "Postdemokratie" (2005)
       mit dem Erstarken der ökonomischen Lobbys, die den demokratischen Prozess
       gezielt unterlaufen. Das ist nicht falsch und bleibt doch an der
       Oberfläche. Folgt man Crouch, dann war nämlich in den Zeiten des
       Wohlfahrtsstaats noch alles weitgehend in Ordnung.
       
       ## Zwei-Klassen-Demokratie
       
       Das Problem aber ist grundsätzlicherer Natur. Da ist einerseits die
       Tatsache, dass die liberale Demokratie von einem Widerspruch durchzogen
       wird: Politische Gleichheit und Freiheit, wie sie die Demokratie
       postuliert, sind mit der real existierenden Ungleichheit im Kapitalismus
       nicht wirklich vereinbar. Am konkreten Beispiel wird das deutlich: Für
       Kapitaleigentümer hat die Presse- und Meinungsfreiheit eine reale
       Bedeutung; für den Hartz-IV-Empfänger hingegen handelt es sich um ein
       formales Recht. Denn auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse
       kann er faktisch keinen Einfluss nehmen.
       
       Die bürgerlich-liberale Demokratie bleibt in dieser Hinsicht gepanzert.
       Parteien und parlamentarische Apparate sorgen dafür, dass der Widerspruch
       zwischen sozialer Herrschaft und politischer Gleichheit nicht eskaliert.
       Die Anliegen der Mehrheit werden zwar nicht vollständig ignoriert, aber sie
       werden herrschaftlich gefiltert. Als Wähler der Reformparteien erleben wir
       das regelmäßig: Die von uns gewählten Regierungen machen jene Politik, die
       wir doch eigentlich abgewählt haben. Rot-Grün führte Deutschland in den
       Krieg und setzte Hartz IV durch, in Berlin hat der rot-rote Senat die
       Privatisierung des öffentlichem Eigentums forciert.
       
       Darüber hinaus haben wir es aber auch mit einem allgemeinen Widerspruch zu
       tun. Der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos, der in den
       letzten Jahren zur führenden Stimme kritischer Theorie in Lateinamerika
       aufstieg, beschreibt unsere Gesellschaften als "Demokratien geringer
       Intensität", in denen "Inseln demokratischer Beziehungen in einem Archipel
       der (ökonomischen, sozialen, rassischen, sexuellen, religiösen) Tyranneien"
       angesiedelt sind.
       
       ## Revolte gegen die Finanzmärkte
       
       Die demokratische Revolution steht somit auch nach über 200 Jahren noch am
       Anfang. Aus all diesen Gründen fallen politischer Diskurs und Realität
       immer weiter auseinander.
       
       Bislang hatte man den Eindruck, dass Europa auf diese Krise von
       Repräsentation und Politik nur mit unsolidarischen, rassistischen Reflexen
       zu reagieren weiß. Nur der Rechtspopulismus, der die Angst vor dem sozialen
       Abstieg gegen die gesellschaftlich Marginalisierten - gegen Arbeitslose,
       Sozialhilfeempfänger, Migranten - richtet, hat bisher von der Krise
       profitiert. Die "spanische Revolution" zeigt nun einen anderen Ausweg auf.
       Es ist möglich, solidarisch zu handeln und mit eigener Stimme zu sprechen.
       
       In Lateinamerika haben die Revolten der letzten zwanzig Jahre, ebenso wie
       jetzt in Nordafrika, zu einem Bruch des politischen Systems geführt. Ein so
       eindeutiger Ausgang zeichnet sich in Europa nicht ab. Tatsächlich ist
       völlig unklar, ob und wie es mit der "Bewegung 15-M" weitergeht.
       
       Trotzdem hat diese Bewegung, in Spanien wie anderswo in Europa, eine klare
       Perspektive. Wenn der Widerstand, der sich in Spanien und Griechenland zu
       artikulieren begonnen hat, sich ausbreitet, kann die Umverteilungspolitik
       der EU, die die Finanzkrise von den Bedürftigen bezahlen lässt, zu Fall
       gebracht werden. Die Revolte hat das Potenzial, die Macht der Finanzmärkte
       brechen. Das ist mehr, als sich jede Reformregierung heute realistisch
       vornehmen kann.
       
       5 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Raul Zelik
       
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