# taz.de -- Deutschlands Treffer gegen Nigeria: Der verschenkte Moment
       
       > Die reine Schönheit roher Gewalt: Simone Laudehrs Treffer zum 1:0 gegen
       > Nigeria hätte ein Augenblick werden können, der alles verändert. Doch er
       > wurde verpasst.
       
 (IMG) Bild: Sie hätte mehr werden können: Simone Laudehr
       
       BERLIN taz | Es war nur ein Moment. Einer jener Augenblicke, in denen der
       Fußball die Welt ins Wanken bringt. In denen man, selbst dann, wenn man
       gänzlich allein gelassen zuhause vor dem Fernseher sitzt, sich eins fühlt
       mit Millionen. Weil man weiß: Diese Millionen fühlen jetzt, in diesem
       Moment, die gleiche Intensität, dasselbe Glück, dieselbe Euphorie und
       dasselbe Adrenalin durch ihren Körper rauschen.
       
       Es war ein Moment, auf den man wartet, für den man sich durch Hunderte von
       Scheißspielen, matschige Zweitligatristesse und regenverhangene
       Langeweilekicks wühlt, ein Moment, der für all die mit fürchterlich
       durchschnittlichem Fußball verbrachten Stunden entschädigt. Es war, kurzum,
       einer jener Momente, die den Fußball so grandios machen, weil
       wahrscheinlich nur der Fußball solche Momente schreiben kann.
       
       Solch ein Moment schien gekommen in Minute 54. In den 53 Minuten zuvor
       sahen wir: Angst, Agonie, wachsende Verzweiflung. Man konnte selbst zuhause
       auf der Couch förmlich spüren, wie die deutsche Mannschaft verkrampfte, bis
       sie schließlich das Fußballspielen, die einfachsten Dinge dieses Sports,
       verlernt zu haben schien. Dann aber kam Simone Laudehr. Ihr purer Wille
       schien den Ball über die Linie zu befördern, das Tornetz bauschte sich. Die
       reine Schönheit roher Gewalt.
       
       Was folgte: die Erlösung im Gesicht von Laudehr, ihre Flucht vor den
       Mitspielerinnen, das In-die-Knie-Gehen, die Arme in die Höhe, als wollte,
       als könnte sie höhere Weihen empfangen.
       
       ## Beginn eines Märchens
       
       Es war ein ikonografischer Moment. Einer, in dem sich der Weltenlauf
       verändern kann. Oder doch zumindest das Schicksal einer Fußballmannschaft
       bei einem Turnier eine entscheidende Wendung nehmen könnte. Ein Moment wie
       am 14. Juni 2006 in Dortmund: Polen. Oliver Neuville erlöst Deutschland.
       Und das Sommermärchen konnte endlich zu erzählen begonnen werden.
       
       Doch diesmal blieb die Erlösung aus. Es war alles vorbereitet: Die Hoffnung
       war schon fast geschwunden, die ersten Opfer wie Melanie Behringer bereits
       vom Schlachtfeld getragen, und plötzlich schien sich -gegen alle
       Widerstände – doch noch das Kriegsglück zu wenden. Simone Laudehr mit ihrem
       erstaunlichen Talent für dramatische Jubelposen, das sie schon im WM-Finale
       2007 bewiesen hatte, lieferte das perfekte Bild, das mit diesem Moment für
       alle Ewigkeiten verschweißt hätte werden können: La Liberté auf den
       Barrikaden, der Kniefall von Willy Brandt in Warschau, Uwe Seelers
       kopfgebeugter Abgang aus Wembley, der einsame Kaiser Beckenbauer im
       römischen Olympiastadion.
       
       Jedoch: Die deutsche Mannschaft vergaß, das Bild in sich einzubrennen. Sie
       ließ diesen Moment verpuffen. Spielte weiterhin verzagt, sie agierte nicht
       befreit, sondern weiter blockiert. Keinen Rausch stiftete Laudehrs Treffer,
       es folgten nicht noch drei, vier Tore, um den Moment zu verfestigen, das
       Momentum, wie der Amerikaner sagt, endgültig auf die Seite der deutschen
       Mannschaft zu ziehen. Keine Katharsis zum Gelingen.
       
       ## Welmeister ohne Legende
       
       Vielleicht wird die Erlösung, die Erhebung im Spiel gegen Frankreich
       nachgeholt. Vielleicht erst im Viertelfinale, das die deutsche Mannschaft
       ja mit dem Sieg gegen Nigeria auf jeden Fall erreicht hat. Vielleicht wird
       solch ein Moment aber auch nie wiederkommen, und Deutschland scheidet vor
       dem Finale aus. Vielleicht werden Laudehr und ihre Kolleginnen, auch so ist
       Fußball, selbst ohne solch einen Moment Weltmeister, es wäre nicht das
       erste Mal.
       
       Vielleicht wird alles gut. Ganz sicher aber ist an diesem Abend in
       Frankfurt ein Moment gekommen und wieder vergangen, der historisch hätte
       werden können. Der womöglich das so gern und schon viel zu oft beschworene
       „Sommermädchen“ wahrhaftig in Gang gesetzt hätte. Diese Weltmeisterschaft
       wird mit ziemlicher Sicherheit trotzdem als die kommerziell erfolgreichste,
       Zuschauerrekorde brechende und sportlich beste Weltmeister in die
       Geschichte des Frauenfußballs eingehen und diesen Sport auf ein neues
       Niveau heben. Das alles ist großartig.
       
       Sie hätte aber mehr werden können. Viel mehr. Es hing nur an einem Moment.
       
       1 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Winkler
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