# taz.de -- Panter-Preis-Kandidat: Er bringt Vätern das Weinen bei
       
       > Als Kazim Erdogan in den Siebzigern in Abschiebehaft saß, fühlte er sich
       > wie ein Versager. Heute hilft er türkischstämmigen Männern, sich von
       > Rollenbildern zu befreien.
       
 (IMG) Bild: Kazim Erdogan im Männercafé am Karl-Marx-Platz, Berlin-Neukölln.
       
       Die Männer, mit denen sich Kazim Erdogan jeden Montagabend trifft, wollen
       sich um ihre Familien kümmern. Gute Väter sein. Aber wie man das macht,
       wissen sie nicht.
       
       Sie sind zwischen 18 und 67 Jahre alt und haben vieles falsch gemacht. Sich
       aus Haushalt und Erziehung rausgehalten, manche haben ihre Kinder
       geschlagen oder ihre Partnerinnen. Viele wurden von ihren Frauen verlassen,
       sind plötzlich alleinerziehende Väter. Für die türkischstämmigen Männer ist
       das neu.
       
       Der Berliner Psychologe Kazim Erdogan trifft sich einmal in der Woche mit
       ihnen, um zu reden. In einer ehemaligen Kindertagesstätte leitet er die
       Vätergruppe des psychosozialen Dienstes Berlin-Neukölln. Die Vorurteile
       über die sogenannte türkische Parallelgesellschaft kennt er genauso gut wie
       die Ressentiments von Migranten gegenüber der deutschen
       Mehrheitsgesellschaft.
       
       In seinem Büro mit der großen Fensterfront serviert Kazim Erdogan Tee und
       Kekse. Erdogan ist ein schmaler, etwas gebeugter Mann mit schütterem Haar.
       Blaues Hemd, graue Hosen. In einer Ecke seines Büros blubbert ein Samowar,
       an den Wänden hängen Kinderzeichnungen und Fotos von seinem Heimatdorf.
       
       ## Paschas und Patriarchen
       
       "Viele der Männer leiden unter einer inneren Zerrissenheit, die sie an ihre
       Kinder weitergeben", sagt Erdogan. "Dass jetzt darüber geredet und
       getrauert wird, ist neu unter den Vätern." Speziell für Männer gebe es kaum
       Angebote, die ihnen bei der Erziehung ihrer Kinder weiterhelfen. Deshalb
       gründete Erdogan 2007 die erste türkische Männer- und Vätergruppe. Mit zwei
       Teilnehmern fing er an, mittlerweile kommen bis zu fünfzig.
       
       Gesprochen wird über Paschas und Patriarchen, über Ehre und
       Gesichtsverlust. Einmal erzählte einer der Männer, wie schwer es ihm falle,
       seine 16-jährige Tochter in den Arm zu nehmen. Für ihn sei sie schon eine
       Frau, deshalb wisse er nicht, wie er sie berühren könne, gleichzeitig wolle
       er ihr Zärtlichkeit geben. Mit Kazim Erdogans Unterstützung versuchen sich
       die Männer von Rollenbildern zu lösen, sich in ihrer veränderten
       Lebenssituation zurechtzufinden.
       
       Erdogan sitzt oft schon um fünf Uhr morgens an seinem Schreibtisch.
       Manchmal bleibt er 15 Stunden am Tag, bis zu neunzig in der Woche. Mehr als
       zehn Projekte hat er in den letzten Jahren neben seiner Arbeit ins Leben
       gerufen. Seine neueste Initiative heißt "Kette der Kommunikation". Damit
       ruft er Menschen verschiedenster Nationalitäten auf, sich zu treffen und zu
       unterhalten. Über Integration sei jetzt genug debattiert worden, sagt
       Erdogan. Jetzt sei es an der Zeit, sich kennenzulernen.
       
       Kazim Erdogan weiß, wie man sich fühlt, wenn man für andere ein Fremder
       ist. 1974 kam er aus einem ostanatolischen Dorf nach Deutschland. Sein
       Abitur hatte er mit "sehr gut" bestanden, nun wollte er an einer deutschen
       Universität studieren.
       
       ## "Ich fühlte Scham hoch drei."
       
       Während er auf seine Immatrikulation wartete, nahm er alle Jobs an, die
       sich ihm boten. Stand am Fließband, arbeitete als Nachtwächter, schleppte
       Kühlschränke und Waschmaschinen. Er sprach kein Deutsch, lebte mit der
       Angst vor Abschiebung. Mit einem Touristenvisum war er eingereist, hätte
       nach drei Monaten eigentlich wieder ausreisen müssen. Sieben Monate nach
       seiner Ankunft wurde er kontrolliert, noch am selben Abend saß er in
       Abschiebehaft.
       
       "Ich fühlte Scham hoch drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und
       wird wieder rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager." Ein Freund
       holte von der Universität die Bescheinigung über seine Immatrikulation. Die
       verschaffte ihm schließlich eine Aufenthaltsgenehmigung.
       
       Sobald er ein wenig Deutsch konnte, half er Freunden bei Behördengängen,
       der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Er studierte Erziehungswissenschaften,
       Soziologie und Psychologie. Zehn Jahre lang arbeitete er als
       Hauptschullehrer, dann wechselte er in die schulpsychologische Beratung.
       Seit 2003 ist er Psychologe beim Bezirksamt von Berlin-Neukölln. Der
       Stadtteil gilt als Problembezirk. Von den rund 305.000 Einwohnern sind 39
       Prozent Migranten, die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 20 Prozent.
       
       Schon als Hauptschullehrer fiel Erdogan auf, dass die meisten Eltern von
       Einwandererkindern keinen Kontakt zur Schule hatten. Also rief er die
       Familien an, lud jeden Einzelnen persönlich zu den Elternabenden ein,
       organisierte türkische und arabische Dolmetscher. Die Vätergruppe ist nur
       einer von vielen Gesprächskreisen und Projekten, die er gründete.
       
       Die Arbeit mit den Männern ist für ihn ein Erfolg. "Heute erlauben sie sich
       zu weinen, wenn sie erkennen, was sie ihren Kindern angetan haben", sagt
       Kazim Erdogan. "Ich erinnere sie an ihre Stärken – ihre Hilfsbereitschaft
       und Solidarität." Sie übernehmen Verantwortung, gehen zu Elternabenden,
       putzen in der Schule. Eine Gruppe hat sich T-Shirts drucken lassen:
       "Türkische Männer gegen Gewalt". So sind sie jetzt mit Erdogans Anliegen in
       Neukölln unterwegs.
       
       16 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marie-Claude Bianco
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Ehrenamt
       
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