# taz.de -- Montagsinterview mit Orthopädietechniker: "Viele Leute denken noch, wir bauen Holzprothesen"
       
       > Menschen, die einen Arm oder ein Bein verloren haben, sind auf
       > Spezialisten wie ihn angewiesen: Uli Maier baut Prothesen. Patienten aus
       > aller Welt sind seine Kunden.
       
 (IMG) Bild: "Es gibt ganz viele Patienten, die ich bewundere": Uli Maier neben seiner Werkbank.
       
       taz: Herr Maier, was ist schlimmer - einen Arm zu verlieren oder ein Bein? 
       
       Uli Maier: Eine Amputation, egal welcher Gliedmaßen, ist eine Katastrophe.
       Man kann sich da nicht reinversetzen. Das Leben der Menschen wird komplett
       umgekrempelt.
       
       Worauf kann ein Mensch eher verzichten? 
       
       Schwer zu beantworten. Was wären wir ohne unsere Beine? Sie bescheren
       unsere Mobilität und Freiheit. Aber auch die Hände sind mehr als nur
       Greifwerkzeuge. Sie sind Sensoren. Wir fühlen Warm und Kalt. Ohne
       hinzugucken, kann ich in meine Hosentasche greifen und sofort erfühlen, was
       ich da alles drin habe. Hände sind auch etwas sehr Ästhetisches aus meiner
       Sicht. Eine künstliche Hand lässt sich immer von einer natürlichen Hand
       unterscheiden. Eine Beinprothese kann man unter einer Hose verstecken.
       Nicht zu vergessen: Hände sind sehr wichtig beim Zeigen von Zuneigung und
       Zärtlichkeit.
       
       Sie sind Orthopädietechniker - was genau ist Ihr Job? 
       
       Ich baue Bein- und Armprothesen. Konkret baue ich Prothesenschäfte. Jeder
       Schaft ist eine Individualanfertigung. Die gibt es nicht von der Stange in
       verschiedenen Größen. Jede Amputation ist anders, jeder Mensch ist anders.
       
       Mit was für Patienten haben Sie zu tun? 
       
       Das sind Menschen, die aufgrund eines Unfalls oder durch eine Krankheit
       eine Gliedmaße verloren haben. In Deutschland sind das hauptsächlich
       arterielle Verschlusserkrankungen, die eher ältere Menschen betreffen. Bei
       jungen Menschen sind es oft Tumore und Unfälle. Wir haben sehr viele junge
       Patienten hier.
       
       Sie arbeiten für die am Potsdamer Platz ansässige Firma Otto Bock. Bei der
       Herstellung und Entwicklung von Prothesen ist das Unternehmen weltweit
       Marktführer. 
       
       Richtig. In der Mehrheit versorgen wir hier im Competence Center
       internationale Kunden. Ich habe Patienten aus Afrika, Israel, Russland,
       Australien, dem Sudan. Im Augenblick habe ich einen jungen Mann aus
       Bahrain, der bei einem Motorradunfall seinen Arm verloren hat. Wenn es
       nötig ist, fahr ich da auch mal hin und helfe dort. Oft werden Patienten zu
       uns geschickt, die besonders schwierig zu versorgen sind, weil wir uns ein
       klein wenig spezialisiert haben.
       
       Otto Bock gilt als Rolls-Royce der Prothesenbranche. Wer kann sich Ihren
       Service leisten? 
       
       Als Rolls-Royce unter den Orthopädietechnikern würde ich uns nicht
       bezeichnen. Ein Rolls-Royce ist ein Luxus- oder Prestigeobjekt. Eine
       Prothese ist das gewiss nicht. Wir sind genauso Techniker wie alle anderen.
       Bei uns wird einfach ein bisschen mehr Wert auf Zeit und Qualität gelegt.
       Das ist im Alltag eines Orthopädietechnikers in einem Unternehmen, das
       anders gestrickt ist, so nicht möglich.
       
       Reden wir Klartext: Was kostet eine gute Prothese? 
       
       Das ist genauso, wie wenn man fragen würde: Was kostet ein gutes Auto? Für
       mich ist ein klappriger R4 mit einer großen Ladefläche genau das richtige.
       Ich würde sagen, den krieg ich für 1.000 Euro. Für jemand anderes ist ein
       Audi, mit dem er längere Strecken bequem fahren kann, das Richtige. Es gibt
       verschiedene Ausführungen von Prothesen mit verschiedenen Preisen. Das
       beginnt bei einer sehr einfachen Interimsversorgung von circa 2.000 Euro
       und endet bei mikroprozessorgesteuerten Prothesen, die dann auch mal 30-
       bis 35.000 Euro kosten können. Ich baue gern Hightech, bin aber auch gerne
       ganz am Boden der Tatsachen.
       
       Was meinen Sie damit? 
       
       Neulich war ich drei Wochen in Haiti. Vor eineinhalb Jahren gab es dort ein
       ganz schlimmes Erdbeben. Rund 200.000 Menschen sind verstorben, es gibt
       unendlich viele Amputierte. Ich konnte dort ein Hilfsprojekt unterstützen
       und hab da Prothesen gebaut, die nicht mikroprozessorgesteuert waren.
       
       Bauen Sie dort Stelzfüße mit Turnschuhen dran, die man aus armen Ländern
       kennt? 
       
       Solche Prothesen baut man so nicht mehr. Die Passteile, die wir in Haiti
       verbaut haben, sehen gar nicht so viel anders aus als mikrogesteuerte
       Gelenke. Es sind mechanische Gelenke, die ihre Funktion komplett erfüllen,
       aber eher wartungsarm sind und auch nicht so kostenintensiv. Wichtig ist,
       dass der Patient im unebenen Gelände nicht fällt. Das Kniegelenk darf nicht
       zusammenbrechen.
       
       Was motiviert Sie zu solchen Hilfseinsätzen ? 
       
       Falls Sie das meinen: Meine Motivation für die Auslandseinsätze ist niemals
       Geld. Ich hab ein Know-how, das ich vermitteln kann. Ich versuche die
       Kollegen vor Ort zu schulen, ihnen Erfahrungen mitzugeben, wie man
       Prothesen bauen kann. Kleine Tricks und Kniffe, damit sie eine bessere
       Qualität erzielen. Für mich ist wichtig, dass ich nicht hingehe, was mache,
       dann bin ich wieder weg und keiner kann was damit anfangen. Da hab ich Spaß
       dran. Bei den letzten zwei Einsätzen in Nigeria, auch in Haiti, war das ein
       ganz tolles Team und ein schönes Miteinander.
       
       Sie sind 1968 im Schwarzwald geboren. Wie wurden Sie Orthopädietechniker? 
       
       Mit 15 habe ich das erste Mal meinen Eltern erzählt, dass ich das lernen
       will. Ich hatte keinen amputierten Opa oder Onkel. Für mich war es
       unbegreiflich, wie jemand die Straße langlaufen kann und ihm fehlt ein
       Bein. Wie kriegt man dass hin? Ich glaube, es war hauptsächlich eine
       handwerkliche Herausforderung.
       
       Wie ging es dann weiter? 
       
       Ab 1986 habe ich meine Ausbildung in Donaueschingen gemacht. 1996 bin ich
       nach Berlin gegangen, wo ich eigentlich nie hinwollte, weil mir die Stadt
       zu groß und zu hektisch war. Aber es hat zu der Zeit an der Charité in der
       orthopädietechnischen Werkstatt einen Leiter gegeben: Gerhard Fitzlaff. Er
       lebt leider nicht mehr. Er war ein echter Daniel Düsentrieb. Zu dem wäre
       ich auch hingegangen, wenn er auf dem Mond gewesen wäre. Ich dachte, nach
       zwei, drei Jahren kannste ja wieder aus dieser Stadt verschwinden.
       
       Und dann hat Sie Berlin nicht wieder losgelassen? 
       
       So ist es. Inzwischen leb ich hier seit 15 Jahren und hab nicht den Funken
       von einer Idee, wieder wegzugehen. Es gibt zwar immer noch Dinge, die ich
       ungern mache: U-Bahn, S-Bahn fahren. Aber ich habe ein Fahrrad, das ist
       meine Alternative.
       
       Was sind Sie für ein Mensch? 
       
       Ich bin nicht zufrieden damit, zur Arbeit zu gehen und dann wieder nach
       Hause. Ich bin unglaublich neugierig und begeisterungsfähig. Ich höre gern
       Musik, bin viel unterwegs mit meiner Kamera. Ich fotografiere für viele
       verschiedene Berliner Bands, die meine Bilder ganz gern haben. Auch sonst
       gibt es eine sehr interessante Zusammenarbeit: Wenn ein Musiker irgendwas
       Spezielles braucht, bau ich es ihm nach Feierabend.
       
       In welcher Gemütsverfassung sind Ihre Patienten? 
       
       Gerade die Frischamputierten, die erwischt man in einer Phase, wo sie sehr
       deprimiert sind, sehr, sehr hoffnungslos. Es ist ganz wichtig, ein
       Vertrauensverhältnis zu ihnen aufzubauen. Man muss den Patienten in seiner
       Trauer abholen und zu dem Punkt führen, dass er sagt: Okay, ich will gehen,
       ich will wieder raus. Oder gerade auch die Damen: Ich will wieder einen
       Rock tragen oder einen Schuh mit einem höheren Absatz.
       
       Haben Sie Mitleid mit Ihren Patienten? 
       
       Es ist für mich eine schlimme Situation, wenn Patienten, die zum Beispiel
       tumorerkrankt sind, mit denen ich Jahre gearbeitet habe, versterben. Das
       geht mir sehr, sehr nah. Aber Mitleid ist das komplett falsche Wort. Es
       gibt ganz viele Patienten, die ich bewundere. Ob ihrer Stärke, ihres
       Durchhaltevermögens.
       
       Können Sie von der Arbeit abschalten? 
       
       Ich bewahre eine gewisse Distanz. Aber wenn es emotional hoch hergeht,
       nehme ich das auch mit nach Hause: Ich schlafe schlecht, es beschäftigt
       mich. Allerdings könnte man auch sagen, es verfolgt mich sehr positiv, dass
       ich versuche, eine Lösung zu finden. Das ist kein Job, den man "nine to
       five" macht. Wir kommen auch mal samstags oder sonntags rein.
       
       Was treibt Sie an? 
       
       Den Leuten die Freiheit zurückzugeben, ist schon ein ganz großes Ziel
       dessen, was ich tue. Ich mag den Beruf aber auch deshalb so gerne, weil er
       so vielschichtig ist. Man hat einen psychologischen Aspekt, einen
       technischen, einen medizinisch-biomechanischen. Wir arbeiten mit so vielen
       verschiedenen Werkstoffen wie kein anderes mir bekanntes Gewerk. Viele
       Leute denken noch, wir bauen Holzprothesen. Das ist so gut wie gar nicht
       mehr der Fall.
       
       Wie wird sich die Prothesentechnik weiterentwickeln? 
       
       Wenn man sich die Geschichte anguckt, haben wir, literarisch gesehen, den
       Käptn Ahab, der mit einem Stelzbein aus dem Kiefer eines Pottwals
       herumlief. Um 1500 hatten wir den Ritter Götz von Berlichingen. Er hatte
       schon eine Prothesenhand, die er mit seiner gesunden Hand öffnen und
       schließen konnte. In den 20er Jahren gab es von Professor Ferdinand
       Sauerbruch entwickelte künstliche Arme, die über eigene Muskelkraft
       gesteuert wurden. Heute gibt es elektronisch gesteuerte Prothesen. Wir sind
       auf dem Weg, Prothesen zu kriegen, die ihr Bewegungsausmaß noch erweitern
       können und durch Gedanken gesteuert werden. Gerade bei den Handprothesen,
       damit man noch mehr Grifftechniken hat und vielleicht auch eine
       rückmeldende Sensorik. Ich hoffe, die Entwicklung geht noch sehr weit.
       
       Haben Sie einen extremen Fall im Gedächtnis? 
       
       Wir haben immer wieder Patienten, die nach der Operation den Lebensmut
       verlieren. Ich hatte einmal die Situation, dass mich jemand aktiv nach
       einer Sterbehilfe gefragt hat. Das war ein Patient, zehn Jahre älter als
       ich, zwei Kopf größer, durchtätowiert von Hacke bis Nacke, den ich, ohne es
       böse zu meinen, als Berliner Proll bezeichnen würde. Ein sehr sympathischer
       Kerl, der war so unzufrieden mit der Situation, denn er war jetzt auf
       einmal nicht mehr das Alphatier in der Familie. War nicht mehr fähig, eine
       Tasse Kaffee von A nach B zu kriegen. Wenn sich jemand umbringen will,
       werde ich ihm nicht helfen. Ich konnte nur zu ihm sagen: Lass uns das Beste
       tun, wir kriegen dich schon wieder auf die Beine.
       
       Wie ging es weiter? 
       
       Positiv, aber es hat sehr viel Zeit gedauert. Wir mussten ihn dazu
       überreden, sich nochmal unters Messer zu legen, um die Stumpfform zu
       optimieren. Ich treffe den Herrn noch ab zu. Wir beide haben dann ein
       fettes Grinsen im Gesicht.
       
       Was war Ihr schlimmster Fall? 
       
       Ich hab auch schon Opfer von Bombenangriffen versorgt. Wir haben einen
       jungen Amputierten aus dem Libanon, den wir hier versorgen. Ich habe in
       Nigeria einen Mann versorgt, der bei einem Handgranatenangriff einen Arm
       verloren hat. Der intensivste Patient, den ich je versorgt habe, ist aber
       Aljoscha, ein damals 17-Jähriger aus Weißrussland.
       
       Bitte erzählen Sie. 
       
       Er war an eine alte deutsche Fliegerbombe geraten. Alle vier Gliedmaßen
       mussten amputiert werden. Vor circa zwölf Jahren erreichte uns ein Foto, wo
       ein Junge ohne Arme und Beine irgendwo in Russland auf einem Teppich liegt,
       mit der Frage: Könnt ihr da was tun?
       
       Wie haben Sie ihn versorgt? 
       
       Er hat zwei Oberschenkelprothe-sen bekommen. Eine spezielle Krücke, die
       ähnlich einem Prothesenschaft über den Arm kam und wirklich einen Stock
       dranhatte, damit er sich abstützen konnte. An der anderen Seite hat er eine
       myoelektrische Unterarmprothese bekommen.
       
       Wie geht es Aljoscha heute? 
       
       Er hat Frau und zwei Kinder und macht etwas, das er Business nennt: Er hat
       mit Freunden ein Haus gebaut, vermietet einen Teil und lebt davon.
       
       Angenommen, Ihnen müsste ein Bein abgenommen werden - wie würden Sie
       reagieren? 
       
       Ich glaube, ich hätte keine Angst. Aber ich würde mir meinen Chirurgen und
       meinen Techniker gut aussuchen.
       
       24 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Plutonia Plarre
       
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