# taz.de -- Türkisches Militär: Kapitulation nach 90 Jahren
       
       > Die Dominanz des Militärs ist gebrochen. Die AKP spricht von
       > Normalisierung und glaubt, von nun an gelte das Primat der Politik, die
       > Opposition fürchtet eine Autokratisierung.
       
 (IMG) Bild: Türkische Soldaten paradieren vor dem Mausoleum von Kemal Atatürk.
       
       TÜRKEI taz | "Früher schaute man darauf, wie lange in der Nacht die Lichter
       im Generalstab brannten, heute schaut man nur noch auf den Sitz des
       Ministerpräsidenten". Mit diesen Worten gab am Sonntag der Abgeordnete der
       regierenden islamisch-konservativen AKP, Bilal Macit, die kürzestmögliche
       Beschreibung der neuen Machtverhältnisse in der Türkei.
       
       Am Freitagabend hatten Generalstabschef Isik Kosaner sowie die Kommandanten
       des Heeres, der Marine und der Luftwaffe ihre vorzeitige Pensionierung
       beantragt. Mit dem nahezu geschlossenen Rücktritt des Generalstabs ist der
       langjährige Machtkampf zwischen Regierung und Armee entschieden.
       
       Als einziger Kommandant einer Teilstreitkraft blieb der Befehlshaber der
       Gendarmerie, Necdet Özel, im Amt. Nach einem Treffen mit Staatspräsident
       Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wurde er
       kommissarisch zum Generalstabschef ernannt.
       
       Diesen Montag beginnt die wichtigste Sitzung der Armeeführung. Immer im
       August werden die durch Pensionierungen frei werdenden Posten in den
       Armeeführung neu besetzt und für das gesamte höhere Offizierskorps die
       Beförderungen beschlossen. Die Rücktritte erfolgten, weil Ministerpräsident
       Erdogan Generalstabschef Kosaner schon im Vorfeld klargemacht hatte, dass
       er dessen Beförderungslisten ablehnen werde.
       
       ## Politisches Erdbeben
       
       Was andernorts Anzeichen einer Krise wären, ist in der Türkei ein
       politisches Erdbeben. Die Rücktritte bedeuten nicht nur den Abgang einiger
       wichtiger Personen, sie sind die Kapitulation der über Jahrzehnte hinweg
       mächtigsten Institution des Landes, der Armee. Schon in den letzten
       Jahrzehnten des Osmanischen Reichs hatte sie eine politische
       Schlüsselstellung eingenommen, woran sich auch nach der Gründung der
       Republik im Jahr 1923 nichts änderte. Angefangen mit Mustafa Kemal Atatürk
       standen zahlreiche vormalige Offiziere an der Spitze des Staates; 1960,
       1971 und 1980 putschten Militärs gegen zivile Regierungen, und noch 1996
       musste der erste islamistische Ministerpräsident der Türkei, Necmettin
       Erbakan, nach nur einem Jahr im Amt seinen Platz auf Druck des Militärs
       räumen.
       
       Doch aus diesem Sieg über die Islamisten erwuchs der Armee eine neue, weit
       stärkere Gegenkraft, als es die traditionellen Islamisten gewesen waren.
       Erdogan, einst Ziehsohn des langjährigen Islamistenführers Erbakan, und der
       heutige Präsident Gül gründeten eine moderne, konservative, moderat
       islamische Partei, mit der sie 2002 aus dem Stand die Wahl gewannen.
       
       Der darauf folgende Konflikt eskalierte im Jahr 2007, als das Militär mit
       Massenmobilisierungen und Putschdrohungen verhindern wollte, dass Gül zum
       Staatspräsidenten gewählt würde. Doch aus der vorgezogenen Neuwahl ging die
       AKP gestärkt hervor. Danach setzten die "Ergenekon-Ermittlungen" ein, in
       deren Zusammenhang seither über 300 ehemalige Militärs, Journalisten,
       Rechtsanwälte, Geschäftsleute und Politiker wegen angeblicher Umsturzpläne
       verhaftet wurden. Bei den Wahlen vor sechs Wochen konnte die AKP ein
       weiteres Mal zulegen und kam auf 49,8 Prozent der Stimmen.
       
       Der letzte Auslöser des Rücktritts war ein Disput über den Umgang mit
       insgesamt 42 Generälen und Admirälen, die beschuldigt werden, in
       Putschvorbereitungen verstrickt zu sein, und deshalb in Untersuchungshaft
       sitzen. Erdogan will alle beschuldigten Offiziere zwangspensionieren, die
       Armeeführung wollte sie dagegen bis zur gerichtlichen Klärung der Vorwürfe
       weiterhin befördern.
       
       ## "Jetzt kommt der Tayyipismus"
       
       Nach dem Rücktritt zeigten sich Erdogan und Gül unbeeindruckt; Gül bestritt
       noch am Freitagabend, dass es überhaupt eine Krise gebe. Tatsächlich waren
       sie vorbereitet. Die Beförderung von Özel zum Generalstabschef war keine
       Notlösung, sondern ohnehin erwünscht. Denn Necdet Özel gilt in AKP-Kreisen
       als jemand, der sich nicht in die Politik einmischt, also nicht die
       klassische kemalistische Linie der Armee vertritt. "Die Rücktritte", sagte
       denn auch Arbeitsminister Faruk Celik, "sind kein Zeichen einer Krise,
       sondern werden zu einer Normalisierung zwischen Armee und Regierung
       führen".
       
       Damit ist in der Türkei nun endgültig das Primat der Politik gegenüber der
       Armee durchgesetzt, aber hat damit auch die Demokratie gesiegt? Die
       parlamentarische Opposition ist skeptisch. Die
       sozialdemokratisch-kemalistische CHP, die lange Zeit als Partei des
       Militärs galt, will zwar auch den Vorrang der Politik durchgesetzt wissen,
       doch beklagt sie andauernde Verleumdungen der Armee. Und sie sieht die
       Gefahr, dass die Demokratie durch eine Autokratie ersetzt werden könnte.
       
       Ähnliche Befürchtungen hat man in der kurdischen BDP. Deren Sprecher
       Selahattin Demirtas kommentierte nicht weniger prägnant als der eingangs
       zitierte AKP-Abgeordnete: "Nach dem Kemalismus kommt nun der Tayyipismus."
       
       31 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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