# taz.de -- Neue Schriftart: Schreiben mit Holzpantoffeln
       
       > Hamburg führt bald die "Grundschrift" ein. Lehrer brauchen Nachhilfe und
       > Schüler erfinden sich ihre Handschrift selbst. Eine Polemik.
       
 (IMG) Bild: Als ob Schreiben nicht schon schwierig genug wäre.
       
       Mal ehrlich: Würden Sie in Holzpantoffeln zu einem Wettlauf antreten? Dumme
       Frage. Etwas vergleichbar Dummes aber wird zurzeit für das schulische
       Lernen vorgeschlagen und ist kurz davor, auf politischem Wege verwirklicht
       zu werden. Ohne Politik ist heute ohnehin keine Pädagogik mehr zu machen,
       das sei am Rande vermerkt.
       
       Die zähe Lobbyarbeit eines in Frankfurt ansässigen Interessenverbandes
       beginnt Früchte zu tragen: Der Grundschulverband hat erreicht, dass in
       Hamburg ab dem kommenden Schuljahr eine neue Retortenschrift für den
       Schreibunterricht zugelassen wird: die "Grundschrift".
       
       ## Druck- und Schreibschrift?
       
       Um der zu erwartenden Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, kleben die
       Frankfurter der Verkaufspackung nun ein vom Inhalt ablenkendes Etikett auf.
       Die "Grundschrift" sei keine Druckschrift, sondern eine Schreibschrift. So
       vernimmt man - und staunt. Denn eine Druck- und Schreibschrift, die gibt es
       bislang nicht. Aber der Reihe nach.
       
       Hamburgs Schüler dürfen sich glücklich schätzen. Denn sie befinden sich in
       derselben Lage wie Sportler, denen man Holzpantinen verordnet, weil man
       damit schneller und besser läuft als mit Turnschuhen. Die Druckschrift ist
       für die Hand ungefähr dasselbe, was der Holzpantoffel für den Fuß ist. Man
       schreibt nicht mehr fließend, man druckt gewissermaßen. Wer kennt das
       nicht: Beim Schreiben längerer Texte in Druckschrift verkrampfen sich die
       Finger lautlos.
       
       Der Vorsitzende des Grundschulverbandes, Horst Bartnitzky, wirbt für die
       neue Schrift wie folgt: "Damit Kinder besser schreiben lernen!" Es folgt
       das Versprechen, Kinder würden "eine flüssige und lesbare Handschrift
       entwickeln - die Schrift, die sie in Schule, Ausbildung und Beruf
       brauchen". Wir dürfen daraus den Schluss ziehen, dass Schüler auch künftig
       in der Lage sein sollen, Texte gewandt und flott mit der Hand zu schreiben,
       weil dies nach wie vor zu den Voraussetzungen für den Eintritt ins
       Berufsleben gehört.
       
       ## Suppe mit Gabel löffeln
       
       Wenn der Clown auf der Bühne versucht, mit der Gabel Suppe zu essen, dann
       lachen wir ihn aus. Keine Gabel wird zu einem Löffel, auch wenn diese noch
       so oft in die Suppe getunkt worden ist. Das gilt auch für die Druckschrift.
       Sie bleibt eine Druckschrift, sogar noch dann, wenn in Hamburg einmal alle
       Schulkinder die Druckbuchstaben mit der Hand schreiben sollten.
       
       Die Druckschrift ist die ideale Schrift zum Zwecke des Lernens der
       Buchstaben. Und sie ist zugleich die Grundlage mechanischen Druckens. Für
       die Hand aber gibt es die Schreibschrift. Deren Buchstabengestalt hat sich
       im Verlaufe der Schriftgeschichte allmählich ökonomisch geformt.
       Miteinander verbundene Buchstaben erwiesen sich als bestgeeignetes Medium
       für handgeschriebene Texte.
       
       Schreibschrift ermöglicht fließendes, schnelles Schreiben. Schreibschrift
       ist keine Druckschrift, sie besitzt andere Buchstabenformen. Wenn ein
       Interessenverband der gutmütigen Kundschaft die Einzellettern der
       Druckschrift als Handschrift verkaufen will, ist dies schon mehr als
       Dummheit - es ist Chuzpe aus wirtschaftlichem Interesse.
       
       Offensichtlich hat man im Grundschulverband von Anfang an befürchtet, dass
       die Abschaffung der Schreibschrift bei Eltern und Lehrern auf heftige
       Ablehnung stoßen würde. Den Beleg dafür liefert der ehemalige Vorsitzende
       des Grundschulverbandes, Bartnitzky: "Da der Begriff ,Druckschrift'
       gemeinhin mit dem Vorgang des Druckens verbunden wird, suchten wir einen
       anderen Begriff für die handgeschriebenen Druckbuchstaben. Es sollte die
       grundlegende Funktion als erste Schreibschrift deutlich machen sowie den
       Charakter als Ausgangsschrift für die Entwicklung einer individuellen
       Handschrift. Wir wählten den Begriff Grundschrift." Deswegen hat der
       Grundschulverband auch vorgesorgt: Materialpakete mit den handgeschriebenen
       Druckvorlagen werden zum Preis von 39 Euro feilgeboten.
       
       ## Nichtunterricht
       
       Während für die Schulkinder alle möglichen Freiheiten gelten, sollen sich
       deren Lehrer nach einer strengen Norm richten. Die Lehrpersonen bekommen
       quasi die Instruktion, die exakten Buchstabenformen sowie eine ökonomische
       Schreibbewegung keinesfalls zu unterrichten. Das klingt wie Nichtunterricht
       der allerfeinsten Sorte! Jede Einmischung in den Lernprozess der Kinder
       beeinträchtige nämlich den Lernerfolg. Grobe pädagogische Fehler seien zum
       Beispiel das Vorgeben der Schreibrichtung oder das Verwenden von Linien als
       Hilfe zum Einüben der unterschiedlichen Größenverhältnisse bei
       Buchstabenformen. Auf liniertes Papier könne verzichtet werden, denn ganz
       frei, ganz ungebunden entwickle sich die ideale Handschrift! Ein
       "vorbildliches" Ergebnis dieses Antiunterrichts ist, fotografisch
       festgehalten, auf der Homepage des Grundschulverbands zu bewundern.
       Interessierte können es dort abrufen.
       
       Kinder "entdecken" jetzt neben der individuellen Orthografie auch die
       eigene Schrift. Offensichtlich sind Schrift und Orthografie genetisch
       verankert. Die guten Anlagen entfalten sich dann am besten, wenn wir die
       Kinder dabei nur nicht behindern. Wir müssen uns darauf einrichten, dass es
       bald viele individuelle Schriften geben wird. Das Ziel dieser lebendigen
       Vielfalt wird umso rascher erreicht, wenn beim Erstunterricht jedem Schüler
       freigestellt ist, auf welche Weise er einen Buchstaben schreiben möchte. Ob
       von oben nach unten oder von unten nach oben, ob von rechts nach links oder
       von links nach rechts, all das spielt keine Rolle. Hauptsache, man kann es
       lesen.
       
       Aber gerade da sind Zweifel angebracht. Die "Schreibbewegung von links nach
       rechts" wird zwar nicht vorgeschrieben, dennoch sei ihr der Vorrang zu
       geben, da sich in unserer Schriftkultur diese Schreibrichtung nun einmal
       etabliert habe. "Es ist also hilfreich, wo immer es geht, die
       Schreibbewegung von links nach rechts zu wählen", sagt Bartnitzky. "Ein
       Beispiel: Beim kleinen a oder d könnte zuerst rechts der Abstrich
       geschrieben, dann nach links der Bauch ergänzt werden."
       
       ## Handschrift selbst finden
       
       Man darf davon ausgehen, dass sich die von der Kinderhand auf Papier
       hinterlassenen Buchstaben zu lustigen Haufen zusammenballen, die an alle
       möglichen Fantasiegebilde erinnern, bloß nicht an Schrift. Ob es
       intelligenten Kindern Spaß macht, wenn sie schreiben sollen, wie sie
       möchten, ist mehr als fraglich. Kinder haben den Wunsch zu lernen, wie man
       es richtig macht. Die Zurückhaltung der Erwachsenen werden sie als
       Gleichgültigkeit interpretieren und damit den Eindruck gewinnen, dass die
       Schreib- und Lesekunst nicht wichtig und daher wertlos sei. Schriftkultur
       muss gepflegt werden, sonst verfällt sie. Wir dürfen die Kunst des
       Schreibens unseren Kindern nicht vorenthalten nach dem fragwürdigen Motto:
       Erfindet doch eure Handschrift selbst!
       
       Der Grundschulverband stellt die Behauptung auf, die Schreibschrift sei
       "historisch überholt" (Bartnitzky). Was eher "historisch überholt" sein
       könnte, sind Einrichtungen, deren Gründung zeitlich etwa 40 Jahre
       zurückdatiert. Der Grundschulverband besitzt weder ein demokratisches
       Mandat, noch haben seine Mitglieder das Recht, im Namen der Allgemeinheit
       zu sprechen. Wer unsere Schreibschrift einseitig für "historisch überholt"
       bezeichnet, muss dafür bessere Gründe anführen als jene fadenscheinigen
       Behauptungen, die die handfesten Sonderinteressen nur dürftig verbergen.
       
       Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass die traditionelle Schreibschrift
       der flächendeckenden und lukrativen Vermarktung des eigenen
       Schriftproduktes im Wege steht. Sollte die "Grundschrift" tatsächlich die
       bessere Alternative sein, dann wird sie sich im freien Wettbewerb auf dem
       pädagogischen Markt behaupten, ohne dafür steuergeldfinanzierte
       Werbemaßnahmen ergreifen und die Politik als Erfüllungsgehilfe einspannen
       zu müssen. Pädagogische Probleme können nur mit pädagogischen Mitteln
       gelöst werden, nicht aber mit politischen! Die fortlaufenden Verstöße gegen
       diesen Grundsatz sind Hauptursache für die dauernden Unruhen an den Schulen
       und den daraus resultierenden Leistungsverfall im Lesen, Schreiben und
       Rechnen.
       
       ## Nachhilfe für Lehrer
       
       Ein Lehrer könnte sich nun zu Recht fragen: "Wozu soll ich 39 Euro ausgeben
       für Druckschriftvorlagen, da es doch gut eingeführte, kostenlose
       Schuldruckschriften gibt, für deren Gebrauch keine Schulung nötig ist?"
       Soll er die private Sammlung teuer bezahlter Unterlagen wegwerfen und sich
       für eine üppige Summe mit neuem Material eindecken müssen? Wozu persönliche
       Zeit opfern für Fortbildung einzig zu dem Zweck, dem Geheimnis einer
       handgeschriebenen Druckschrift auf die Spur zu kommen? Was soll die
       Schriftenverwirrung? Wollte der Grundschulverband denn nicht genau dieser
       an den Kragen gehen? "Schluss mit dem Schriftenwirrwar!", tönt es aus
       Frankfurt. Und als Maßnahme wird just das getan, was man beklagt: Man
       vergrößert die Verwirrung und fügt zu den bereits bestehenden Schriften
       eine weitere hinzu.
       
       Ich bezweifle, ob hinreichend klar ist, was auf die Schule zukommt, wenn
       wir dem Projekt "Grundschrift" vorschnell unser Wohlwollen schenken. Man
       sollte sich intensiv mit dieser neuen Schrift auseinandersetzen, bevor sie
       gänzlich das Terrain erobert: Den Fuß hat sie bereits in der Hamburger Tür.
       Aktuelle Umfragen haben erwartungsgemäß gezeigt, dass knapp 90 Prozent der
       Befragten gegen die neue Druckschrift sind und für die Beibehaltung der
       Schreibschrift votieren. Wie die Erfahrung zeigt, werden politische
       Entscheidungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen zunehmend gegen den
       erklärten Willen der Betroffenen durchgeboxt. Bereits lange ehe überhaupt
       öffentliche Diskussionen geführt werden, sind hinter den Kulissen Geschäfte
       angebahnt und Verträge geschlossen worden.
       
       Die Autorin ist ehemalige Lehrerin und Verlegerin.
       
       3 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
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