# taz.de -- Der Kampf gegen die Korruption in Indien: Ein Mann nach Gandhis Vorbild
       
       > Seit 20 Jahren kämpft Anna Hazare gegen die Korruption in seinem Land. Er
       > ist der Hoffnungsträger der indischen Bevölkerung. Jetzt wurde er
       > verhaftet.
       
 (IMG) Bild: In Indien gehen die Menschen nach der Verhaftung von Anna Hazare auf die Straße.
       
       PUNE taz | Anna Hazare tritt stets in weißer Baumwollkleidung auf und trägt
       ein weißes Schiffchen auf dem Kopf, die traditionelle Kleidung der Bauern
       im Westen Indiens. Der 74-jährige Junggeselle aus einem winzigen Dorf im
       westindischen Maharashtra kämpft seit zwanzig Jahren gegen die Korruption,
       weil sie "das Land an der Entwicklung hindert".
       
       Vor einem halben Jahr bestieg er die nationale Bühne und wurde fast über
       Nacht [1][der Hoffnungsträger der Nation]. Während er auf einem
       Bambuspodest in der Hauptstadt fastete und Interviews fürs Fernsehen gab,
       gingen überall im Lande Sympathisanten auf die Straße. Das Medienecho war
       überwältigend, und auch im Internet wurden Solidaritätsaktionen gestartet.
       
       Anna (großer Bruder) ist bodenständig, patriotisch und tief religiös. Ein
       Mann aus dem Volke, der sich zu Höherem berufen fühlt und nach dem Vorbild
       Mahatma Gandhis handelt. Anna Hazare verkörpert, was die als korrupt
       diskreditierte Elite des Landes zwar verspricht, aber nicht vorlebt:
       Bescheidenheit, Uneigennützigkeit, Hingabe an das Gemeinwohl. Daher ist er
       glaubwürdig und genießt überall Respekt.
       
       ## "Beamte bestechen ihre Chefs"
       
       Eine sanfte Stimme bittet uns, einzutreten. Nach Landessitte legen wir die
       Schuhe ab und betreten den von Tausenden von Füßen blank gewetzten
       Steinfußboden des knallbunten Hindutempels. Ein kleiner Wandschrank und ein
       schlichtes Bettgestell machen die ganze Einrichtung des Raums aus. An der
       Wand hängt ein Bild des Mönchs Swami Vivekananda, Gründer des sozial
       engagierten Hindu-Ordens Ramakrishna Mission. In der Mitte des Raums sitzt
       auf einer Bastmatte ein kleiner Mann in weißer Baumwollkleidung, faltet die
       Hände zum Gruß. Wir verbeugen uns und lassen uns auf einer weiteren
       Bastmatte nieder.
       
       Anna Hazare mustert uns mit wachen Augen und einem milden Lächeln. Mein
       Kollege und Übersetzer Ganesh Pangare stellt uns und unser Anliegen in der
       Landessprache Marathi vor. Anna nickt und sammelt seine Gedanken. Mit
       leiser Stimme beantwortet er die Fragen: "In den Behörden herrscht die
       Korruption von oben bis unten. Beamte bestechen ihre Chefs, damit sie einen
       besseren Arbeitsplatz erhalten. Berichte und Akten werden gefälscht, um
       Arbeiten auszuweisen, die gar nicht ausgeführt wurden, und die Gelder in
       die eigenen Taschen zu stecken. Das ist wie eine Kettenreaktion, jeder hat
       daran Anteil."
       
       Diese Szene könnte sich in diesen Wochen zutragen, doch unser erster Besuch
       bei Anna Hazare liegt schon fünfzehn Jahre zurück. Damals hatte er mehreren
       Ministern der Landesregierung Rechtsbeugung zum eigenen Vorteil vorgeworfen
       und ihren Rücktritt gefordert. Anna Hazare fastete bereits seit vierzehn
       Tagen, als wir ihn in seinem Wohnraum im Tempel interviewten. Am selben Tag
       noch wurden die Minister für Landwirtschaft und Bewässerung beurlaubt,
       Hazare nahm abends wieder Nahrung zu sich. "Ich habe keine Angst vor dem
       Tod, denn ich bin ja schon einmal gestorben, damals im Krieg gegen
       Pakistan. Ich spüre momentan weder Hunger noch Müdigkeit. Während des
       Fastens ist mein Selbstvertrauen eher noch gewachsen", sagte er damals.
       
       ## "Neues Leben"
       
       Anna Hazare wuchs in dem kleinen Dorf Ralegan Siddhi rund 200 Kilometer
       westlich von Mumbai auf. Nach der siebten Klasse brach er die
       Schulausbildung ab. Später, im Alter von 34 Jahren, ging er als Kraftfahrer
       zur Armee. Dort hatte er ein Schlüsselerlebnis. "Während des Krieges 1965
       mit Pakistan steuerte ich einen Lastwagen in einer Kolonne. Wir wurden
       bombardiert, und alle meine Kameraden kamen ums Leben. Immer wieder fragte
       ich, warum gerade ich, und nur ich mit dem Leben davonkam. Es war, als
       hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen, und es war so wunderbar, dass
       ich beschloss, dieses Leben in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen."
       
       Dieser Entschluss war von den Ideen Swami Vivekanandas beeinflusst, der den
       Dienst am Nächsten im Hinduismus verankerte. "Während des Armeedienstes las
       ich viele Bücher von Swami Vivekananda", sagt Anna Hazare. "So wie ich ihn
       verstand, meinte er, Gott existiere nicht nur im Tempel, sondern im ganzen
       Dorf, in der ganzen Nation. Der beste Weg zu Gott besteht also darin, den
       Menschen, der Gemeinschaft zu dienen."
       
       1975 quittierte Hazare den Armeedienst und kehrte zurück nach Ralegan
       Siddhi. Die Dorfgemeinschaft war damals von Armut zerrissen und von
       Alkoholsucht zermürbt. "Es ist sinnlos, über soziale Veränderungen zu
       reden, wenn die Menschen Hunger leiden. Ich musste zuerst für Arbeit
       sorgen", erklärt Anna Hazare. Er verzichtete auf Ehe und Familienleben, um
       sich ganz dem Dienst an der Gemeinschaft zu widmen. Sein Haus und sein
       Ackerland stiftete er gemeinnützigen Zwecken und zog in einen kleinen Raum
       im Dorftempel. Dessen Renovierung war auch sein erstes Projekt, eine
       Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im Sinne des Allgemeinwohls.
       
       Ralegan Siddhi liegt in einem Dürregebiet, in dem nicht einmal halb so viel
       Regen fällt wie in Deutschland. Anna Hazare erkannte, dass Wasser hier der
       Schlüssel zum Wohlstand ist. Er besann sich auf traditionelle Methoden im
       Wassermanagement und die von Vilas Salunke organisierten "Wasserräte", in
       denen Bauern eine sozial gerechte Verteilung der kostbaren Resource
       aushandeln. Hazare nennt seine Methode "Wasserernten", in der
       Entwicklungspolitik ist sie als "watershed development" bekannt: Mithilfe
       kleiner Wehre in Bachläufen und Erdwällen entlang der Hänge wird das
       Regenwasser am Abfließen gehindert und kann versickern.
       
       Schon nach wenigen Jahren steigt der Grundwasserspiegel. Aufforstung und
       besseres Management bei der Bewässerung ergänzen die Maßnahmen. Allmählich
       erholt sich die Natur. Die Brunnen führen wieder Wasser und ermöglichen
       eine zweite Ernte im Jahr. Ralegan Siddhi ist heute ein blühendes
       Gemeinwesen, eine Oase im Meer der Hoffnungslosigkeit. "Früher mussten wir
       unser Trinkwasser mit Tanklastwagen von weither heranschaffen. Heute
       exportieren wir Gemüse und Trinkwasser in die Nachbardörfer," sagt Anna
       Hazare.
       
       ## Berater der Regierung
       
       In den achtziger Jahren fand seine Arbeit großes öffentliches Interesse und
       zahlreiche Nachahmer. Die Regierung zeichnete Anna Hazare mit hohen Preisen
       aus und lud ihn ein, in staatlichen Entwicklungsprogrammen als Berater
       mitzuarbeiten.
       
       Mithilfe von Dokumenten, die ihm korruptionsmüde Bürger zuspielten, erhob
       Anna Hazare in den folgenden Jahren immer wieder Anklagen gegen leitende
       Bürokraten und Minister in Maharashtra. Mehrmals trat er in den
       Hungerstreik, um seinen Forderungen nach Rücktritt der Gesetzesbrecher
       Nachdruck zu verleihen - mit Erfolg.
       
       1991 rief Anna Hazare eine "Volksbewegung gegen Korruption" ins Leben, die
       vornehmlich in Maharashtra aktiv wurde. Er forderte, die Behörden sollten
       Bürgern gegenüber auskunftspflichtig sein, und war damit ein Vorkämpfer für
       das Recht auf Information, das bald von einer breiten Bürgerbewegung
       verfolgt und 2005 als Gesetz im Parlament verabschiedet wurde.
       
       In der zweiten Hälfte des Jahres 2010 erschütterte eine Serie von
       Korruptionsskandalen das Land. Als die Medien von einer regelwidrigen
       Vergabe von Mobiltelefonlizenzen, vom illegalen Abbau und Export von
       Eisenerz, von gigantischen Schmiergeldzahlungen bei der Organisation der
       Commonwealth-Spiele und anderen Machenschaften berichteten, erkannte die
       Öffentlichkeit, wie schamlos sich Politiker, Bürokraten und Industriebosse
       auf Kosten der Allgemeinheit bereicherten. In Neu-Delhi, Mumbai und vielen
       anderen Städten kam es zu Protesten, die vor allem von der als apolitisch
       geltenden Mittelklasse getragen wurden.
       
       ## Hochrangige Unterstützung
       
       Anna Hazare erneuerte seine Forderung nach einer unabhängigen Behörde, die
       Fälle von Korruptionsverdacht untersuchen und den Strafverfolgungsbehörden
       übergeben könnte. Seit 1968 dümpelt ein entsprechendes Gesetzesverfahren im
       indischen Parlament dahin. Mehrmals wurde es in verschiedener Form zur
       Abstimmung vorgelegt, doch stets fand sich eine Mehrheit interessierter
       Abgeordneter gegen den Antrag zusammen.
       
       Anna Hazare wird von Anwälten des obersten Gerichtshofs, einer
       hochdekorierten ehemaligen Polizeioffizierin, ehemaligen Spitzenbeamten und
       Bürgerrechtsaktivisten unterstützt. Sein "Team Anna", wie die Medien es
       nennen, ist jedoch keineswegs homogen.
       
       Bharat Bhushan beispielsweise, der am obersten Gerichtshof zahlreiche Fälle
       von Menschenrechtsverletzungen einbrachte und dem "Team Anna" angehört,
       hält den Ombudsmann nicht für eine Wundermedizin, die allein die Korruption
       stoppen kann. Die renommierte Bürgerrechtsaktivistin Aruna Roy, die bei der
       Einführung des Rechts auf Information eine führende Rolle spielte,
       kritisiert Team Anna, weil es das Gesetzesvorhaben ohne breite, öffentliche
       Debatte durchdrücken will.
       
       Der Entwicklungsexperte und Journalist Mukul Sharma, der Feldforschung in
       Ralegan Siddhi betrieb und später das Büro der deutschen Heinrich Böll
       Stiftung in Neu-Delhi leitete, wirft Anna Hazare autoritäre Tendenzen und
       ein altmodisches Weltbild vor, das soziale Hierarchien nicht infrage
       stelle. Hazares Lob für den rechtsgerichteten Ministerpräsidenten von
       Gujarat, der für das Massaker an mehr als 2.000 Muslimen in seinem Staat im
       Jahr 2002 mitverantwortlich gemacht wird, führte im April zu Irritationen
       unter Sympathisanten und in seinem Team.
       
       Der Zeitpunkt für sein geplantes Fasten war bewusst gewählt: Am Tag zuvor
       hatte Indien den 65. Jahrestag der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht
       Großbritannien gefeiert. Anna Hazare ruft nun zum "zweiten
       Unabhängigkeitskampf" auf.
       
       17 Aug 2011
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kampf-gegen-Korruption-in-Indien/!68818/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rainer Hörig
       
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