# taz.de -- Evo Morales in der Kritik: Beton oder Bewahren
       
       > Ein umkämpftes Fernstraßenprojekt stellt Boliviens Präsident Evo Morales
       > vor die Entscheidung: fortschrittsgläubige Real- oder indigen-orientierte
       > Ökopolitik.
       
 (IMG) Bild: Bunt gegen schwarz: Protest gegen das geplante Straßenprojekt.
       
       PORTO ALEGRE taz | Millionen Menschen galt Evo Morales als Hoffnungsträger.
       Mit wachsender Entfernung stieg die Verehrung für den sozialistischen
       Indígena-Präsidenten, der Bolivien seit 2006 regiert. Vor der
       UNO-Vollversammlung machte er mit wohlformulierten Reden Furore. Und der
       22. April ist jetzt weltweit "Tag der Mutter Erde". Bolivien setzte in der
       UNO "das Menschenrecht auf Wasser" durch und sperrte sich auf dem
       Klimagipfel von Cancún als einziges Land gegen den windelweichen
       Schlusskompromiss.
       
       Auch im südamerikanischen Vergleich könnte Bolivien nach über fünf Jahren
       "andin-amazonischem Kapitalismus", wie Vizepräsident Álvaro García Linera
       den Evo-Kurs nennt, nicht schlecht dastehen. Den Staatsanteil an den
       Einnahmen aus der boomenden Erdgasförderung erhöhte die Regierung deutlich.
       SchülerInnen aus armen Familien, Schwangere und Rentner bekommen nun einen
       monatlichen Haushaltszuschuss.
       
       Die Putschgelüste der Unternehmer aus dem östlichen Tiefland schmetterte
       Morales mithilfe der sozialen Bewegungen und befreundeter AmtskollegInnen
       der Nachbarstaaten ab. 2009 trat die neue Verfassung des "Vielvölkerstaates
       Bolivien" in Kraft, und der Staatschef wurde mit triumphalen 64 Prozent
       wiedergewählt.
       
       ## Regieren und dem Volk gehorchen
       
       Anders als in Brasilien oder Argentinien bewahrten viele linke Basisgruppen
       ihre Autonomie. Anders als Hugo Chávez in Venezuela oder Rafael Correa in
       Ecuador hielt Morales seine autoritären Gelüste im Zaum. "Regieren und
       dabei dem Volk gehorchen", dieses Motto der Zapatistas zitierte er oft –
       und wirkte glaubwürdig. Auch Ende letzten Jahres, nach der überraschenden
       Streichung von Treibstoffsubventionen, als die Basis gegen die saftigen
       Preiserhöhungen rebellierte, ruderte er zurück.
       
       Aber nun hat die "kulturell-demokratische" Revolution, die mit einer höchst
       pragmatischen, vom IWF gelobten Wirtschaftspolitik, einhergeht, die
       heroische Phase hinter sich. Und vor zwei Wochen erhielt der Mythos Morales
       den bislang schwersten Schlag: An einem Sonntag lösten 500 Uniformierte
       unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken den Protestmarsch von über
       tausend Tieflandindígenas auf, die gegen den geplanten Straßenbau durch
       einen Amazonas-Naturpark demonstrieren. Bilder von prügelnden Polizisten
       und von Marschierern mit zusammengebundenen Handgelenken, weinenden Frauen
       und Kindern gingen um die Welt.
       
       Auch wenn der Präsident die Härte des Einsatzes als "unverzeihbar" geißelte
       und sich schließlich bei den Betroffenen entschuldigte – dass der
       Räumungsbefehl von ganz oben kam, gilt als ausgemacht. Die Brutalität der
       Polizisten wurde nicht spontan erzeugt: Aus dem kühlen Andenhochland
       kommend, mussten viele von ihnen eine Woche lang bei hochsommerlichen
       Temperaturen in Kampfmontur schwitzen und hielten zusammen mit
       Gegendemonstranten den Marsch auf, bis es eskalierte.
       
       Auslöser des Konflikts, der jetzt das progressive Lager in Bolivien
       spaltet, ist ein symbolträchtiges Megaprojekt durch tropisches Gebiet. Die
       300 Kilometer lange Straße in Nord-Süd-Richtung sei wichtig für die
       wirtschaftliche Entwicklung des Landes, beteuern Morales und sein Kopilot
       García Linera. Sie gehört zur geplanten Verbindung vom südlichen
       Amazonasgebiet zum Pazifik, auf der einmal Rohstoffe von Brasilien via
       Bolivien nach Asien transportiert werden sollen. Die brasilianische
       Entwicklungsbank BNDES finanziert das Projekt. Bauen tut es der
       brasilianische Multi OAS.
       
       Der Protestmarsch, der vor einer Woche fortgesetzt wurde, richtet sich
       gegen die drohende Zerstörung des gut 12.000 Quadratkilometer großen Natur-
       und Indianerschutzgebietes Isiboro-Sécure. Dort leben rund 15.000
       Indígenas. Deren Sprecher beharren auf ihrem "Recht auf vorherige
       Konsultation", das international verankert ist und auch die bolivianische
       Verfassung garantiert.
       
       ## Tieflandindigene vs. Kokabauern
       
       Die Tieflandindigenen fordern eine Alternativroute für den
       Streckenabschnitt, der durch das Tipnis-Gebiet verlaufen soll. Doch Morales
       hält trotz eines eilig verkündeten Baustopps an dem Projekt fest. Und auch
       die Kokabauern aus der Region Chapare, seiner politischen Heimat,
       befürworten den Bau mehrheitlich – sie wollen neue Anbaugebiete
       erschließen.
       
       In erster Linie bedient die Fernstraße Konzerninteressen, wie so viele
       Infrastrukturprojekte. Konzipiert wurde die "physische Integration"
       Südamerikas unter der Führung Brasiliens bereits um die Jahrtausendwende,
       also noch vor dem reihenweisen Abtreten der neoliberalen Regierungen. Doch
       trotz heftiger Kritik von links halten sämtliche "progressive" Präsidenten
       von Chávez bis zur Brasilianerin Dilma Rousseff an dieser Logik fest – sie
       schwören auf Wachstum um jeden Preis.
       
       Dieses altlinke Fortschrittsdenken, eben García Lineras "andin-amazonischer
       Kapitalismus", macht auch vor unangekündigten Ölexplorationen in Amazonien
       nicht halt. Ihm gegenüber steht die indigen inspirierte, aber zwangsläufig
       nebulöse Vision vom postkapitalistischen "Guten Leben". Sie ist in den
       Verfassungen Boliviens und Ecuadors festgeschrieben und wird innerhalb der
       antikapitalistischen Bewegungen immer populärer.
       
       Auch wenn sich Morales gern als Indígenaführer stilisiert: Im Grunde ist
       dem früheren Kokagewerkschafter dieser Entwurf immer fremd geblieben. Zwar
       sitzt mit Außenminister David Choquehuanca ein Vordenker des "Guten Lebens"
       in der Regierung – die Marschroute gibt jedoch der Vizepräsident vor. Auf
       dem alternativen Klimagipfel, zu dem Morales im April 2010 ins
       bolivianische Cochabamba lud, zog García Linera gegen einen angeblich
       "romantischen Konservierungsglauben" vom Leder.
       
       Choquehuanca hingegen dozierte: "Für uns Indígenas sind die Berge, unsere
       Flüsse und unsere Luft das Wichtigste. Zuerst kommen die Schmetterlinge,
       die Ameisen, unsere Berge und zuletzt der Mensch". Und: "Der Wandel liegt
       in der Hand der Völker, nicht bei den Präsidenten, Ministern oder
       Abgeordneten." Die Kritiker der Megaprojekte, die das wörtlich nehmen,
       mussten damals zwar außerhalb tagen, doch konnten sie in der
       Abschlusserklärung wichtige Akzente setzen. Papier ist geduldig, wird sich
       Morales danach gedacht haben.
       
       ## Brandmarkung als Konterrevolutionäre
       
       Nun ist der seit damals schwelende Konflikt in voller Härte ausgebrochen.
       Wieder attackieren Morales und García Linera die Wortführer aus Umwelt-
       oder Indígenagruppen. Sie seien Marionetten ausländischer NGOs, der
       US-Botschaft und der rechten Tieflandoligarchie. Diese Versuche, Kritik von
       links als "konterrevolutionär" abzutun, verfangen jedoch immer weniger.
       
       "Wir dürfen nicht wieder die Rezepte des gescheiterten Entwicklungsdenkens
       hervorholen", warnt Boliviens ehemaliger UN-Botschafter Pablo Solón in
       einem offenen Brief an den Präsidenten. Noch sei es möglich, die Krise zu
       überwinden, indem die Straße um das Schutzgebiet herumgeführt wird. Er
       schließt mit dem Appell: "Wir müssen einen breiten partizipativen Prozess,
       eine landesweite Debatte einleiten, um eine neue Agenda im Rahmen des
       'Guten Lebens' aufzustellen".
       
       Evo Morales macht keine Anstalten dazu. Zwar registriert er genau, wie sein
       Rückhalt bröckelt, auch in der urbanen Mittelschicht. Doch anstatt Solóns
       Vorschlag aufzugreifen, verprellt er frühere Verbündete aus den Zeiten der
       Wasser- und Gasaufstände, die ihm Anfang des Jahrtausends den Weg an die
       Macht ebneten. Wie schon in Ecuador formiert sich so eine Opposition von
       links, die auf Demokratie und Ökologie pocht. Realpolitik versus
       ökosozialer Aufbruch – sollte die Linke an der Macht sich als reformunfähig
       erweisen, könnte Bolivien bald wieder eine Vorreiterrolle spielen.
       
       9 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gerhard Dilger
       
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