# taz.de -- Einladung zur Selbstvergewisserung: Krasse Geschichten unserer Herkunft
       
       > Josef Bierbichler, Oskar Roehler, Eugen Ruge: Die mittlere
       > Autorengeneration erzählt, welch schwierige Verhältnisse sie hinter sich
       > lassen musste.
       
 (IMG) Bild: "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. [...] Und die Kälte der Wälder / Wird in mir bis zu meinem Absterben sein."
       
       Schwarze Wälder. Echt? Es klingt zunächst schon ziemlich anachronistisch,
       was Bertolt Brecht in seinem klassischen Gedicht "Vom armen B. B." von
       seiner Herkunft erzählt. "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen
       Wäldern. [...] Und die Kälte der Wälder / Wird in mir bis zu meinem
       Absterben sein." Kann man das einem Erzähler heute noch glauben? Dass eine
       Herkunft aus kalten Wäldern in ihm steckt? Wo heutige Generationen doch
       eher aus Reihenhaussiedlungen stammen. Kinder vom Braunen Bär und vom
       Vorabendprogramm.
       
       Und doch. Je mehr Romane man aus dem aktuellen Programm liest, desto eher
       kann man den Eindruck bekommen, dass diese Zeilen von Brecht so etwas wie
       ein heimliches Motto dieses literarischen Herbstes darstellen.
       Herkunftsromane gibt es immer, aber in diesem Herbst scheint die Herkunft
       so etwas wie ein, mehr oder minder heimliches, Zauberwort zu sein. Die
       meisten der Bücher, die derzeit viel Aufmerksamkeit erfahren, drehen sich
       darum.
       
       Jan Brandt beschreibt in "Gegen die Welt" episch eine Heranwachsendenwelt
       in einer ostfriesischen Kleinstadt (taz vom 24. 9. 2011). Angelika
       Klüssendorf schildert in "Das Mädchen" eine deprimierende Kindheit in der
       DDR (taz vom 24. 9. 2011). Kolja Mensing dekonstruiert in "Die Legenden der
       Väter" die Heldengeschichte von seinem Großvater (siehe Seite 6 dieser
       Literataz). Und wenn man durch die forsche
       Ich-zeig-euch-allen-mal-was-eine-Harke-ist-Oberfläche von Charlotte Roches
       "Schoßgebeten" hindurchsieht, kann man dahinter auch einen Roman über eine
       Herkunft und seine Gefühlserbschaften erkennen, eine Herkunft aus
       schwankenden Patchworkverhältnissen (taz vom 10. 8. 2011).
       
       ## Generationserkundungen
       
       Und dann gibt es gleich drei dicke Romane, die dieses Thema im Rahmen von
       sich über Generationen erstreckenden Familiengeschichten entfalten. Eugen
       Ruge tut das in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" anhand einer von den
       jeweiligen politischen Großwetterlagen arg gebeutelten Großfamilie in der
       DDR (taz vom 27. 8. 2011). Josef Bierbichler schildert in "Mittelreich" das
       Leben dreier Generationen im von Katholizismus und bäuerlichen Traditionen
       tief geprägten Bayern (Seite 5 dieser Literataz). Und Oskar Roehlers
       Generationenerkundung (taz vom 17. 9. 2011) trägt das Zauberwort gleich im
       Titel: "Herkunft". Man achte einmal auf die regionalen Verortungen dieser
       Bücher. Roehlers Roman, spielt im Fränkischen und in Westberlin, in der
       alten Bundesrepublik also. DDR, Freistaat Bayern, alte Bundesrepublik -
       reflexions- und erzählbedürftig scheint derzeit die Herkunft aus allen
       Ecken Deutschlands zu sein.
       
       Warum ist das so? Herkunft soll keine Rolle spielen. Das ist eine der
       Verheißungen der modernen bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Dass sie es
       aber natürlich dennoch tut, erfährt man in diesen Romanen. Wenn man ihre
       gesellschaftsdiagnostische Kraft nur ein bisschen ernstnehmen kann - und
       das kann man -, dann gibt es über die Herkunft immer noch ziemlich krasse
       Geschichten zu erzählen.
       
       Geschichten von Söhnen, die wissen, dass ihre Mütter sich noch bei
       fortgeschrittener Schwangerschaft bis über den Bauch in das eiskalte Wasser
       eines Sees stellten, um eine Fehlgeburt zu erleiden, und dessen Väter zwar
       die Welt verbessern wollten, ihr eigenes Kind aber verwahrlosen ließen
       (Roehler). Geschichten von der selbstverständlichen Härte des ländlichen
       Lebens und von Eltern, die beim besten Willen nicht begreifen können, was
       ihr Kind meint, wenn es erzählt, es sei im Internat missbraucht worden
       (Bierbichler). Von Großvätern, deren zusammengelogenen, antifaschistischen
       Kämpferbiografien bis zum Mauerfall halten und von Vätern, die in einem
       Leben eine Verbannung nach Sibirien, eine Wissenschaftskarriere in der DDR
       und die Entwertung aller bis dahin erworbenen Leistungen nach 1989 erlebten
       (Ruge).
       
       Alle drei Romane sind autobiografisch grundiert. Wenn man als Erzähler nur
       einmal genau guckt, aus welchen Familienverhältnissen man stammt, dann
       liegen die Geschichten offenbar auf der Hand. Und es sind immer noch sehr
       harte Geschichten. Herkunft, das bedeutet zu einem Großteil bis heute: die
       Kälte schwarzer Wälder.
       
       Interessant ist, wie diese Romane erzählt sind. Klar geht es nicht um
       Idyllik. Wie auch - bei solchen Gefühlserbschaften? (Außerdem sind wir
       nicht im Abendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit seinen
       familiären Scheinkonflikten.) Es geht in diesen Romanen aber genausowenig
       um eine Abrechnung mit der Herkunft.
       
       Das muss man besonders betonen. Der erzählerische Parforceritt eines
       Außenseiters, der - selbst mit Müh und Not entronnen - seiner Herkunft
       literarisch versiert hinterherruft, was sie ihm angetan hat, ist ja
       inzwischen neben der Idyllik zu einer zweiten Standarddramaturgie des
       gegenwärtigen Erzählens geworden; Thomas Bernhard mit seinem Suada-Stil mag
       da als Ahnherr und - oft allerdings nicht erreichtes - Vorbild wirken.
       
       Diese drei großen aktuellen Herkunftsromane funktionieren dagegen eher wie
       Familienaufstellungen. Es gibt in ihnen eine jeweils klar als
       Identifikationsfigur und zum Teil auch Stellvertreter des Erzählers
       herausgearbeitete Hauptperson. Robert heißt er bei Oskar Roehler, Alexander
       bei Eugen Ruge, Semi bei Josef Bierbichler. Aber geschrieben sind sie in
       einer unpersönlichen, teilweise auktorialen Perspektive, die diese
       jeweilige Figur in die Generationenabfolge einordnet.
       
       Was hier durchschlägt, ist vielleicht schlicht das Alter dieser Autoren.
       Alle sind sie jenseits der Fünzig, alle haben sie sich ein Leben aus
       eigenem Recht aufgebaut, als Filmemacher (Roehler), Radioautor (Ruge),
       Schauspieler (Bierbichler). Nun blicken sie noch einmal auf ihre Herkunft
       zurück. Nicht, um sich mit ihr billig auszusöhnen, das nicht. Aber um einen
       Überblick zu gewinnen und sich auch einmal von außen zu sehen: als Teil
       einer Entwicklungsgeschichte.
       
       Diese Romane sind das Ergebnis eines Ringens um Gerechtigkeit jeder
       Generation gegenüber und einer Souveränität im Ganzen - mit jeweils sehr
       unterschiedlichen Ergebnissen. Eugen Ruge hat in seinem Roman dieses Ringen
       mit verschiedenen Zeitebenen und Figurenperspektiven am besten episch
       verputzt und am kontrolliertesten in literarische Techniken übersetzt.
       Josef Bierbichler lässt sich von seiner stellenweise geradezu archaischen
       Sprachkraft durch das Hin und Her der Schicksale seiner Figuren tragen. Bei
       Oskar Roehler ist das Ringen noch am deutlichsten erkennbar; während die
       ersten 200 Seiten wie ein nahezu klassischer Gesellschaftsroman anheben -
       Kriegsheimkehrer, Aufstiegsgeschichte, Anfänge von Künstlerromanen in der
       Elterngeneration -, wirken der zweite und der dritte Teil noch unfertig.
       Hier ist der Erzähler noch allzu sehr in seine eigene Geschichte
       verstrickt.
       
       ## Rückwärtsgewandt? Nein!
       
       Es wäre, glaube ich, ein Fehler, diese Herkunftsromane als Ausdruck eines
       Retrotrends und einer Rückwärtsgewandtheit in der Literatur zu werten.
       Vielmehr sind sie ziemlich gegenwärtig - nicht thematisch, aber in der Art,
       wie sie gemacht sind. Und sie bleiben auch nicht in den Familiengeschichten
       stecken. Sie funktionieren nämlich sehr gut im Sinne einer aktuellen
       gesellschaflichen Selbstvergewisserung, und zwar jenseits von Bankenkrise
       und Eurocrash.
       
       Wer die Bücher liest, kann sich ein Bild davon machen, was alles in dieser
       Gesellschaft, in der wir heute leben, gearbeitet hat und was sie dabei
       alles hinter sich lassen musste: enge patriarchale Verhältnisse und
       unbefragte katholische Macht in der Provinz; das kleinkarierte Bonzen- und
       Schranzentum einer Diktatur, die sich im Einklang mit dem Weltgeist wusste;
       die Irrwege von Menschen, die es, selbst aufgewachsen im beredten Schweigen
       der Nachkriegszeit, erst noch lernen mussten, emotional für sich selbst zu
       sorgen. Und das oft nicht hingekriegt haben.
       
       Wenn man sich die Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschlands in
       den vergangenen zwei Generationen im Abstrakten ansieht, dann ist die
       Generallinie klar: Aufstiegsgesellschaft, Individualisierung,
       Fundamentalliberalisierung, Verdampfung aller unhinterfragten Traditionen.
       Von da aus gibt es nun aber auch das Interesse zu erfahren, wie das im
       Konkreten und im Einzelfall so gelaufen ist - und es gibt die Möglichkeit
       dazu, das zu erzählen, mit allen inneren Dramen, Irrwegen und
       Abgründigkeiten.
       
       Die Herkunft erscheint in diesen Romanen als etwas, dem man nicht
       entkommen, dem man sich aber mit den Mitteln des Romans stellen kann. Die
       Wucht und die Würde dieser Bücher liegt in dem sich in ihnen ausdrückenden
       Verlangen, das wahrhaftig zu tun.
       
       12 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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