# taz.de -- 50 Jahre Anwerbeabkommen mit Türkei: "Güle güle Ali!"
       
       > Ali Başar kam 1961 als einer der ersten türkischen Gastarbeiter ins
       > Ruhrgebiet. Hinter ihm lag eine Jugend in Armut, vor ihm lag harte Arbeit
       > in einem fremden Land. Ein Porträt.
       
 (IMG) Bild: Ali Başar im Jahr 2011.
       
       Im zweiten Zug aus Istanbul nach München sitzt Ali Başar. Ohne Ausbildung,
       ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld kommt der heute 79-Jährige ins Ruhrgebiet.
       Seine Heimat Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien hatte er schon als
       13-Jähriger verlassen, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Er
       landete in Istanbul, schlief auf Parkbänken, schlug sich als Tagelöhner
       durch. Ein Anwerbevertrag bringt ihn nach Deutschland, hier arbeitet er
       viele Jahre im Bergwerk und als Schweißer. 
       
       "An die Atmosphäre bei den medizinischen Untersuchungen kann ich mich noch
       gut erinnern. Alle waren aufgeregt, voller Hoffnungen. Die jungen Menschen,
       die sich beworben hatten, waren in der Türkei ja alle arbeitslos. Mit der
       Ablehnung verloren sie jede Hoffnung. Ich habe bestanden. Was für eine
       Freude das war! Mein erster Gedanke war: Nun würde ich meinen Geschwistern
       etwas zu essen geben können.
       
       Ich bin der Älteste von uns. Meinen Vater habe ich kaum kennengelernt, er
       ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hat uns allein
       großgezogen. Sechs Geschwister! Wir besitzen kein Land, meine Geschwister
       hatten keine Arbeit, einer meiner Brüder ist auf einem Auge blind. Wir
       haben in großer Armut gelebt. Wie kann ich das beschreiben, man kann sich
       das hier ja nicht vorstellen. In einer Blechhütte haben wir gewohnt."
       
       Als Anfang der 60er-Jahre die ersten Züge vom Bahnhof Istanbul-Sirkeci nach
       Deutschland rollen, ahnt wohl kaum jemand, dass damit Migrationsgeschichte
       geschrieben wird. Im Enthusiasmus, mit dem der Aufbruch der Arbeiter
       begleitet wird, verbirgt sich jedoch die sichere Ahnung davon, dass die
       Reisenden auf diesem Wege Armut, Gewalt, politischem oder sozialem Druck
       entkommen. Der Bahnsteig verwandelt sich zum Festplatz: Mit Jubel, Trubel
       und Tränen werden die Gastarbeiter von Freunden und Verwandten
       verabschiedet.
       
       "'Güle güle, Ali!' (Geh lachend), riefen sie mir zu. 'Schick uns ein
       Farbfoto aus Deutschland!' Es wurde gelacht, geweint, gesungen, manche
       haben sogar Musik gemacht. Bis Edirne an der bulgarischen Grenze ist eine
       Gruppe Journalisten mit uns im Zug gefahren. Am nächsten Tag waren die
       Zeitungen voll mit uns. Wir waren ja der zweite Zug, das hat ganz schön für
       Aufsehen gesorgt. Vor der Grenze stiegen die Journalisten aus, und dann
       passierte etwas Lustiges.
       
       In Sirkeci hatte ein Mann durch ein Megafon gesagt: 'Sehr geehrte Damen und
       Herren, hinter dem Eisernen Vorhang werden die Türen der Züge verschlossen
       bleiben. Bitte verlassen Sie hinter dem Eisernen Vorhang nicht mehr den
       Zug!' Als wir nach Bulgarien kamen, schauten wir neugierig aus dem Fenster,
       sahen aber nichts. 'Wo ist denn nun der Vorhang aus Eisen?', fragten die
       Leute, 'wir können ihn nicht sehen!' Was hatten wir schon eine Ahnung von
       der Welt da draußen!?"
       
       ## Die Männer machten "Muuuh!"
       
       Am Münchner Hauptbahnhof werden Ali Başar und die Mitreisenden aus der
       Türkei mit einem Tusch empfangen, per Megafon willkommen geheißen.
       
       "In einem großen Raum, einer Art Salon unterhalb des Bahnhofs, haben sie
       uns versammelt. Sie gaben uns Obst, frisches Brot, Käse – und Würstchen.
       Wir dachten natürlich, das sei Schweinefleisch und wollten es nicht essen.
       Die Männer schauten uns an und machten 'Muuuh!' Wir verstanden und haben
       die Würstchen beruhigt gegessen. Dann wurden wir eilig in Gruppen
       aufgeteilt – je nach Ort und Arbeitgeber. Es breitete sich Panik aus, als
       wir erfuhren, dass wir getrennt werden sollten und alleine weiterreisen
       würden. Alle riefen durcheinander: Hasan, wo gehst du hin? Mehmet, in
       welche Stadt fährst du?
       
       Ich wurde mit zwei anderen Männern nach Dortmund geschickt. So stiegen wir
       in den Zug – und staunten: Um uns herum waren überall so gut gekleidete
       Frauen und Männer in Nylonhemden! Das sind bestimmt Politiker, Abgeordnete,
       Minister, waren wir überzeugt. Wir haben es nicht gewagt, uns in eines der
       Abteile zu setzen. Also haben wir die gesamte Fahrt im Stehen verbracht."
       
       Ali Başar ist froh, in Deutschland zu sein – aber anfangs auch sehr einsam.
       
       "In den Pausen saß ich meist alleine da, auf einem Stein. Ich fühlte mich
       so einsam wie nie zuvor. Ich konnte mit niemandem reden, die Deutschen
       haben mich nicht beachtet. Bis Lorenz kam, der war anders. Er setzte sich
       neben mich, sprach mit mir. 'Ich: Lorenz, du: ?' – 'Ich: Ali.' So begann
       unsere Freundschaft. Am nächsten Tag brachte Lorenz mir von der Trinkhalle
       eine Sinalco mit, die er von seinem eigenen Geld für mich gekauft hatte!
       Ich gab ihm von meinem Brot, machte Tee für ihn. Irgendwann luden er und
       seine Frau Edith mich auch zu sich nach Hause ein. Die beiden haben mir
       sehr geholfen, so liebe Menschen. Wenn ich sehr traurig war, hat Lorenz mir
       den Arm um die Schulter gelegt und mich aufgemuntert."
       
       ## Das Umfeld ist deutsch und links
       
       Ali Başars Leben in Deutschland ist geprägt von Arbeit – und seinem
       Engagement für die Rechte der Arbeiter. Dass es für ihn und seine Kollegen
       eine Möglichkeit gibt, sich zu organisieren, und dass ihre Stimme auch
       gehört wird, ist eine einschneidende Erfahrung. 1969 wird er
       Gewerkschaftsmitglied, besucht regelmäßig die Gewerkschaftsschule der IG
       Metall, organisiert Diskussionsrunden, Demonstrationen, Weihnachtsfeiern,
       Sommerfeste. Sein Umfeld ist deutsch und politisch links. Dennoch begegnet
       er auch Menschen, die anders denken.
       
       "Natürlich sind auch Dinge passiert, die nicht ganz in Ordnung waren.
       Einige Kollegen waren nicht sehr nett zu mir, ich musste manchmal mehr
       arbeiten als die anderen. Aber das ist alles nicht so wichtig. Meine
       Arbeitgeber haben mich immer sehr gut behandelt, mich für meine Arbeit
       geschätzt. Das ist denen ja das Wichtigste: dass die Leistung stimmt.
       Manchmal hat ein Chef mich sogar in Schutz genommen, wenn Kollegen mich
       respektlos behandelt haben."
       
       Als kleiner Junge erlebt Ali Başar, wie das türkische Militär neben vielen
       anderen kurdischen Siedlungen auch sein Heimatdorf räumt, brutal gegen
       vermeintliche Aufständische vorgeht. Die Familie flieht – und verliert so
       den schmalen Besitz. Die Lage in der Region Tunceli bleibt angespannt.
       Armut, Hunger, Willkür und Gewalt prägen das Leben der Menschen. Ali Başar
       wird im Alter von 13 Jahren zu Verwandten nach Elazığ geschickt. Von dort
       geht er nach Malatya – und schließlich nach Istanbul. Die Menschen in
       Istanbul sehen anders aus als dort, wo er aufgewachsen ist.
       
       Am Großen Basar trifft er einen Mann mit einem Bart, der aussieht wie die
       Männer in seinem Dorf. "Hey, du siehst aus wie ich!", ruft der junge Ali
       Başar. "Ich bin aus Tunceli, ich kenne hier niemanden!" Er bekommt einen
       großen Korb in die Hand gedrückt, den man auf dem Rücken trägt: Er soll den
       Frauen, die auf dem Markt einkaufen, die Taschen mit Obst und Gemüse nach
       Hause tragen.
       
       An manchen Tagen schleppt er die schweren Lasten viele Kilometer. Nachts
       schläft er auf Parkbänken. Im Winter dient ihm sein Korb als Schutz vor der
       Kälte. Er verkriecht sich bis zur Hälfte darin, um seinen Körper vor dem
       Erfrieren zu retten. An einem Tag verdient er manchmal nur 10 Kuruş, dafür
       kann er sich ein halbes Brot kaufen, ansonsten ist er auf Almosen
       angewiesen.
       
       ## Peitschenstriemen der Armut
       
       Die Erinnerungen an seine Vergangenheit verlassen ihn in Deutschland nicht.
       Wohl deshalb erscheinen ihm rassistische Bemerkungen, denen er gelegentlich
       begegnet, erträglich; auch Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz. Durch sein
       hart erarbeitetes Geld fühlt er sich reich beschenkt. Eine
       Selbstverständlichkeit wird der bescheidene Wohlstand für ihn nie.
       
       "Mit 29 habe ich mir meinen ersten Anzug gekauft, ein Hemd, Schuhe und
       Krawatte. Zu Hause habe ich die Sachen angezogen – und mich eine halbe
       Stunde lang im Spiegel betrachtet. Wie schön ich aussah! Irgendwann konnte
       ich mir auch ein Auto kaufen, einen Opel Kapitän. 10.000 Mark hat das
       gekostet! Zweimal sind wir damit in die Türkei gefahren.
       
       Meine Mutter hatte noch nie in einem Auto gesessen. Sie konnte es gar nicht
       fassen, als sie uns sah, und lief aufgeregt hin und her. Zögernd stieg sie
       zu uns ein, hielt aber während der kurzen Fahrt die Griffe so fest
       umklammert, als hätte sie Angst rauszufallen. Die Armut, die ich in der
       Türkei erlebt habe, hat mich zur Dankbarkeit erzogen. Mit den
       Peitschenstriemen der Armut kam ich nach Deutschland, das Gefühl habe ich
       nie verloren."
       
       29 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorte Huneke
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Deniz Yücel
       
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