# taz.de -- Der Vollzeitaktivist: "Wenn ich jetzt nichts mache, macht es keiner"
       
       > Niemand hat zuletzt mehr Demonstrationen angemeldet als Dirk Stegemann.
       > Von Rechten wird er zum Feindbild Nummer eins stilisiert.
       
 (IMG) Bild: Will das System ändern: Dirk Stegemann auf einer Demo.
       
       taz: Herr Stegemann, vorm Bundestag demonstrieren täglich Menschen gegen
       Banken und Kapitalismus, so wie in unzähligen anderen Städten weltweit.
       Sind Sie gerade glücklich? 
       
       Dirk Stegemann: Zum Glücklichsein scheint es mir doch etwas verfrüht. Noch
       sehe ich auch keinen Grund dazu. Dass der Kapitalismus systembedingt Krisen
       und Ungleichheit produziert, ist ja schon lange bekannt. Da frag ich mich,
       warum die Menschen erst jetzt auf die Straße gehen und warum es immer noch
       zu wenige sind.
       
       Haben Sie nicht immer gefordert, dass die Leute nicht mehr gegen Symptome,
       sondern gegen die Ursachen auf die Straße gehen? 
       
       Es freut mich schon, dass die Leute erkennen, dass etwas mit dem
       Grundfundament dieser Gesellschaft nicht stimmt. Reichtum geht eben nicht
       ohne Armut und Ausgrenzung. Und der bürgerliche Parlamentarismus mit seinen
       vorgeschobenen Sachzwängen führt sich doch selbst ad absurdum. Wohin aber
       der Protest führen soll, was die Lösungen sein sollen und wie weit sie
       gehen - das kann ich überhaupt noch nicht sehen.
       
       Ist es nicht schon mal ein Fortschritt, dass Zustände kritisch hinterfragt
       werden? 
       
       Ganz klar: ja. Aber reicht es, sich auf Banken und das herrschende
       Establishment zu konzentrieren? Und wie soll die direkte, die echte, die
       wirkliche Demokratie aussehen, die jetzt alle fordern? Wie damals bei den
       Griechen? Es gibt einfach bisher noch kein Modell, in dem Demokratie
       vollständig umgesetzt wurde, also im Sinne gleicher politischer und
       sozialer Rechte für alle.
       
       Das klingt arg pessimistisch. 
       
       Nein. Ich glaube ja, dass sich das System ändern lässt und ein komplett
       neues Denken erreicht werden kann. Je mehr die sozialen Probleme wachsen,
       desto unfähiger werden sich die etablierten Parteien erweisen, diese zu
       lösen. Weil sie Symbolpolitik betreiben, ohne an die Ursachen zu gehen. Und
       je größer die Probleme, umso vehementer wird der Protest. Die Frage ist
       nur, welche Richtung er nimmt. Und da ist Deutschland leider nicht gerade
       als Land linker und emanzipatorischer Umwälzungen bekannt.
       
       Was wäre denn Ihre Lösung? 
       
       Letztlich muss es um ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben für
       alle gehen, das ich in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht sehe.
       Soziale Gerechtigkeit und Solidarität - da hat die Occupy-Bewegung schon
       ganz recht - brauchen wir global, wenn sie wirklich funktionieren sollen.
       Eine Lösung ist aber viel zu komplex für ein paar Sätze. Ein Anfang wäre,
       die Grundrechte jedes Menschen auf ein Dach über dem Kopf, auf Kleidung,
       Nahrung und Bewegungsfreiheit nicht für die Gewinne Einzelner zu opfern.
       Besitz und Eigentum müssen radikal hinterfragt und neu definiert werden.
       Umso mehr, da die Ressourcen dieser Welt begrenzt sind und deren gerechte
       Verteilung und der verantwortungsbewusste Umgang mit der Natur bisher
       politisch nicht angepackt werden. Das würde ja auch an den Grundfesten der
       Gesellschaft rütteln.
       
       Sie haben Ihre Zeit zuletzt dem Widerstand gegen Rechtspopulisten gewidmet.
       Kaum ein Auftritt von "Pro Deutschland" und "Freiheit", gegen den Sie nicht
       mit dem Bündnis "Rechtspopulismus stoppen" protestiert hätten. Woher dieser
       Elan? 
       
       Das war ein Fulltime-Job. Sieben Tage die Woche, oft wenig Schlaf.
       Recherche-Arbeit, Homepage bestücken, Kontakte mit Bündnismitgliedern
       halten, Öffentlichkeitsarbeit, Aktionen und Finanzierungen organisieren.
       Ich habe haufenweise Bücher zu Hause, die ich gerne lesen würde. Ich komm
       nicht dazu.
       
       Sie haben für Ihr Engagement Ihren Job geopfert? 
       
       Ich hatte Politik an der Freien Universität Berlin studiert, das habe ich
       ausgesetzt. Auch die Nebenjobs bei Berliner Abgeordneten waren nur noch
       eingeschränkt möglich.
       
       Moment, Sie arbeiten für Abgeordnete, aber schimpfen über die etablierte
       Politik? 
       
       Nun, auch ich muss Kompromisse eingehen. Ich lebe ja nicht in einem
       luftleeren Raum außerhalb gesellschaftlicher Strukturen. Da mir niemand das
       Studium oder mein Engagement finanziert, muss ich mir das Geld zum Leben
       halt durch Jobs beschaffen. Und da war es für mich naheliegend, meine
       Kenntnisse und Fähigkeiten dort einzubringen, wo ich sie am besten
       aufgehoben sehe. Solange ich das Gefühl habe, etwas bewirken zu können,
       okay. Wenn nicht, muss ich Konsequenzen ziehen.
       
       Warum so ein Mordsaufwand? "Pro Deutschland" hat bei der Wahl 1,2 Prozent,
       die Freiheit 1,0 Prozent bekommen. 
       
       Das war ja nicht sicher vorherzusehen. Hätten wir nicht so früh angefangen,
       vor deren rassistischen Positionen zu warnen, wäre das vielleicht anders
       gekommen. Wir haben aber auch immer betont, dass nicht die
       rechtspopulistischen Splitterparteien das Problem sind, sondern die
       etablierten Parteien, die deren Ideen übernehmen. Schauen Sie, wie Thilo
       Sarrazin sozial Benachteiligte diskriminiert und gegeneinander ausspielt.
       Oder der Umgang mit Erwerbs- und Wohnungslosen in diesem Land: Sinti und
       Roma in den Kosovo abschieben? Kein Problem. Und Buschkowsky [Neuköllns
       SPD-Bezirksbürgermeister, d. Red.] will Kindergeld für Schulschwänzer
       kürzen. Das ist Rechtspopulismus!
       
       Geert Wilders kann in den Niederlanden punkten, die FPÖ in Österreich, die
       SVP in der Schweiz: Warum aber gibt es keine erfolgreiche
       rechtspopulistische Partei in Deutschland? 
       
       Weil die Parteien, die es hier versucht haben, chaotisch agiert haben.
       Gegenseitige Konkurrenzen, interne Machtkämpfe. Bei der Pro Bewegung können
       nicht mal Pro Berlin und Pro Köln miteinander. Und Freiheit-Chef René
       Stadtkewitz reiste lieber durch die Welt, als in Berlin Wahlkampf zu
       machen. Das Gros der Bevölkerung hat die Rechtspopulisten - wenn überhaupt
       - meist nur über den Gegenprotest wahrgenommen. Und damit als Problem,
       nicht als Normalität.
       
       Hätten Sie die Parteien nicht auch ignorieren können? 
       
       Ich denke, es hat sich historisch erwiesen, dass Verschweigen und Weggucken
       nichts verbessert. Und ich fürchte, dass in Deutschland die Zeit der
       Rechtspopulisten erst noch kommen könnte. Wenn man die Debatten um die
       Euro-Krise oder die rassistische Hetze gegen Griechenland sieht, scheint
       mir der Rechtspopulismus momentan eher auf dem Vormarsch.
       
       Fehlt den hiesigen Rechten nur ein Charismatiker? So was wie ein Sarrazin? 
       
       Das könnte tatsächlich sein. Die hunderttausendfach verkauften Bücher
       Sarrazins und die Debatten um dessen Thesen haben ja gezeigt, dass das
       Potenzial da ist. Da hat sich in der Gesellschaft eine beängstigende,
       rassistische Grundstimmung gezeigt. Die aber soll bitte immer noch
       bürgerlich daherkommen. Mit Parteien wie Pro Deutschland, die sich aus NPD,
       DVU und Reps rekrutieren, ließ sich das kaum demokratisch legitimieren.
       
       Ist es nicht beruhigend, dass in Berlin die Abgegessenheit über die
       Altparteien nicht Rechten, sondern den Piraten zugutekommt? 
       
       Im ersten Moment mag das sein. Weil so die Etablierten unter Druck geraten
       und merken, dass sie mit ihren Angeboten nicht mehr ankommen und sich als
       Problemlöser delegitimiert haben. Aber noch weiß ja gar keiner, wo es
       hingeht mit den Piraten. Der etwas leichtfertige Umgang mit ehemaligen
       NPD-Mitgliedern etwa stimmt nachdenklich. Die mögen ja aus der Partei
       ausgetreten sein, aber aus dem Gedankengut?
       
       Sie sind schon ein ziemlich skeptischer Mensch, oder? 
       
       Wie lässt Goethe seinen Mephisto so schön sagen: "Ich bin der Geist, der
       stets verneint." Nichts einfach so hinzunehmen, sondern Dinge zu
       hinterfragen ist doch nichts Schlechtes, oder?
       
       Woher rührt diese Skepsis? 
       
       Schon in meiner Jugend habe ich oft einen inneren Widerstand aufgebaut,
       wenn ich mich unter Druck gesetzt fühlte, wenn ich etwas als autoritär oder
       ungerecht empfand. Das ist natürlich ein subjektives Gefühl. Zweifel und
       Fehler eingeschlossen. So habe ich zu Jugendzeiten ein Studium bei der
       Volksmarine der NVA aufgenommen, aus Überzeugung. Ohne erkannt zu haben,
       dass mir innerlich die Bereitschaft fehlte, mich militärischen Strukturen,
       Befehl und Gehorsam unterzuordnen. Daran ist das Studium dann gescheitert.
       Tja, so lernt man, sich selbst zu hinterfragen.
       
       Wann haben Sie Ihr politisches Engagement entdeckt? 
       
       Ich bin antifaschistisch erzogen worden und war als junger Mensch durchaus
       der Meinung, man müsse ein besseres System aufbauen, frei von
       Diskriminierung, Ausgrenzung und Neofaschismus. Das hat aus verschiedenen
       Gründen leider in der DDR nicht funktioniert.
       
       Sie waren 22 Jahre, als die Mauer fiel. Eine Enttäuschung? 
       
       Ja, doch. Ich war schon von der Idee einer sozial gerechten Gesellschaft
       überzeugt. Und insgesamt betrachtet war die DDR sozial gerechter als die
       Bundesrepublik. Gleichzeitig habe ich auch gesehen, dass die Ideale, die
       nach außen vertreten wurden, sich nach innen oft nicht niedergeschlagen
       haben. Nach der Wende habe ich lange politisch nichts gemacht, sondern als
       Busfahrer gearbeitet. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder zu mir selbst
       gefunden habe. Erst 2006 mit dem Umzug nach Berlin und dem Studium an der
       FU gings wieder los.
       
       Vom Busfahrer zum Politaktivisten: Gabs da ein Schlüsselereignis? 
       
       Eigentlich nicht. Offenbar war das Politische nur verdrängt.
       
       Sie haben sich immer für Randgruppen eingesetzt. Warum? 
       
       Die demokratische und humanistische Verfasstheit einer Gesellschaft zeigt
       sich besonders an ihrem Umgang mit den sozial Schwächsten. Da bleibt der
       Kapitalismus ein Problem. Gerade in Krisenzeiten wird der Kampf "Jeder
       gegen Jeden" noch zusätzlich ethnisiert und kulturalisiert: Die, die sich
       vermeintlich oder tatsächlich am wenigsten wehren können, werden noch
       stärker das Ziel von Ausgrenzung und Diskriminierung. Wenn ich aber erlebe,
       wie Menschen ungleichwertig behandelt werden, lässt mich das nicht los. Ich
       bin eben ein sehr emotionaler Mensch.
       
       Okay, aber nicht jeder investiert so viel Zeit wie Sie. 
       
       Die andere Seite meiner Sturheit ist die Hartnäckigkeit. Je mehr ich mich
       in die Materie eingearbeitet habe, umso mehr habe ich manifestierte
       Ungleichheiten im System kennengelernt. Das Problem ist, dass es so komplex
       ist. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus - geht man an die Ursachen,
       lässt sich vieles nicht voneinander trennen. Die Lage ist sogar schlechter
       geworden: Spätestens seit Sarrazin wird wieder offen und scheinbar legitim
       über die Ungleichwertigkeit von Menschen diskutiert. Da frage ich mich
       schon manchmal: Sieht das denn niemand?
       
       Kaum jemand dürfte im letzten Jahr so viele Demos in Berlin angemeldet
       haben wie Sie. Können Sie noch mitzählen? 
       
       Puh. (Pause) Keine Ahnung. Jedenfalls einige. Das hat natürlich auch damit
       zu tun, dass die Rechtspopulisten so aktiv waren. Und Bündnisarbeit ist
       eben keine Einbahnstraße. Wer bei uns mitmacht, dem werde ich nicht nein
       sagen, wenn ich um eine Demo-Anmeldung gebeten werde. Meine Daten sind ja
       sowieso bei der Versammlungsbehörde bekannt. Ich kann verstehen, wenn
       andere das nicht wollen.
       
       Was haben die Demos erreicht? 
       
       Ich kann damit auf Probleme aufmerksam machen, kann Menschen anregen, sich
       für etwas einzusetzen und Anliegen unterstützen. Und plötzlich wurde ja
       diskutiert, was Rechtspopulismus ist. Und "Die Freiheit" und "Pro
       Deutschland" konnten sich nicht mehr unerkannt treffen und als harmlos
       präsentieren. Wirklich erreichen kannst du am Ende aber nur etwas, wenn du
       die sogenannte Masse mitziehst, die Unentschlossenen und Demotivierten, die
       diese Gesellschaft zuhauf produziert.
       
       Sie sind jetzt ein Feindbild der rechten Szene: Im Internet finden sich
       Steckbriefe, "die Freiheit" überzieht Sie mit Klagen wegen vermeintlicher
       Beleidigung. Haben Sie keine Angst? 
       
       Erstmal freut es mich, dass das Bündnis und ich als derart gewichtige
       Gegner wahrgenommen werden, dass zu solchen Mitteln gegriffen wird. Da
       zeigt sich schnell, wo für die ach so demokratischen Rechtspopulisten
       Demokratie und Freiheit aufhört. Ich sehe die Drohungen und
       Rechtsstreitigkeiten vor allem als Versuch, mich in meiner Aktivität
       zeitlich und finanziell einzugrenzen. Das ist nervig, aber ich werde mich
       nicht davon lähmen lassen.
       
       Ihnen wird auch offen mit Gewalt gedroht. 
       
       Es wäre falsch, in Panik zu verfallen. Genau das wollen die ja. Trotzdem
       muss man selbstverständlich eine gesunde Vorsicht walten lassen.
       
       Sie wollen etwas kürzertreten? 
       
       Sagen wir es so: Ich will versuchen, stärker Schwerpunkte zu setzen. So wie
       ich bisher Zeit investiert habe, ist das auf Dauer nicht durchzuhalten. Ich
       muss mir einen existenzsichernden Job suchen. Sonst wird mir, wenn ich Pech
       habe, auch noch das bisschen Aufstockung gestrichen. Wegen meines
       Engagements! Schon irgendwie verrückt. Auf diese Weise würgt die Politik
       selbst zivilgesellschaftlichen Einsatz ab.
       
       Kann ein Dirk Stegemann überhaupt kürzertreten? 
       
       Das wird die Zukunft zeigen. Nur gibt es zu viele Probleme, zu denen man
       etwas machen müsste. Und am Ende setzt sich bei mir eben oft doch das
       Gefühl durch: Wenn ich jetzt nichts mache, macht es keiner, oder es
       passiert zu spät.
       
       31 Oct 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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