# taz.de -- Universitäten und die Bologna-Reformen: Notwendiges Übel
       
       > Begeisterte Studierende? Stoff weglesen, Stundenpläne abarbeiten, Punkte
       > sammeln - Tania hat keinen Bock mehr auf Uni. Drei Tage im studentischen
       > Alltag.
       
 (IMG) Bild: Studierende fordern mehr Geld - und auch mehr Spaß: Demo zum Bildungsstreik vergangene Woche in Berlin.
       
       Der erste Tag: In der "Rostlaube" der Freien Universität in Berlin sieht
       alles so aus wie schon vor 20 Jahren. Auf den Heizungen, vor den
       Bibliotheken, vor der Mensa hocken Studierende, unterhalten sich, lesen,
       arbeiten. Einige der alten Cafés haben mittlerweile dichtgemacht, aber
       dafür gibt es neue.
       
       Im "Projektcafé Kauderwelsch für eine ökologische Welt" etwa sitzt eine
       junge Frau auf einem abgeschabten Ledersofa und liest in einem
       amerikanischen Roman. Tanja* ist 25 Jahre alt und studiert
       Erziehungswissenschaften. Sie trägt viele bunte Tücher, neben ihr liegt
       eine Jutetasche aus dem Weltladen. Das Haar ist auf einer Seite kurz
       rasiert. Natürlich hat sie Zeit, sagt sie und legt ihr Buch zur Seite.
       
       Tanja studiert seit drei Jahren. Wenn alles glatt läuft, macht sie nächstes
       Jahr ihren Master. "Ich habe keinen Bock mehr auf Uni", sagt sie. Immer
       ging es nur darum, Stoff wegzulesen, Stundenpläne abzuarbeiten, Punkte zu
       sammeln und auf Anwesenheitslisten aufzutauchen. Die vollen Hörsäle, meint
       sie, wären kein Problem, wenn es wenigstens um Inhalte ginge.
       
       Aber eigene Schwerpunkte setzen? Nach Interessen studieren und nebenher
       arbeiten, um herauszufinden, wohin es später gehen soll? Davon kann Tanja
       seit den Bologna-Reformen (siehe Kasten) nur träumen. Sie wird am
       Bildungsstreik teilnehmen, weil ihr nicht nur an der Schule, sondern auch
       an der Uni immer vorgeschrieben wurde, was sie wie zu lernen hat.
       
       Ein paar Schritte weiter. Vorm Sprechzimmer eines Professors wartet eine
       junge Frau. Ihre Augen versteckt sie hinter einem langen Pony. Linde ist
       19, und sie hat gerade begonnen, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch zu
       studieren. "Bis jetzt macht's noch keinen Spaß", meint sie. Sie glaubt, die
       Dozenten sind überlastet und nicht bei der Sache.
       
       ## Kohle von Mama und Papa
       
       Hinzu kommt, dass sie sich die 600 Euro monatlich, mit denen sie auskommt,
       selbst verdienen muss. Bis jetzt hat sie noch niemanden kennen gelernt, der
       das auch so macht. Die meisten um sie herum bekommen 800 Euro und mehr, und
       zwar von Mama und Papa. Sie wird nicht beim Bildungsstreik mitmachen, denn
       dazu hat sie bei 26 Stunden Unterricht, 20 Stunden Nachbereitung und dem
       Brotjob keine Zeit.
       
       Noch ein paar Schritte weiter geht gerade eine Einführung in die
       Literaturwissenschaft zu Ende. Die Leute mussten auf den Fensterbänken
       sitzen. Hans Richard Brittnacher ist Dozent, er bietet 16
       Semesterwochenstunden an, also acht Veranstaltungen pro Woche, die neben
       der Forschungsarbeit, den Sitzungen und Sprechstunden vor- und nachbereitet
       sein wollen.
       
       Am Ende des Semesters fallen durchschnittlich 270 Klausuren und 150
       Hausarbeiten an, die er korrigieren muss. Brittnacher hat Angst vorm
       nächsten Jahr, denn dann machen auch in Berlin zwei Jahrgänge gleichzeitig
       Abitur.
       
       Wen man auf den Fluren der Freien Universität auch anspricht: Einen
       Studierenden, der begeistert oder wenigstens gern studiert, wird man nicht
       finden. Die einen berichten von Leistungsdruck. Andere sind ganz froh, dass
       sie der hohe Numerus clausus gezwungen hat, vorm Studium ein Freies
       Soziales Jahr zu machen. Andere sagen, sie wollen gar nicht mit 22 fertig
       sein, denn mit 22 in den Beruf zu gehen können sie sich nicht vorstellen.
       
       Fast niemand schimpft auf den Ansturm der Studienanfänger oder Überfüllung,
       denn auch an der FU gibt es in diesem Herbst beinahe doppelt so viele
       "Erstis" wie im letzten. Alle aber schimpfen auf die Bologna-Reformen, die,
       wie sie finden, die Unis kaputt gemacht haben.
       
       Zwei Hauptziele von Bologna waren es, die Studierenden für den Job zu
       rüsten und sozial Schwachen ein Korsett zur Verfügung zu stellen, das sie
       leichter durch die Uni bringt. Beides hat nicht funktioniert.
       
       Hinzu kommt: Schon zum zweiten Mal nach 2006 stellte die Shell-Studie im
       vergangenen Jahr fest: Die Jugend ist vor allem verunsichert und
       pragmatisch. Und immer wieder bekommt man zu lesen, Deutschlands
       Studierende seien leidensfähig, sie seien traurige Spießer, die sich vor
       allem durchwurschteln.
       
       ## Tendenz: steigend
       
       Der zweite Tag: In Kassel befindet sich eine Hochschule, die einmal auf
       12.000 Studierende und 2.000 Studienanfänger eingerichtet war und nun mehr
       als 20.000 Studierende und fast 5.000 Studienanfänger unterzubringen muss -
       Tendenz, wie überall, steigend. Zum Semesterbeginn wurden manche
       Vorlesungen und Seminare in Container und Kinosäle verlegt.
       
       Auf dem Campus kündet eine große Baustelle davon, dass die Zeichen der
       Zeit, wenn auch etwas spät, verstanden wurden - selbst an die Mensa wird
       zum Semesterende angebaut werden. Christin Eisenbrandt vom Freien
       Zusammenschluss Studierender (FZS) und Sebastian Geiger vom Allgemeinen
       Studierendenausschuss (Asta) in Kassel überschlagen sich fast, als sie von
       ihrer Arbeit berichten.
       
       Der neue Ansturm auf die Unis, bringt das Fass, meinen sie, nun zum
       Überlaufen. Einerseits wird Effizienz gefordert, andererseits ist es
       unmöglich, effizient zu studieren, wenn selbst in den Tutorien, die als
       Lernbegleitung durch studentische Hilfskräfte und Doktoranden in kleinen
       Gruppen gedacht sind, 60 Personen sitzen.
       
       Sie berichten davon, dass die Studenten gegeneinander ausgespielt werden.
       "Wenn überall Teilnehmerlisten für Lehrveranstaltungen aushängen, auf denen
       sich nicht alle eintragen können, dann kann doch nur der Stärkere
       gewinnen", sagt Sebastian Geiger.
       
       So sehen das auch Yvonne und Martha in der langen Schlange vor der
       Essensausgabe. Beide sind 19 und angehende Deutschlehrerinnen. Sie wissen
       noch, dass das Studium lange Jahre von vielen als Lebensphase betrachtet
       wurde. Für sie ist die Uni nur noch ein notwendiges Übel, um zum guten Job
       zu kommen. "Traurige Streber?", fragen sie. "Wir werden ja dazu gezwungen!"
       Gleich müssen sie zu einer Kirche, in die ihr Seminar verlegt wurde.
       
       ## Lehrninhalte wurden nicht reformiert
       
       Das Erste, was Professor Jürgen Otto in der großen, zugigen Kasseler
       Auferstehungskirche in seiner Einführung in die Entwicklungspsychologie von
       seinen Studierenden wissen will: "Ist Ihnen kalt? Beim letzten Mal war
       nicht gut geheizt. Ich hoffe, es ist diesmal angenehmer für Sie." Auf den
       Holzbänken sitzen hundert Lernwillige, lesen in dicken Romanen und nesteln
       an ihren Handys herum.
       
       Nicht, dass es nicht interessant wäre, was der da vorn zu sagen hat, mögen
       sie denken. Aber der Sound ist so schlecht. Draußen scheint die Sonne. Und
       was habe ich davon, wenn ich weiß, wie man Zweijährige beim Spiel besser
       beobachtet, wo ich doch Teenager unterrichten will? Mag sein, dass Bologna
       viel geändert hat an den Lernbedingungen. An den Lerninhalten hat die
       Reform wenig gerührt.
       
       Der dritte Tag: Es ist Bildungsstreik. Vorm Roten Rathaus in Berlin haben
       sich ungefähr 2.500 Studierende und Schüler versammelt, etwa halb so viele
       wie erwartet. Anders als 2009, als viele Bundesländer erfolgreich qua
       Streik gezwungen wurden, die Studiengebühren abzuschaffen, sind die Themen
       diesmal nicht so griffig.
       
       Auch hat sich in den letzten beiden Jahren wenig an den Studienbedingungen
       geändert. Bologna ist zum Status quo geworden. Nur wenige können sich noch
       erinnern, wie man früher studiert hat. Und außerdem ist es kalt, eiskalt
       sogar.
       
       Die Schüler und Studenten, die trotzdem gekommen sind, scheinen ungebrochen
       gut gelaunt und angriffslustig. Sie demonstrieren gegen "Turboabi" und
       "Bildungsklau". Ein Transparent fordert: "Egalität statt Elite". Der junge
       Mann, der es hält, heißt Stephan und beschwert sich. "Bei all dem Stress
       haben Migrantenkinder heute noch schlechtere Chancen als früher."
       
       Auf einem anderen Transparent steht: "Für noch infantilere
       Anwesenheitskontrollen - wir fordern den Fingerabdruck." Die junge Frau mit
       dickem Schal und dicker Mütze, die es hält, will Politiklehrerin werden.
       "Erstes Semester - erste Krisen", sagt auch Alex. "Aber ich lass mir mein
       schönes Studentenleben nicht nehmen", fügt sie trotzig an.
       
       ## Es geht ums Lernen
       
       Es geht bei dieser Demo nicht nur um die Forderung nach mehr Geld für die
       Unis. Es geht bei dieser Demo auch darum, dass das Lernen wieder Spaß
       machen soll.
       
       Weiter vorn läuft ein bisschen Musik. Es ist ein Demo-Klassiker, der Song
       "Müssen nur wollen" von der Berliner Band Wir sind Helden. Judith
       Holofernes' Stimme erfüllt die ganze Straße: "Das ist das Land der
       begrenzten Unmöglichkeiten, wir können Pferde ohne Beine rückwärts reiten.
       Wir können alles, was zu eng ist, mit dem Schlagbohrer weiten."
       
       Alex singt mit, Wort für Wort. Auch sie ist keine traurige Streberin. Denn
       sie weiß, dass es auch anders ginge.
       
       *Namen geändert
       
       21 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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