# taz.de -- Montagsinterview mit Martin Zierold: "Wir Gebärdensprachler sind nicht stumm"
       
       > Seit September sitzt Martin Zierold für die Grünen in der
       > Bezirksverordnetenversammlung Mitte. Er ist Deutschlands erster
       > gehörloser Parlamentarier.
       
 (IMG) Bild: "Wir brauchen eine neue demokratische Kultur": Martin Zierold im Rathaus Mitte.
       
       taz: Herr Zierold, normalerweise bin ich darauf angewiesen, dass ich die
       gleiche Sprache spreche wie mein Interviewpartner. 
       
       Martin Zierold: Stimmt, bei mir geht Lautsprache nur über die
       Dolmetscherin. Aber dafür hat die Gebärdensprache doch viel mehr Ebenen.
       Schauen Sie mich an, jetzt gebärde ich gerade "Auto". 
       
       Zierold bewegt ein imaginäres Lenkrad. Plötzlich verändert er seinen
       Gesichtsausdruck. 
       
       Und jetzt würde es im Deutschen heißen: "Ich fahre gerade angestrengt
       Auto." In der Gebärdensprache kann ich das durch die Mimik ausdrücken. Das
       ist die Besonderheit: Die Hände, das Gesicht, der ganze Körper sind
       beteiligt.
       
       Dann müssen Ihnen meine Mimik und Gestik sehr reduziert vorkommen. 
       
       Ja. Wenn ich Hörenden beim Sprechen zusehe, wirkt das auf mich nahezu
       ausdruckslos.
       
       Für die allermeisten hörenden Menschen ist Gehörlosigkeit eine Behinderung.
       Aber es gibt auch Stimmen aus der Taubengemeinschaft, die die Anerkennung
       als nationale Minderheit, so wie die Sorben, fordern. 
       
       Stimmt, es gibt verschiedene Perspektiven. Wir benutzen eine eigene Sprache
       mit eigener Grammatik, und deshalb hat sich eine Taubengemeinschaft mit
       eigener Kultur entwickelt. Eine meiner Visionen wäre es, dass die
       Gebärdensprache neben Deutsch zur Amtssprache wird.
       
       Wie in Neuseeland. 
       
       Zum Beispiel. Aber der kulturelle und geschichtliche Hintergrund in
       Deutschland ist ein ganz anderer: Die Sprache wurde hier lange
       diskriminiert, die Taubengemeinschaft war deshalb sehr schwach und hat sich
       verschlossen. So konnte auch die Mehrheitsgesellschaft gar nichts wissen
       von einer Gebärdensprachkultur. Erst langsam findet ein Paradigmenwechsel
       auf beiden Seiten statt. Bis zu einer Amtssprache ist es noch ein weiter
       Weg.
       
       Ist Deutsch für Sie eine Fremdsprache? 
       
       Ja, klar. Meine Eltern sind taub, meine Großeltern auch. Meine
       Muttersprache ist die Deutsche Gebärdensprache. Mit drei Jahren kam ich ins
       Internat. Das war in der DDR so üblich. Damals hat man in der
       Gehörlosenpädagogik generell mit der oralen Methode gearbeitet. Die
       Gebärdensprache war mehr oder weniger verboten und die Erziehung auf die
       Anpassung an die Hörenden ausgerichtet. Das war für mich sehr künstlich und
       anstrengend. Wenn ich dann nach Hause kam, war ich in meiner natürlichen
       Umgebung.
       
       Beherrschen Sie noch mehr Sprachen? 
       
       2002 und 2003 war ich ein Jahr zum Schüleraustausch in Kanada und den USA.
       Viele wissen gar nicht, dass es verschiedene Gebärdensprachen gibt. Die
       American Sign Language wird zum Beispiel sehr nah am Körper ausgeführt.
       Nehmen wir den Begriff "Ketchup".
       
       Zierold legt die gespreizten Zeige- und Mittelfinger an den Mund. 
       
       Das steht für den Buchstaben K. Wie Ketchup. In den USA wird sehr viel mit
       dem Fingeralphabet gearbeitet, in der deutschen Gebärdensprache dagegen
       viel mehr mit Bildern. Hier wieder "Ketchup":
       
       Er schüttet mit der rechten Hand etwas in die zum Gefäß geformte linke
       Hand. 
       
       Ursprünglich kommen Sie aus Sachsen … 
       
       Ja, aus einem kleinen Dorf bei Aue, zwischen Chemnitz und Zwickau.
       
       Gibt es auch einen sächsischen Dialekt der Gebärdensprache? 
       
       Ja, genau wie es einen Berliner Dialekt gibt. Ich selber liebe die
       sächsische Gebärdensprache, weil sie sehr viel differenzierter ist. Zum
       Beispiel haben Tante, Onkel und Cousine im Sächsischen sehr
       unterschiedliche Gebärden. Hier in Berlin ist es immer die gleiche
       Handbewegung, nur das Mundbild ist anders.
       
       Ich habe gelesen, Sie wären gern auf ein Gymnasium gegangen. Woran ist es
       gescheitert? 
       
       Ich hatte von vornherein keine Motivation, weil ich wusste, das dort nach
       der oralen Methode unterrichtet wird und ich Schwierigkeiten mit dem
       Verstehen bekommen werde. Ich habe den Realschulabschluss gemacht. Dann
       hatte ich die Schnauze voll und dachte: Abitur, nein danke. Es ist ein
       unmöglicher Zustand, dass an den Gehörlosenschulen noch immer nicht alle
       Lehrer die Gebärdensprache beherrschen. Selbst hier in Berlin: Die
       Witzleben-Schule in Friedrichshain ist die einzige Schule, an der
       Schwerhörige und Taube Abitur machen können. Aber es wird nicht in der
       Sprache unterrichtet, die taube Menschen verstehen. Das kann ich überhaupt
       nicht nachvollziehen. Die Schulen müssen doch merken, dass das Konzept
       nicht aufgeht. Die Einstellung scheint zu sein: Selbst schuld, Pech …
       
       Zierold gebärdet schneller, als die Dolmetscherin übersetzen kann, und mit
       ziemlich eindeutiger Mimik. Spätestens jetzt wird klar, was mit dem
       Auto-Beispiel gemeint war. 
       
       Das regt mich auf, das Thema, wirklich. Ich will politisch durchkämpfen,
       dass sich da was ändert und taube Jugendliche in Berlin Abitur machen
       können.
       
       Reicht es nicht aus, wenn man gut lesen kann? 
       
       Für Gehörlose ist es nicht leicht, die deutsche Schriftsprache zu lernen.
       Denn sie ist ganz anders aufgebaut als die Gebärdensprache. Wir brauchen
       zum Beispiel keine Präpositionen: Ob etwas "auf", "unter" oder "über" ist,
       das zeigen wir durch die Richtung der Gebärde. Auch ich habe die
       Schriftsprache sehr spät gelernt, weil bei mir zu Hause nur über
       Gebärdensprache kommuniziert wurde.
       
       Warum sind Sie nach Berlin gekommen? 
       
       Sachsen ist meine Heimat. Aber das Gefühl, dass ich dort persönlich
       hinpasse, hatte ich nicht. Die Mentalität ist eine andere, und ich hatte
       kaum Kontakt zu Hörenden. Berlin ist sehr viel toleranter, viel
       internationaler. Hier habe ich mehr Möglichkeiten, in der Jugendarbeit
       etwas zu bewegen, mich beruflich weiterzuentwickeln. Deshalb bin ich 2008
       hergezogen.
       
       Und um Politiker zu werden. 
       
       Das war damals genau die Zeit, als Deutschland die
       UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieb und sich damit zu mehr
       Teilhaberechten für Menschen mit Behinderungen verpflichtete. Dann ging es
       um die Umsetzung, und ich habe gemerkt, dass die Konzepte wieder über die
       Menschen mit Behinderungen geschrieben wurden und nicht mit ihnen. Das will
       ich nicht akzeptieren. Deshalb bin ich Politiker geworden.
       
       Inklusion ist Ihr wichtigstes politisches Thema. Viele Menschen wissen
       nicht einmal, was das ist. Versuchen Sie es doch einmal, in einem Satz zu
       erklären. 
       
       Uff. Moment. Am besten lässt sich das mit dem Unterschied zwischen
       Integration und Inklusion erklären.
       
       Die Gebärde für "Integration" sind ineinander verschränkte Finger. Bei
       "Inklusion" legt Zierold die Hände ineinander. 
       
       Integration bedeutet, dass sich die Menschen mit Behinderung an die
       Mehrheitsgesellschaft anpassen müssen. Im Gegensatz dazu bedeutet
       Inklusion, dass die Menschen ohne Behinderung sich an die Menschen mit
       Behinderung anzupassen haben. Auf diesen Unterschied kommt es an.
       
       Der Inklusionswissenschaftler Andreas Hinz hat es für die inklusive Schule
       einmal so formuliert: Kein Kind muss beweisen, dass es der Teilhabe würdig
       ist. 
       
       Genau um diese Selbstverständlichkeit geht es. Im Moment ist es aber ein
       immerwährender Kampf für Menschen mit Behinderungen, damit sie doch
       irgendwie ins System passen.
       
       Offensichtlich sind Menschen mit Behinderungen auch im Politikbetrieb nicht
       selbstverständlich. Nervt es Sie, dass wir Journalisten vor allem anfragen,
       weil Sie der erste gehörlose Politiker Deutschlands sind? 
       
       Nein. Man muss sichtbar machen, dass es möglich ist. Aber es ärgert mich,
       wenn Journalisten sich lange mit mir unterhalten und dann trotzdem von
       "Taubstummen" und "Zeichensprache" schreiben. Wir sind nicht stumm, und
       unsere Sprache heißt Gebärdensprache.
       
       Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. In Berlin
       gibt es seit diesem Jahr einen Aktionsplan. Wie inklusiv ist denn die
       Stadt? 
       
       Im Moment heißt es oft: "Eine Stadt für alle, Inklusion für alle". Auch bei
       den Grünen. Dann greife ich schon ein und sage: "Moment". Denn Inklusion
       für alle gibt es nicht. Bei den tauben Menschen geht es zum Beispiel um den
       Erhalt der Gebärdensprachkultur. Körperbehinderte haben wieder andere
       Ansprüche. Dem wird man nur gerecht, wenn man die Betroffenen beteiligt und
       nicht vom Schreibtisch aus Konzepte schreibt.
       
       Also müssen sich vor allem die Politiker ändern? 
       
       Nicht nur. Auch die Menschen mit Behinderungen dürfen sich nicht
       zurücklehnen und meckern. Wir brauchen eine neue demokratische Kultur,
       politische Bildung und das Bewusstsein, dass Einmischen auch etwas bringt.
       Dafür zu sorgen, sehe ich als meine politische Aufgabe.
       
       Wie schwer war es für Sie, in den Politikbetrieb reinzukommen? 
       
       Sehr schwer. Es ist ja alles auf Hörende ausgerichtet, ich brauche immer
       eine Dolmetscherin. Die Finanzierung vor der Wahl war sehr schwierig.
       Andere Politiker machen Wahlkampf, damit sie bekannter werden. Für mich war
       das nur möglich, weil eine meiner Dolmetscherinnen mich ganz oft auch
       ehrenamtlich begleitet hat. Seit der Wahl ist es etwas besser: Die
       Dolmetscherkosten für Sitzungen von Bezirksverordnetenversammlung, Fraktion
       und Ausschuss sind jetzt bewilligt. Aber was ist, wenn ich eine Einrichtung
       besuchen, Hintergrundgespräche mit anderen Politikern führen oder
       Öffentlichkeitsarbeit machen will? Das sind Hürden, die es für andere
       Politiker nicht gibt.
       
       Wie läuft denn so eine Fraktions- oder Bezirksparlamentssitzung für Sie ab? 
       
       Ich habe immer zwei Dolmetscher dabei, die simultan das gesamte Geschehen
       übersetzen und sich zwischendurch abwechseln. In der BVV sitze ich so, dass
       ich sowohl die Dolmetscher als auch den gesamten Raum gut im Blick habe.
       Ansonsten nehme ich teil und melde mich zu Wort wie jeder andere.
       
       Aber ein bisschen Smalltalk in der Pause, das geht für Sie nicht … 
       
       Ich habe zusätzlich eine Kommunikationsassistentin, die mir die
       Zwischengespräche und die Gespräche in den Pausen übersetzt. Ansonsten kann
       man sich mit Aufschreiben, E-Mail, SMS, Mimik und Gestik behelfen. Aber
       klar, wenn ich das Gefühl habe, ich brauche für das kleinste Gespräch einen
       Dolmetscher, dann entsteht ein großer Abstand. Deshalb haben wir uns in der
       Fraktion angewöhnt, dass ich jede Woche einen kleinen
       Gebärdensprach-Crash-Kurs mache. Es gehört schließlich zum
       Inklusionsgedanken, dass sich die anderen mir ein wenig anpassen.
       
       Wie inklusiv ist Ihr privates Leben und wie wichtig ist Ihnen der Kontakt
       zu Hörenden? 
       
       Sehr wichtig. Ich wohne in einer WG, wir sind insgesamt sieben Leute. Davon
       sind vier taub und drei hörend. Allgemein möchte ich zur Hälfte Kontakt zu
       Hörenden und zur Hälfte zu Gehörlosen haben. Ich brauche natürlich die
       Taubenkultur, weil meine Identität taub ist. Aber vieles wird in der
       Taubengemeinschaft ausgeklüngelt, und der Rest der Welt bekommt davon gar
       nichts mit. Das finde ich falsch. Respekt kann nur entstehen, wenn man
       einander kennt. Da müssen auch die Tauben aktiver werden und mehr von sich
       preisgeben.
       
       Wie hat die Gehörlosengemeinschaft auf Ihre Wahl reagiert? 
       
       Mit viel, viel Lob. Die Gehörlosen-Medien haben alle darüber berichtet. Ich
       weiß auch, dass es schon andere Taube gibt, die in die Politik drängen.
       
       Inklusion kostet viel Geld und Überzeugungskraft. Was bringt sie den
       Menschen ohne Behinderungen? 
       
       Mehr Empathie und Aufeinanderzugehen nutzt allen Menschen. Bleiben wir
       einmal beim Beispiel Taubenkultur: Ich könnte mir in einer modernen Welt
       gut vorstellen, dass alle Menschen Gebärdensprache lernen und visueller
       eingestellt sind.
       
       Dann könnten die Hörenden auch ihre Mimik und Körpersprache besser
       benutzen. 
       
       Zierold streckt beide Daumen nach oben.
       
       11 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Heim
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gebärdensprache
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gehörloser Politiker in Berlin: „Ich will einfach nicht aufgeben“
       
       Martin Vahemäe-Zierold war Mitglied in einem Berliner Bezirksparlament. Ein
       Gespräch über den Kampf um Gebärdensprachdolmetscher, Barrieren und
       Erfolge.
       
 (DIR) Nachtleben: Rauschendes Fest im Rollstuhl
       
       Am Samstag wurde im "Kater Holzig" eine Party für Menschen mit und ohne
       Behinderung gefeiert.
       
 (DIR) Berliner wählen Gauck: Zwitscherer und Meistertrainer
       
       Auch 25 Berliner wählen am Sonntag den Bundespräsidenten. Neu dabei: die
       Piraten, Otto Rehhagel und der erste taube Parlamentarier Deutschlands.
       
 (DIR) Inklusion von Behinderten in Deutschland: "Viele haben im Kopf eine Barriere"
       
       Menschen mit Behinderung gehören überall dazu, auch in den Schulen, sagt
       Martin Georgi von "Aktion Mensch". Und zeigt Verständnis für wütende
       Eltern.
       
 (DIR) "BZ"-Kampagne "Berliner Helden": Kümmern heißt jetzt Krieg
       
       Die "B.Z." wirbt mit einer krassen Kampagne für ehrenamtliches Engagement.
       Das Dumme daran: Die Werbeplakate sind im Grunde zum Davonlaufen.