# taz.de -- Montags-Interview: "Als was betrachten Sie mich?"
       
       > Der Hamburger Anwalt Ünal Zeran ist nicht bereit, sich mit den gängigen
       > Schubladen abzufinden. So wenig wie mit dem alltäglichen Rassismus.
       
 (IMG) Bild: Deutsch zu sein, ist für ihn keine Frage des Passes: der Rechtsanwalt Ünal Zeran.
       
       taz: Können Sie sich an den Moment erinnern, an dem Rassismus für Sie zum
       Thema wurde, Herr Zeran? 
       
       Ünal Zeran: Bei mir war es die Feststellung, dass man hier nicht immer
       willkommen ist, dass man so etwas als Jugendlicher zu spüren bekommt. Dann
       wurde die Hamburger Neonazi-Szene in den 80er Jahren ziemlich stark, und
       zum 100. Geburtstag von Adolf Hitler wurde bundesweit lanciert, dass man
       alle Türken angreifen solle. Damals sagten meine Eltern, ich sollte nicht
       U-Bahn fahren.
       
       Die breite Öffentlichkeit scheint damals nicht Notiz von dieser Bedrohung
       genommen zu haben. 
       
       Damals sprach man nur von Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit. Erst Anfang
       der 90er ist innerhalb der linken Spektren überhaupt thematisiert worden,
       dass es so etwas wie Rassismus gibt.
       
       Warum ist es so wichtig, zwischen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus zu
       unterscheiden? 
       
       Rassismus und Ausländerfeindlichkeit drücken zwei ganz unterschiedliche
       Positionen aus: Ausländerfeindlichkeit ist verniedlichend. Der Begriff
       Rassismus wurde historisch bedingt in Deutschland nicht in den Mund
       genommen. Man hat versucht, Umschreibungen zu finden wie
       Ausländerfeindlichkeit, Xenophobie, heute auch Diskriminierung, um bloß
       nicht in die Ecke von Faschismus und Nationalsozialismus gerückt zu werden.
       
       Hat sich zumindest auf diesem Gebiet etwas getan - heute wird ja von
       Rassismus gesprochen? 
       
       Das war einmal selbstverständlicher und muss wieder selbstverständlich
       werden. Anfang der 90er gab es den Versuch, den Begriff zu platzieren und
       das ist bis Ende der 90er Jahre gelungen. Danach ist plötzlich wieder eine
       andere Diskussion aufgekommen, man hat nur noch über Integration und
       Deutschkenntnisse geredet. Es gab einen gesellschaftlichen backlash, wie
       beim Feminismus auch.
       
       Woran liegt das? 
       
       Man hat Rassismus wieder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein genommen.
       Die Angriffe finden scheinbar nicht mehr statt, die Ermordung von Migranten
       findet nicht mehr statt, die Medien haben keine Lust mehr, sich mit dem
       Thema zu befassen. Und nach den Anschlägen vom 11. September hieß es: Das
       Problem ist nicht die Mehrheitsgesellschaft, sondern die Minderheit. Dass
       die Minderheit ein Teil dieser Gesellschaft ist, wird ignoriert.
       
       Wie haben Ihre Mitschüler reagiert, als Sie anfingen, sich politisch zu
       engagieren? 
       
       Ich bin nicht mit Antinazi-Stickern rumgelaufen, um eine politische Haltung
       auszudrücken. Bei Interesse diskutiere ich gern darüber, aber ich muss
       nicht jedem meine Meinung aufdrücken. Insofern wurde ich weder angefeindet,
       noch dafür gelobt. Ich habe ja auch eher mit Deutschen zu tun gehabt - die
       hat das Thema nicht wirklich berührt. Ich bin im Karolinenviertel
       aufgewachsen und war einer der wenigen dort, der aufs Gymnasium gegangen
       ist. Es hat mich zwar gestört, dass die Deutschen nicht mitbekamen, was in
       Deutschland abläuft, war aber trotzdem mit ihnen befreundet.
       
       Hat sich diese Erfahrung wiederholt? 
       
       Als ich anfing, Jura zu studieren, fanden die Anschläge in
       Rostock-Lichtenhagen und Solingen statt, das hat mich geprägt. Ich habe
       versucht, das auch an der Uni zu thematisieren, aber das ist ziemlich nach
       hinten losgegangen.
       
       Warum? 
       
       Die Professoren haben eine ganz andere Veranstaltung daraus gemacht. Da
       wurde plötzlich thematisiert, dass es Rechtsextremismus in Deutschland gibt
       - weil sich bestimmte Gruppen nicht anpassten, weil die Mädchen
       zwangsverheiratet würden. Die Haltung der Justiz war damals sehr
       verharmlosend, die Täter wurden immer als Einzeltäter und eher geistig
       Zurückgebliebene dargestellt. Alle, die Menschen anzündeten, waren
       arbeitslos oder alkoholisiert, deswegen gab es immer Strafmilderung. Es
       dauerte lange, bis man gesagt hat: Das ist kein Grund, ein arbeitsloser
       Türke zündet auch keinen Deutschen an.
       
       War diese Haltung für Sie ein Grund, Jura zu studieren? 
       
       Es war kein Grund, damit anzufangen, aber einer, dabeizubleiben.
       
       Gibt es gerade nicht eine sonderbare Gleichzeitigkeit: Einerseits besetzen
       Migranten Ministerposten, werden gezielt nicht Deutsch-Stämmige für Polizei
       und Verwaltung gesucht und andererseits finden die Sarrazin-Thesen großen
       Anklang? 
       
       Bis es Normalität wird, den migrantischen Minister zu akzeptieren, wird es
       wieder 20, 30 Jahre dauern. Ich frage immer ketzerisch mein Gegenüber: "Als
       was betrachten Sie mich?" Wenn Sie mir ohne Wenn und Aber sagen können "Sie
       sind Deutscher für mich", dann haben wir es erreicht. Und auch Sie werden
       mich jetzt nicht als Deutschen betrachten, der Ihnen gegenübersitzt. Aber
       ich bestehe darauf. Ich bin seit 31 Jahren in Deutschland. Ich definiere
       mich nicht als Türken und auch nicht als jemanden mit
       Migrationshintergrund.
       
       Eigentlich würde ich Sie gern fragen, wie es war, Pionier am Gymnasium zu
       sein. So wie ich das bei einem Freund tue, der der erste war, der in seiner
       Familie studiert hat. Jetzt verbietet sich die Frage eigentlich. 
       
       Nein. Das Problem ist, es als etwas Unveränderliches zu betrachten.
       Natürlich stammten die meisten sogenannten Gastarbeiter aus dem
       Arbeitermilieu. Und so wie es bei den deutschen Arbeiterkindern gedauert
       hat, bis sie an die Uni kamen, dauert es natürlich auch bei den Migranten.
       Auf dem Gymnasium war ich einer der wenigen, und an der Uni war ich in
       meinem Semester mit Aygül Özkan, der jetzigen niedersächsischen
       Sozialministerin, der einzige mit türkischem Vordergrund, Seitengrund, was
       auch immer. Jetzt machen viel mehr so etwas.
       
       Bleibt es nicht etwas, worauf man auch stolz ist: dass man das Uni-Examen
       schafft, obwohl es einem eben nicht auf dem Silbertablett serviert worden
       ist wie anderen Kindern? 
       
       Natürlich war es in den 80er Jahren nicht selbstverständlich, dass man eine
       Gymnasialempfehlung bekommen hat, es war eher ein Aussortieren bis hin zur
       Sonderschule. Da gibt es eine Diskriminierung, die bis heute anhält.
       
       Wie waren Ihre Erfahrungen? 
       
       Eine habe ich mir erst nach Jahren wieder in Erinnerung gebracht: Mein
       Mathematiklehrer holte mich nach vorne, weil ich eine Aufgabe lösen konnte.
       Dann legte er seinen Arm um meine Schulter und sagte zur Klasse: "Asche
       über eure Häupter, dieser Türke kann das und ihr alle könnt das nicht". Da
       denkt man: Sollte das ein Lob sein? Natürlich nicht. Durch solche Sachen
       hat man nur gespalten. Ich habe die Aufgabe ja nicht als Türke gelöst. Wenn
       man auf das Aktuelle kommt: Auch die Leute des Nationalsozialistischen
       Untergrunds (NSU) haben nicht als Christen gemordet. Sondern wegen eines
       ideologischen Weltbildes.
       
       Wenn ich über Prozesse schreibe, stellt sich immer wieder die Frage, ob ich
       den Migrationshintergrund von Tätern erwähne. Im Prozess gegen Ahmad O.,
       der seine Schwester Morsal tötete, die anders lebte, als er es wollte, habe
       ich das getan. Ist das für Sie falsch? 
       
       Die Frage ist, ob das Richtige benannt wurde. Für mich war relativ klar,
       dass es dabei nicht um Migrationshintergrund geht, sondern um Patriarchat.
       Patriarchale Herrschaftsstrukturen können von Christen ausgeübt werden, das
       Problem gibt es bei den Muslimen in Pakistan genauso wie bei indischen
       Hindus.
       
       Halten Sie denn die Religion als soziale Prägung für bedeutungslos? 
       
       Ich will nicht sagen, dass Religion überhaupt keine Rolle spielt, aber sie
       ist nicht das Entscheidende. Am patriarchalen System zu arbeiten, ist
       natürlich teurer, anstrengender als die Erklärung: Es liegt an der
       Religion. Dann muss man sich gar nicht mehr damit beschäftigen, es hat ja
       nichts mit uns zu tun.
       
       Heute treten religiöse Gruppierungen auf, die - jetzt benutze ich den
       Begriff doch wieder - Menschen mit Migrationshintergrund vertreten, zum
       Beispiel der Zentralrat der Muslime. War das in den 80er Jahren anders? 
       
       Es gab viele verschiedene Gruppen und Initiativen. Es ist bezeichnend für
       ihren Zustand heute, dass es nach der Mordserie des NSU gerademal einen
       Trauermarsch in Hamburg gab. Nach Mölln und Solingen haben in Hamburg
       15.000 Leute demonstriert. Die Leute haben ihr Geschäft einen Tag nicht
       geöffnet, es gab ein viel breiteres Bündnis von Gemüsehändlern bis hin zu
       Ärzten. Heute reißt es keinen mehr so vom Hocker, wenn wieder jemand
       umgebracht worden ist. In den 80er, 90er Jahren haben sich ja auch
       Jugendliche aus Selbstschutz zu Gangs zusammengeschlossen. Das waren Leute,
       die explizit Neonazi-Treffpunkte angegriffen haben, aus Selbstschutz.
       
       Sie haben im Magazin Migazin geschrieben, dass die Ermittlungen zu der
       Mordserie des NSU von Behörden geführt werden, die bislang keinerlei
       Augenmerk für Rassismus hatten. Glauben Sie, dass sich dieses Bewusstsein
       noch einstellt? 
       
       Im Augenblick nicht. Es werden teilweise Krokodilstränen vergossen von der
       Politik. Im Bundeskriminalamt, das jahrelang die Opferzahlen
       heruntergerechnet hat, sitzen noch die gleichen Leute. Deswegen habe ich
       gefordert, dass eine unabhängige internationale Kommission das Ganze
       beleuchtet. Es ist bemerkenswert, dass wir nicht diskutieren, dass zehn
       Deutsche umgebracht wurden. Wir diskutieren über acht Türken, einen
       Griechen und eine Polizistin. Für mich waren diese Menschen Teil der
       deutschen Gesellschaft, Deutsche, auch wenn sie keinen deutschen Pass
       hatten. Der NSU hat sich sicher nicht Gedanken gemacht, ob der
       Gemüsehändler in Bahrenfeld Deutsch spricht oder einen deutschen Pass hat,
       als sie ihn umgebracht haben.
       
       Das heißt, Sie vertreten ein anderes Konzept von Staatsbürgerschaft? 
       
       Die Frage der Rechte muss nicht an den Pass geknüpft werden. Auch nicht die
       der Pflichten. Die Frage ist: Wie lange hat dieser Mensch hier gelebt, und
       ist er Teil dieser Gesellschaft? Damit sind politische Konsequenzen
       verbunden. Das aktive und passive Wahlrecht kann an die Aufenthaltsdauer
       anstelle der Staatsangehörigkeit geknüpft werden. Eine Abschiebung wäre
       nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer unzulässig. Das ist in der Tat ein
       anderes Demokratie-und Staatsbürgerschaftskonzept.
       
       11 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Gräff
       
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