# taz.de -- Irak nach den GIs: Der Traum vom Wandel
       
       > Weder sind die US-Amerikaner Orest noch die Iraker das Volk von Argos.
       > Der irakische Schriftsteller Najem Wali über die Zukunft seines Landes
       > nach dem Abzug der US-Truppen.
       
 (IMG) Bild: Resteverwertung: Überbleibesel der GIs auf dem Bab al-Sharji-Markt.
       
       "Ach, der Abzug der Amerikaner – was heißt das schon?" So der mit einem
       tiefen Seufzer vorgebrachte Kommentar eines Freundes in Bagdad. In seinem
       Tonfall mischte sich Ironie mit Resignation: "Wir haben mit Strom-,
       Wasser-, Öl- oder Gasmangel zu kämpfen, ganz zu schweigen von den Fliegen,
       also verschon mich bitte mit dem amerikanischen Abzug! Es ist doch ganz
       egal, schließlich sind sie nicht Orest und wir nicht das Volk von Argos."
       
       Sicherlich würde dieser Kommentar bei den US-amerikanischen Generälen
       angesichts des zweiten Teils der Aussage, der sich auf das Drama "Die
       Fliegen" von Jean-Paul Sartre bezieht, Frustration aufkommen lassen. Würde,
       denn sie sind ja weiterhin der Überzeugung, dass sie in den Irak kamen, um
       das Volk dort aus der Knechtschaft zu befreien.
       
       In Sartres Stück, das 1943 nach drei Jahren nationalsozialistischer
       Besatzung Frankreichs im Pariser Théâtre de la Cité uraufgeführt wurde,
       befreit der "Held" Orest die Bewohner der antiken griechischen Stadt Argos
       von dem Tyrannen Ägist, der diese mit Feuer und Schwert regiert.
       
       Selbiger hatte, nachdem er zunächst Agamemnon, den Vater Orests und
       Elektras, umgebracht und Klytämnestra, die Gemahlin des betrogenen Königs,
       geehelicht hatte, in der Stadt ein repressives Terrorregime errichtet.
       Wobei er all ihren Bewohnern auferlegte, für das von ihm begangene
       Verbrechen Sühne zu leisten. Obwohl Göttervater Jupiter Orest am Ende
       drängt, zu bleiben und den Thron zu besteigen, beschließt dieser, die Stadt
       zu verlassen und deren "befreite" Einwohner ihrem Schicksal zu überlassen.
       
       Als er dann wirklich geht, verschwinden mit ihm auch die laut surrenden
       Fliegen und fallen über den erstbesten Passanten her. Laut Jupiter stehen
       die Fliegen symbolisch für die an den Bewohnern nagende Reue über den Mord
       an König Agamemnon. Nun wollte natürlich Sartre mit dem Stück auf die
       deutsche Unterdrückung anspielen, die umso unnachgiebiger wurde, je
       heftiger sich der französische Widerstand manifestierte.
       
       ## Keine Befreier
       
       Mein irakischer Freund dagegen meinte, man könne über die US-Amerikaner
       sagen, was man wolle, nur Befreier seien sie nicht. Und auch den Irakern
       könne man anhängen was man wolle, nur nicht, dass sie den Tod des mit Feuer
       und Schwert regierenden Tyrannen Saddam Hussein, der sie in nicht enden
       wollende Kriege verstrickte, bereuten.
       
       Wie mein Freund glaubt heute niemand im Irak mehr, dass die Amerikaner als
       Befreier kamen. Dabei sah er doch selbst seinerzeit in ihrem Einmarsch in
       Bagdad die Chance, sich eines diktatorischen Regimes zu entledigen, das den
       Menschen 35 Jahre lange die Luft zum Atmen nahm. Er schrieb damals, wie er
       und seine weitläufige Familie, von deren Söhne Saddam nach und nach etliche
       "beseitigt" hatte, beim Anblick der symbolischen Hinrichtungsfeier für den
       Diktator auf dem Firdaus-Platz vor Freude getanzt hatten.
       
       Dutzende von Irakern, mit denen ich damals sprach, berichteten mir
       gleiches. Sie konnten es kaum fassen, nun endlich von Saddam befreit zu
       sein. Ein kurzfristiges Gefühl, das nur nachvollziehen kann, wer Demütigung
       und Versklavung durch ein derartiges Regime selbst erlebt, in den
       Folterzellen des Bath-Regimes eingesessen hat.
       
       Die Iraker, die mehr als zwölf Jahre lang mit ansehen mussten, wie ein
       ungerechtes und extrem destruktives Embargo ihre Kinder dahinraffte, sahen
       sich plötzlich vor eine schwierige Entscheidung gestellt:
       
       Sie hatten die Wahl zwischen einer blutrünstigen Diktatur einerseits und
       "imperialistischen" Invasoren andererseits, deren wirtschaftliche
       Beweggründe nur allzu klar schienen, die ihnen jedoch einen nahezu
       unerreichbaren Traum erfüllt hatten: den Sturz des Diktators. Sie sahen in
       dem US-Feldzug den Anbruch einer neue Ära in der Geschichte des Irak, den
       Traum vom Wandel.
       
       Doch diese Ära, von der einige glaubten, sie würde einen neuen Irak
       hervorbringen, folgte zwar dem Beispiel Deutschlands und Japans nach 1945,
       wurde jedoch durch das Eintreffen des US-amerikanischen Zivilverwalters
       Paul Bremer bereits im Keim erstickt.
       
       Bremer zauberte wie ein Scharlatan Wunderrezepte aus dem Hut. Er
       versammelte auch die irakische Opposition, die auf amerikanischen Panzern
       ins Land zurückgekehrt war, und behandelte sie als Repräsentanten der
       verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppierungen.
       
       ## Demokratie à la Bremer
       
       Aus ihnen bildete er in der Folge den Regierungsrat, dessen Vorsitzenden er
       monatlich in alphabetischer Reihenfolge neu ernannte. Dabei hätten die
       Iraker so sehr einen Staat mit modernen Institutionen und einer
       funktionierenden Zivilgesellschaft gebraucht. Die Erfolge der Demokratie à
       la Bremer platzten letztendlich wie eine Seifenblase!
       
       Selbst die sogenannte freie Wirtschaft, die gleich nach dem Zusammenbruch
       des "sozialistischen Marktes" höchst dynamisch anlief und die zum Aufbau
       einer robusten Mittelschicht als Stützpfeiler der Demokratie hätte
       beitragen können, ist zu einer Arena des Kräftemessens zwischen den
       politischen Gruppierungen verkommen. Wer einer bestimmten Partei, Gruppe
       oder Miliz angehört, kann dem Markt seine Konditionen aufdrücken.
       
       Die entfesselten Massen gelten ihnen als Kanonenfutter, um Demokratie
       scheren sie sich nur insoweit, als sie ihren Zwecken dient. Das nach
       Freiheit lechzende Volk kann nun bedauerlicherweise keinen Zusammenhang
       zwischen diesem Liberalismus und der Demokratie erkennen, eine, die es
       weder gesellschaftlich noch politisch jemals erlebt hatte. Und so
       rehabilitierten sich die Minityrannen.
       
       Bis heute erleben wir immer wieder das Aufflammen von Auseinandersetzungen
       zwischen den verschiedenen Despoten. Bis heute, mehr als ein Jahr seit der
       letzten Parlamentswahl, bei denen die Menschen ihr Leben aufs Spiel
       setzten, sind die Posten sowohl des Innen- als auch des
       Verteidigungsministers unbesetzt geblieben.
       
       Einen solchen Irak lassen die USA nun hinter sich. Keine funktionierende
       Armee zur Verteidigung des Landes und keine qualifizierte Polizei, die die
       Souveränität des Landes noch die Sicherheit der Leute gewährleisten können.
       
       Rückzug hin. Rückzug her. Es ist ein verwirrender Moment. Sogar diejenigen,
       die, anders als mein Freund, den Einmarsch der Amerikaner in Bagdad von
       Anfang an als Besatzung auffassten, zeichnen jetzt schwärzeste Szenarien
       von der Lage nach dem Abzug der US-Truppen.
       
       "Sie lassen uns mit den Wölfen allein", kräht sogar Saddams früherer Vize
       Tariq Aziz aus der Haft. Wobei er ganz vergessen zu haben scheint, dass er
       einst selbst zu diesen Wölfen gehörte und eifrig mitheulte. Welch absurde
       Szenerie! Die Gegner der Besatzung fordern die Besatzer zum Bleiben auf,
       und die Befürworter lässt das alles kalt?
       
       ## Alles für den Schwarzmarkt
       
       Nur unter den Kriegsgewinnlern werden Jubelrufe laut, sie versuchen alles
       auszuschlachten, was die Amerikaner zurücklassen. Einrichtungen und
       Inventar der Stützpunkte werden teilweise zur Versteigerung ausgeschrieben.
       Der Rest landet auf dem Schwarzmarkt: Staubsauger, Satellitenanlagen,
       Ersatzteile für US-Militärfahrzeuge, Toiletten, Holzhäuschen, Klimaanlagen,
       Waschmaschinen, Trockner, Beleuchtung, Kühlschränke und Abfälle - und
       130.000 Tonnen Giftstoffe.
       
       Aber nun abschließend wieder zurück zu den Fliegen: Am Ende des Stücks
       verlassen mit Orest auch die Fliegen die Stadt. Und im Irak? Die Amerikaner
       sind weg, die Fliegen aber noch da und zwar nicht zu knapp! In der Grünen
       Zone, in der sich die Regierung verschanzt, stechen sie wie Wespen,
       anderswo fliegen sie zu Abermillionen fröhlich von Müllhaufen zu Müllhaufen
       und tun sich an den Städten gütlich, die nun seit Jahren eine einzige
       riesige Müllhalde sind.
       
       In Bagdad oder Basra, einst wunderschöne Städte, lässt sich tagtäglich die
       Anhäufung neuer Müllberge mit Abfällen jeglicher Art beobachten.
       Fliegenschwärme kreisen surrend in der Luft und stürzen sich auf die
       zufällig vorbeikommenden Passanten. Kein Strom, kein Wasser, kein Öl im
       Land des Erdöls, kein Gas, während das Thermometer im August auf über 50
       Grad klettert.
       
       Argos bleibt, was es war, Orest ist noch nicht gekommen. Letztendlich wäre
       Saddam Hussein auch eher Ägist, nicht Agamemnon, so dass es logisch ist,
       dass die Iraker ihm nicht hinterhertrauern.
       
       Muss man Iraker sein, um angesichts dieser Lage zu verzweifeln, wenn nach
       fast neun Jahre die US-Amerikaner das Land in solcher Lage hinterlassen?
       Das ganze Land ein Müllhaufen und Fliegenparadies – amerikanischer Müll par
       excellence!
       
       30 Dec 2011
       
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