# taz.de -- Debatte Organspende: Der deutsche Patient
       
       > Die Regeln zur Verteilung von Organen sind ein Tumor im Gewebe des
       > Rechtsstaats. Über Leben und Tod wird im Hinterzimmer entschieden.
       
 (IMG) Bild: "Die Todesstrafe ist abgeschafft", heißt es in Artikel 102 Grundgesetz. Es sei denn, die Bundesärztekammer verhängt sie, meint Thomas Gutmann.
       
       Organe zur Transplantation sind knapp. Die Patienten auf den Wartelisten
       leiden und sterben. Die Verteilung dieser knappen Ressource stellt den
       Rechtsstaat vor harte Entscheidungen. Nach welchen Prinzipien soll er
       Lebenschancen an Bürger zuteilen (lassen), die an Leben oder Gesundheit
       bedroht sind, wenn nicht allen von ihnen geholfen werden kann? Wer muss
       weiter leiden? Wer soll sterben, wenn nicht alle leben können?
       
       Es sagt viel über eine Gesellschaft aus, wie sie sich diesem Problem
       stellt. Dabei ist klar, dass es im demokratischen Rechtsstaat von
       Verfassungs wegen nur eine Instanz gibt, die Fragen von solch
       existenzieller Bedeutung für die Grundrechte der betroffenen Bürger
       entscheiden kann: das Parlament. Der Bundestag freilich wollte dies nicht
       tun. Er hat sich weggeduckt und das Problem, bei dem es für Politiker wenig
       zu gewinnen gibt, einfach umetikettiert und an die Ärzteschaft und die
       Gesundheits-"Selbst"-verwaltung abgeschoben: Nach Paragraf 12 des
       Transplantationsgesetzes aus dem Jahr 1997 sollen die Organe nach
       "medizinisch" begründeten Regeln ("insbesondere nach Erfolgsaussicht und
       Dringlichkeit") zugeteilt werden.
       
       Dies ist aber nicht möglich. "Die These, die Verteilung erfolge nach
       medizinischen Kriterien, ist falsch", heißt es etwa in der Begründung des
       Schweizer Gesetzes lapidar, "die Zuteilung geschieht nach ethischen
       Prinzipien. [Sie] basiert auf Wertentscheidungen." Die Frage etwa, ob der
       leberkranke Patient, der unmittelbar vom Tode bedroht, aber bereits zu
       krank ist, um noch langfristige Erfolgsaussichten zu haben, dem weniger
       dringlichen Patienten mit besserer Prognose vorgezogen werden soll oder
       nicht, kann nicht mit den Mitteln der Medizin beantwortet werden. Das
       Gesetz basiert deshalb auf einem Kategorienfehler. Es regelt nichts.
       
       Das normative Vakuum, das der Bundestag geschaffen hat, hat die
       Bundesärztekammer gefüllt. Diese Organisation, die eigentlich nur den
       gesetzlichen Auftrag hatte, medizinische Fakten zu sammeln, die für die
       Verteilungsfrage von Bedeutung sind, hat kurzerhand "Richtlinien für die
       Organvermittlung" erlassen und sich so zur Herrin über Leben und Gesundheit
       der betroffenen Patienten aufgeschwungen. Die normativen
       Grundentscheidungen über die Lebenschancen der betroffenen Bürger werden so
       nicht von den demokratischen Institutionen getroffen, sondern, als "Fakten"
       etikettiert, in den Hinterzimmern einer Einrichtung, die noch nicht einmal
       den Status eines eingetragenen Vereins besitzt und die Mitglieder ihrer
       "Ständigen Kommission Organtransplantation" nach Gutdünken und Opportunität
       rekrutieren kann.
       
       ## Keine staatliche Aufsicht
       
       Der Gesetzgeber hat zudem entschieden, dass die Vermittlungsstelle für die
       Organe nicht (wie in Frankreich oder in der Schweiz) eine
       öffentlich-rechtliche Körperschaft sein soll. Vielmehr wurde durch
       privatrechtlichen (!) Vertrag mit Verbänden des deutschen
       Gesundheitssystems die niederländische Stiftung Eurotransplant als
       Vermittlungsstelle eingesetzt. Sie teilt in einem (immerhin technisch kaum
       manipulierbaren) Verfahren die Organe bestimmten Patienten zu. Faktisch übt
       sie dabei öffentliche Gewalt aus, was sie mit Blick auf Artikel 24 des
       Grundgesetzes nicht darf. Bei alledem gibt es keine staatliche Aufsicht,
       die Beteiligten dürfen sich vielmehr selbst kontrollieren. In diesem
       intransparenten Regelungsgewirr wird es den Patienten zugleich praktisch
       unmöglich gemacht, Rechtsschutz zu suchen - die Probleme beginnen hier
       schon damit, dass die operativen Verteilungsregeln Eurotransplants faktisch
       geheim, das heißt für die Patienten nicht zugänglich sind.
       
       Dass die Verteilungsnormen auch im Detail genauer unter die Lupe genommen
       werden müssten, zeigt die "Richtlinie", der zufolge bei Patienten mit
       alkoholbedingter Leberzirrhose die Aufnahme auf die Warteliste erst dann
       erfolgen darf, wenn der Patient für mindestens sechs Monate völlige
       Alkoholabstinenz eingehalten hat. Nicht nur, dass es keine haltbare
       medizinische Begründung hierfür gibt - in jedem Fall verstößt es gegen das
       in Artikel 2, 2, 1 des Grundgesetzes garantierte Recht auf Leben und das in
       ihm verankerte Prinzip der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens,
       einen Patienten sterben zu lassen, nur weil er noch nicht "trocken" ist.
       "Die Todesstrafe ist abgeschafft", heißt es in Artikel 102 Grundgesetz. Wir
       müssten hinzufügen: Es sei denn, die Bundesärztekammer verhängt sie kraft
       eigener Machtvollkommenheit aus pädagogischen Gründen über suchtkranke
       Patienten.
       
       Nach alledem kann es nicht verwundern, dass sich in der Rechtswissenschaft
       längst die Einsicht durchgesetzt hat, dass das Allokationssystem des
       Transplantationsgesetzes gleich mehrfach gegen das Grundgesetz verstößt.
       Eine Änderung ist jedoch nicht in Sicht. Der Tumor, den das gegenwärtige
       Verteilungsregime für Organe im Körper des Rechtsstaats bildet, ist der
       Preis, den das politische System für die Entsorgung der Allokationsfrage
       offenbar zu zahlen bereit ist.
       
       ## Solidarität der Bürger
       
       Die gegenwärtigen Strukturen verhindern systematisch eine öffentliche
       Diskussion der normativen Kriterien für die Zuteilung von Gesundheits- und
       Lebenschancen. Mit ihrer Neuregelung würden wir die Möglichkeit gewinnen,
       den Patienten auf den Wartelisten wenigstens Gründe für die
       Verteilungsentscheidungen geben zu können, die nicht das Licht der
       Öffentlichkeit scheuen müssten. Damit wäre allerdings noch kein einziges
       zusätzliches Menschenleben gerettet. Um dies zu erreichen, müssten wir die
       Entnahme von Organen bei Verstorbenen rechtlich angemessener und
       organisatorisch effizienter regeln als die Fraktionen des Bundestags dies
       gegenwärtig planen.
       
       Hierfür brauchen wir keine weitere der meist als parlamentarische
       "Sternstunden" verkauften Inszenierungen moralischer Betroffenheitsrituale,
       zu denen die Diskussionen des Deutschen Bundestags zu biopolitischen Fragen
       so oft verkommen. Wir brauchen vielmehr eine ernsthafte Diskussion darüber,
       was wir einander als Bürger eines liberalen Rechtsstaats wechselseitig an
       Solidarität schulden.
       
       10 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gutmann
       
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